THOMAS CHRISTEN

DAS BEOBACHTEN DES BEOBACHTERS BEIM BEOBACHTEN

ESSAY

„Du mußt mich hier herausholen“, sagt L. B. Jeffries beschwörend ins Telefon. Ein wenig später wird er seine Klage fortsetzen: „Sechs Wochen in einer Zweizimmerwohnung und nichts zu tun, als den Nachbarn in die Fenster zu schauen.“ Jeffries ist Fotoreporter, und ein Berufsunfall zwingt ihn stillzusitzen, eingegipst von den Zehen bis zur Hüfte. Sein Aktionskreis bleibt radikal eingeschränkt - vom Rollstuhl am Fenster zum Bett und zurück. Und während er davon spricht, daß er - nicht zum Nichtstun - zum heimlichen Beobachten der Nachbarn gezwungen sei, gleichsam zum temporären Voyeurismus verdammt, geht er eben dieser Beschäftigung nach. Die Häuserfassade gegenüber, auf die er von seinem Fenster zum Hof sieht und die sein Blick suchend abtastet, wirkt wie eine mehrfach gesplittete Kinoleinwand, die verschiedene Spielebenen gleichzeitig zeigt.

Das Beobachten, das Sehen an sich, wird zum zentralen Thema von Alfred Hitchcocks Rear Window (USA 1954), aus dem der beschriebene Ausschnitt stammt. Auch wenn sich aus dem heimlichen Beobachten bald eine Kriminalstory entwickelt, ein Mordverdacht gegen den bulligen Nachbarn Thorwald, dessen kranke Frau plötzlich verschwunden ist, bleibt immer ein Subtext präsent, der die Achse Beobachter (Jeffries)-Beobachtetes (Wohnungen der Nachbarn) verlängert und damit uns als Zuschauer in eine ähnliche Situation versetzt wie Jeffries. Der ruhiggestellte Fotoreporter wirkt im ersten Teil des Films wie eine Projektion des Zuschauers in den Film - bis zu jenem Zeitpunkt, als Jeffries das Beobachten als passive Tätigkeit aufgibt und in die Handlung selbst eingreift. In Rear Window ereignet sich dieser Übergang nach rund zwei Dritteln der Filmdauer, das heißt, rund achtzig Minuten lang läßt sich die Filmnarration Zeit, um aus dem Gefühl des Nichtstuns den schwerwiegenden Verdacht zu entwickeln, Thorwald könnte seine Frau ermordet, zerstückelt und aus dem Haus geschafft haben. Seine Reaktion auf Jeffries’ Brief, der - anonym gehalten - lediglich aus der Frage „Was haben Sie mit ihr getan?“ besteht, erhärtet den Verdacht des Reporters. Auch wenn er aktiv ins Geschehen eingreift, bleibt er vorerst immer noch der Beobachter, der sich in einer dem Kinozuschauer verwandten Position befindet, im Dunkeln operiert, andere an seiner Stelle handeln läßt (vor allem seine Verlobte Lisa), dem Gegenüber immer einen Schritt voraus ist. Doch rund zwanzig Minuten vor dem Filmende läßt sich auch diese Haltung nicht mehr aufrechterhalten - in dem Augenblick, als Thorwald erkennt, daß Lisa, die in seine Wohnung eingedrungen ist, mit jemandem außerhalb des Kreises der unmittelbar Beteiligten kommuniziert, Zeichen gibt. Sein Blick schweift vom eigentlichen Geschehen ab, versucht zu rekonstruieren, wem diese Zeichen Lisas gelten könnten, was ihm nicht allzu schwer fällt. In der gegenüberliegenden Fensterfront entdeckt er den Beobachter, und dieser muß erkennen, daß nun sein immobiler Status ein äußerst gefährlicher zu werden beginnt.

Sehr viel Zeit verwendet der Film dazu, Jeffries’ Beobachten und das Beobachtete zu schildern, aus den Alltagsgeschichten das Abgründige, Einmalige zu entwickeln. Sukzessive engt er die Anzahl möglicher „Geschichten“ ein, um sich schließlich ganz auf den Fall Thorwald zu beschränken, sich an ihm richtiggehend festzubeißen. Am Anfang genügt das normale Sehvermögen des Beobachters. Aufschlußreich und als selbstreflexives Moment zu deuten ist der Umstand, daß die Kriminalgeschichte eigentlich erst dann entsteht, als Jeffries den Wunsch verspürt, näher heranzugehen, und dazu Feldstecher und Teleobjektiv seiner Kamera verwendet. Indem sich der Verdacht am Ende als richtig erweist, legitimieren sich die eingesetzten Mittel - Hitchcock geht nicht so weit, daß er die Mordgeschichte im Sande verlaufen läßt oder gar den Verdacht gegen Thorwald als falsch darstellt.

