CLAUDIA WEILENMANN

HUNGER NACH LEBEN (CLAUDIA ACKLIN)

SELECTION CINEMA

Vier junge Frauen mit Hunger nach Leben: zwei aus der Schweiz, die ihr Lebensgefühl in Sprache faßten und mit ihrem selbstgewählten Tod ein letztes Zeichen setzten; zwei aus New York, die erzählen, warum sie leben wollen. Zwei aus „geordneten“ Verhältnissen; zwei, die das Leben auf der Straße kennen. Zuerst Lore Berger (1921-1943), behütete Tochter aus dem Basler „Daig“ und Autorin des teils autobiographischen Romans Der barmherzige Hügel. Sie springt mit 22 Jahren auf dem Bruderholz vom Wasserturm. Knapp 40 Jahre später, auf der Flucht vor Psychiatrie und anderen Zwängen, Silvia Z., die sich 1980 in Zürich während der Jugendbewegung ¿öffentlich verbrennt (von ihr sind unpublizierte Texte erhalten). In New York - wo die Regisseurin das Filmhandwerk erlernt hat - dann die Filmschülerin Stéphane, die ihre Erfahrungen mit dem Frausein und der Liebe in ihren Abschlußfilm hineinarbeitet, und die Afroamerikanerin Katrina Curry, die Drogensucht und Obdachlosigkeit am eigenen Leib erfahren hat und heute für ein Zentrum für aidskranke Frauen kämpft.

„Liebe Lore, liebe Silvia“ - der Film beginnt mit einem Brief an die beiden Selbstmörderinnen und benutzt immer wieder diese subjektive Form, um die unterschiedlichen Frauen „miteinander bekannt zu machen“, um zu fragen nach der gemeinsamen „Schwierigkeit, eine Frau zu sein“, und nach dem Grund, warum zwei von ihnen nur den Tod als Ausweg sahen. Eine suggestive Kamerafahrt entlang glänzender U-Bahn-Schienen, in dunkle Tunnel, dann wieder in hellere Zonen, markiert diesen Anfang und dient als Leitmotiv und als Klammer für die vielen Ebenen des Films (räumlich, zeitlich, biographisch, formal).

Diese ergeben nur zum Teil ein beziehungsreiches Gewebe, oft wirken sie auch etwas beliebig, da es der Autorin nicht wirklich gelingt, die beiden New Yorker Frauen mit den Schweizer Selbstmörderinnen in Beziehung zu setzen. Überhaupt bleiben die lebenden Frauen merkwürdig blaß, vorwiegend statisch ins Bild gesetzt als talking heads. Differenzierter und sorgfältiger ausgearbeitet sind die Annäherungen an Silvia Z. und Lore Berger. Wohl auch deshalb, weil hier mangels lebender Akteurinnen Umsetzungsarbeit unumgänglich war: dicht und mehrschichtig zum Beispiel die Impressionen einer 1.-August-Feier auf dem Bruderholz, wo sich literarische, biographische, historische und aktuelle Stränge kreuzen, wo die schweizerische Enge, das patriotisch gezähmte Feuer in merkwürdigen Gegensatz tritt zu Lores Tagebuchtexten, die das Sterben als rauschhaftes Verbrennen antizipieren und gleichsam auf Silvias Feuertod vorausdeuten. Den erklärenden Rahmen zu diesen Textumsetzungen bilden biographische Erinnerungen und Deutungen von Personen, die die Frauen gekannt oder sich mit ihrem Werk auseinandergesetzt haben. Zusätzlich eingebaut sind Dokumentaraufnahmen wie Filmwochenschauen aus den vierziger Jahren, Teile aus Züri brännt oder ein TV-Beitrag zu Silvia Z.s Begräbnis. Einen schönen, offenen Schluß bildet der Gang durch die autonome Kulturfabrik Wohlgroth, gefilmt über die Schulter einer fünften jungen Frau, die aus dem Off über die „mystifizierte“ achtziger Bewegung nachdenkt.

Alles in allem ein Film, dem es nur passagenweise gelingt, seine vielen Schichten zusammenzuführen, und dessen Schwanken zwischen den drei Feldern: subjektive biographische Annäherung, Umsetzung von (literarischen) Texten und dokumentarischem Anspruch zuweilen irritiert.

Claudia Weilenmann
geb. 1960, Studium der Germanistik, Europäischen Volksliteratur und Pädagogik, lebt in Zürich.
(Stand: 2019)
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