Doch eine andere, subtile Strategie unterscheidet Rear Window von einem Standardkrimi. Denn Hitchcocks suchende, beobachtende Kamera zeigt mehr, als Jeffries sieht. Mehr als einmal gibt es eine Einstellung, die suggeriert, wir würden durch die Augen des Photographen sehen, bis ganz am Ende klar wird, daß er es nicht gewesen sein kann, weil er z. B. gerade schläft. Der Beobachter im Zuschauerraum weiß gewisse Dinge, die dem Beobachter hinter dem Hoffenster nicht bekannt sind; zugleich ist aber auch das Umgekehrte denkbar, denn die Erzählzeit des Films ist wesentlich kürzer als die erzählte Zeit. Es entsteht eine Irritation aus dem Sachverhalt, daß wir als Zuschauer nicht mehr genau wissen, durch welchen „Filter“ wir nun welche Information erhalten haben. In vielen Filmen ist eine solche Mehrfachperspektive überhaupt nichts Außergewöhnliches, aber in Rear Window resultiert die Irritation gerade aus dem Umstand, daß dem Vorgang des Beobachtens eine derart zentrale und gewichtige Rolle zugeschrieben wird.

In Mortelle randonnée (Frankreich 1982) von Claude Miller gibt es diese Konfusion nicht, dafür aber andere. Der Privatdetektiv, der den Auftrag erhält, die schöne Catherine Lucie, die sich allerlei anderer Namen bedient, zu überwachen, beobachtet von Berufs wegen. Sein Spitzname „L’œil“ will wohl auch darauf hinweisen, daß ihm so schnell nichts entgeht, daß im hartnäckigen Beobachten, im Warten auf den richtigen Moment seine Stärke liegt. Denn ansonsten hat „L’oeil“ seine besten Jahre bereits hinter sich. Die erste Einstellung zeigt zunächst verschiedene Fotoapparate und diverse Objektive, bevor die Kamera auf den Privatdetektiv schwenkt. Die Apparate sind seine Arbeitsgeräte. Das Telefongespräch, das er in dieser ersten Szene mit seiner Ex-Frau führt, weist zunächst auf ein anderes Problemfeld hin: Vor ihm liegt ein altes Klassenfoto, auf dem sich auch seine Tochter Marie befindet - Marie, die kurz nach der Aufnahme des Fotos verstorben ist. Ihren Tod hat der Privatdetektiv mit den unzimperlichen Umgangs- und Ermittlungsformen nie überwunden. Geheimnisvoll spricht er von dem Tag, an dem er die Türe aufstoßen und in das Foto eintreten werde, wo es zu einem Treffen mit Marie komme.

Das erste Treffen mit Catherine im Rahmen seiner Ermittlungen wird für „L’œil“ zu einer schicksalhaften Begegnung, glaubt er doch, in ihr seine verstorbene Tochter wiederzuerkennen. Allmählich entwickelt sich diese Vorstellung zu einer fixen Idee. Der professionelle Beobachter und Überwacher vergißt nicht nur nach und nach seine beruflichen Grundsätze, er wandelt sich zu einem „väterlichen“ Komplizen. Aus dem Routinefall wird eine eigentliche Mordgeschichte. Catherine bestreitet ihren Lebensunterhalt, indem sie ihre Geliebten - und andere Personen, die sich ihr in den Weg stellen - ermordet und deren Vermögen mitgehen läßt. Die erste Tat beobachtet der Beobachter noch aus sicherer Distanz, verschweigt aber seiner Chefin und seinen Auftraggebern, den Eltern des Opfers, den wahren Sachverhalt. Aber bereits in den zweiten Mord schaltet er sich aktiv ein und beseitigt die Leiche, die die schöne Mörderin kühn zurückläßt - gleichsam als Aufforderung zur Arbeitsteilung.

Serge Daney hat seiner Besprechung des Films den Titel L’Œil et le Look gegeben und dabei kritisiert, daß Regisseur Miller einen oberflächlichen Werbestil pflege, der sich an die Zeitschrift des gleichen Namens anlehne. Übersehen wird in einer solchen Argumentation, daß besonders die durch Isabelle Adjani verkörperte Catherine eine immense Projektionsfläche darstellt. Die Figur, bei der bereits zu Beginn klar ist, daß sie nicht die Tochter des Privatdetektiven sein kann, ist so, wie er sie sehen möchte, wie er sich von ihr ein Bild entwirft. Sie wechselt permanent ihr Aussehen, bleibt in diesem Sinne oberflächlich - eine Oberflächlichkeit, in die „L’œil“ nicht einzudringen vermag und wahrscheinlich auch nicht will. Das Spiel mit den Masken, mit den doppelten Böden verweist in Mortelle randonnée auf dieses Bezugsfeld.

Es ist bezeichnend, daß „L’œil“ den einzigen Mann in Catherines Leben, den blinden (und reichen) Ralph, den sie nicht umzubringen trachtet, nun seinerseits in den Tod schickt respektive vor einen Autobus führt. Er fürchtet wohl nicht zu Unrecht, daß Ralph sein „Bild“ von ihr zerstören könnte. Die erste nähere Begegnung mit Catherine gegen Ende des Films wird wiederum zu einer genau kalkulierten (und einstudierten) Inszenierung. Ein letztes Mal führt der von seiner fixen Idee geleitete Mann Regie, dann zerstört sich seine „Männerphantasie“ selbst, indem sie sich mit dem Auto in einem Parkhaus zu Tode stürzt. Auf die Frage seiner Ex-Frau in der letzten Szene des Films, was denn eigentlich passiert sei, wird er antworten: „Ich habe das Foto von Marie verloren.“

Mortelle randonnée verdeutlicht eine Hauptkomponente des Beobachtens - die investigative - und führt sie gleichzeitig ad absurdum. Mit den private eye-Filmen hat er höchstens noch die Ausgangslage gemein, der Akt des Beobachtens löst sich hier von der primären Aufgabe, Licht ins Dunkel zu bringen. Je länger „L’œil“ die junge Frau observiert, desto unklarer werden Motive und Zusammenhänge in diesem Fall, was Jean Tulard treffend mit der Bezeichnung polar métaphysique umschreibt.

In Monsieur Hire (Frankreich 1989) von Patrice Leconte wäre diese investigative Funktion des Beobachtens potentiell ebenfalls vorhanden, aber die Titelfigur ist weder ein offizieller noch inoffizieller Beobachter, sondern ein ganz privater, ein verschlossener und einsamer Mann, der von niemandem geliebt wird und dessen einziges Vergnügen darin besteht, in seinem abgedunkelten Zimmer stundenlang seine junge Nachbarin Alice zu beobachten. Bei diesem Zeitvertreib ist es ihm auch nicht entgangen, daß Alices Freund Emile im Streit eine andere Frau getötet hat - eine Tat, über die er schweigt, weil er fürchtet, Alice zu kompromittieren und damit den einzigen Lichtblick in seinem tristen Leben zu verlieren. Doch durch dieses Schweigen gerät er selbst in Verdacht.

Über diese Krimifolie - die Vorlage stammt von Georges Simenon - legt sich eine weitere, die zugleich die zweite Hauptkomponente des Beobachtens charakterisiert: die voyeuristische. Doch auch sie ist in diesem Film nicht in reiner Form vorhanden. Man kann sich nämlich fragen, ob Hire überhaupt ein Voyeur ist. Zwar beobachtet er im verborgenen - was der Kinozuschauer auch tut -, zwar sind die Menschen, die er beobachtet, aus Fleisch und Blut, agieren ohne Vermittlung durch ein Medium - was ihn vom Kinozuschauer unterscheidet -, doch Hire steigt nicht in fremde Gärten oder Häuser, um zu seinem Vergnügen zu kommen. Er benutzt auch keine Hilfsmittel, wie dies Filmvoyeure (wie die wirklichen auch) häufig tun: Feldstecher, Fernrohre, Teleobjektive usw. Als Hire, nachdem sein Treiben von Alice entdeckt worden ist, von ihr auf seine Motivation angesprochen wird, antwortet er: „Ich sehe Ihnen zu - das ist alles.“ In der Tat fehlt in Monsieur Hire die sexuelle Komponente des Voyeurismus fast völlig.

Auch der Film selbst sucht diese voyeuristische Haltung weitgehend zu vermeiden. Er zeigt nicht nur, was Hire beobachtet, sondern ebensosehr den Beobachter beim Beobachten. Zu einer zentralen Szene wird jene, in der Alice in einer Gewitternacht den Nachbarn am Fenster entdeckt. Der Film schildert dies aus Alices Perspektive, kehrt also hier die Blickrichtung um: Der blasse und ernste Monsieur Hire wirkt wie ein Gespenst, als das grelle Licht eines Blitzes ihn für kurze Zeit aus der Dunkelheit der Nacht herausreißt und zu erkennen gibt. Nach dieser Entdeckung ist nichts mehr wie früher. Der stille Beobachter ist als solcher markiert, die Hierarchie zwischen dem Beobachter und der Beobachteten gerät ins Rutschen: Alice geht in die Offensive, spielt mit ihrem Emile eine Liebesszene vor, die Hire nicht erträgt.

Nachdem Hire von Alice zur Rede gestellt worden ist, entwickelt sich zwischen den beiden eine Art von Freundschaft, schüchterne Zuneigung - von Alice allerdings später dazu benutzt, den „komischen Kauz“ in eine Falle zu locken und ihm den von Emile begangenen Mord in die Schuhe zu schieben, was Hire nicht überleben wird. Im Rahmen dieser Begegnungen erhält Hires „Voyeurismus“ eine wesentliche Ausdifferenzierung und wird zur Lust am Beobachten an sich. Er erzählt von seiner Vorliebe für Bahnhöfe, weil es dort so viel zu sehen gäbe: z.B. den Mann, der zu früh angekommen sei und nicht wisse, was er mit der unerwartet freien Zeit anfangen solle, die Frau, die den Bahnsteig nicht finde. Das Beobachten wird zum Ersatz für Kommunikation, die nicht mehr funktioniert, die nur auf Enttäuschungen und Täuschungen hinausläuft, was sich später auch mit Alice zeigen wird.

Der Beobachter wird hier, indem er nicht in die Sphäre des Beobachteten eindringt, indem er die Distanz zwischen sich und der Welt der anderen beibehält, zu einem Geschichtenerfinder, zu einem Stellvertreter des anderen „raconteur“ oder „narrateur“, dessen Film wir gerade sehen. Damit ergibt sich eine Konstellation, die weit über ihre primäre Bedeutung hinausweist und die mit Verdoppelung, Spiegelung oder „Bild im Bild“ (Film im Film) charakterisiert werden könnte. Doch nicht genug: Der Beobachter verweist nicht nur auf den erwähnten Aspekt des „Produzierens“ von Erzählungen, sondern ebenso auf jenen des Rezipierens. Auch der Zuschauer findet sich auf der Leinwand wieder. Er sieht einer Figur zu, die beinahe dasselbe tut wie er selbst: beobachten, Eindrücke sammeln, Zusammenhänge hersteilen, Vermutungen anstellen, Schlüsse ziehen. Das alles geschieht, ohne daß der Beobachter (und der Zuschauer) auf das Beobachtete Einfluß nehmen kann (oder will). Die Figur des Beobachters oder der Beobachterin besitzt einen starken Verweischarakter, eine selbstreferentielle Komponente. In ihr treffen sich Regisseur und Zuschauer.

Blow-up (Großbritannien 1966) von Michelangelo Antonioni macht die Zuschauer- und Realisatordimension, die in der Figur des Beobachters liegen, besonders deutlich, indem er sie miteinander kollidieren und zudem auch die investigative Funktion des Beobachtens deutlich ins Leere laufen läßt. Ein Modephotograph, der Motive für sein Fotobuch sucht, ist von einem Liebespaar im Park fasziniert, weil es zugleich Ruhe, Friedlichkeit, Ausgelassenheit und Spontaneität ausstrahlt, aber auch von einer Aura des Geheimnisvollen umgeben ist. Wäre der Photograph Monsieur Hire, würde er wahrscheinlich auf einer Parkbank sitzen bleiben, abwarten und versuchen, aus den Puzzlestücken eine Geschichte zu fabrizieren. Doch der Photograph handelt berufsmäßig, beginnt zu photographieren, interveniert dadurch, wird entdeckt und zerstört das Idyllische der Szenerie. Vielleicht ist es symptomatisch, daß es der Photograph nicht beim Beobachten lassen kann, daß er etwas „Handfesteres“ braucht, etwas, das Spuren, Abdrücke hinterläßt. Diese Abdrücke werden fatale Details in sich bergen. Denn das Verhalten der beobachteten Frau macht den Photographen stutzig, seine Neugierde ist geweckt.

In der Folge wird der Beobachter und Aufzeichner zum Gestalter - der Entwicklungs- und Vergrößerungsprozeß der Fotos aus dem Park wird zur Reflexion über Möglichkeiten des Geschichtenerzählens. Antonioni gestaltet diese Passage des Films zum atemberaubenden Höhepunkt des selbstreflexiven Diskurses. Er bedient sich dabei eines Mediums, das als besonders „wirklichkeitsgetreu“ gilt, als fähig, Schnappschüsse der Realität wiederzugeben und dem Film auf besondere Weise nahesteht, besteht dieser im Grunde genommen aus einer Serie von Fotos, die so schnell projiziert werden, daß sie unser Auge zu einer kontinuierlichen Bewegung zusammensetzt.

Die Bruchstellen, die Blow-up produziert und die uns an unserem Wahrnehmungsvermögen, an der Fähigkeit des Beobachtens und der Interpretation des Beobachteten zweifeln lassen, sind besonders abgründig. Einerseits orientiert sich der Film am voyeuristisch-investigativen Strang, um allerdings allmählich sein Interesse daran zu verlieren, andererseits drängen sich Fragestellungen in den Vordergrund, die weit über einfache Kausalzusammenhänge hinausführen, ja das Medium selbst zur Debatte stellen.

Doch nicht immer sind Konstellationen des Beobachtens in einen kriminalistischen oder/und voyeuristischen Zusammenhang gestellt oder gehen von einem solchen aus. Bereits in Monsieur Hire können wir Spuren entdecken, die in eine andere Richtung weisen, wenn die Titelfigur über ihre Lust am Beobachten spricht. Das Beobachten kann auch auf eine spezielle Situation verweisen, in der ein anderes Handeln unmöglich, nicht mehr oder noch nicht möglich erscheint. 40 qm Deutschland (Bundesrepublik 1985) von Tevfik Baser geht von einer Situation der totalen Isolation aus. Für die Frau eines türkischen Gastarbeiters in Hamburg schrumpft die ganze Welt auf die im Filmtitel genannte Fläche zusammen - auf die Größe ihrer Wohnung. In sie bleibt sie eingesperrt. Ihr Mann oder Bekannte, die er mitbringt, sind die einzigen, die eine minimale Verbindung zur Außenwelt hersteilen. Die Fenster zum Hof werden - anders als bei Hitchcock - zur Möglichkeit, etwas anderes als die eigenen vier Wände zu sehen, zu einer potentiellen Fluchtperspektive. Über die räumliche Distanz hinweg und jenseits gesprochener Sprache entsteht eine Art von flüchtiger, ganz rudimentärer Kommunikation, die etwas Licht in die erdrückende Einsamkeit einer völlig fremdbestimmten Frau in einem fremden Land bringt.

Basers 40 qm Deutschland gleicht in seiner Grundsituation einem Gefängnisfilm. Anstelle der Gitter treten sprachliche und kulturelle Barrieren, die der Mann bewußt fördert, um seine Frau in Abhängigkeit zu halten. Die Folgen und Konsequenzen eines Ausbruchs aus dieser Enge läßt der Film offen, denn der Anstoß dazu kommt nicht von der Frau selbst, sondern von außen. Sie bringt zwar verzweifelt den Wunsch zum Ausdruck, in ihr Dorf zurückkehren zu dürfen, doch die Entscheidung über diese Frage kann der Mann nicht mehr treffen. Er stirbt an einem Herzanfall. Nachdem sie stundenlang in der Wohnung verharrt ist, faßt sie endlich den Entschluß, die Türe in eine wirklich fremde Welt aufzustoßen. Das gelingt ihr erst nach längerer Zeit, denn der Mann ist im Todeskampf vor der Türe zusammengebrochen und versperrt nun mit seinem wuchtigen nackten Körper den einzigen Weg aus dem Gefängnis, so als wolle er noch als Toter sie daran hindern, die Wohnung zu verlassen. Das letzte Bild zeigt, wie sie das düstere Treppenhaus durchquert, sich langsam einer lichtdurchfluteten Öffnung, dem Ausgang, nähert und darin verschwindet.

Die Enge, aber Vertrautheit einer Innenwelt, das Beobachten als erster Schritt, mit der Welt außerhalb der eigenen in Kontakt zu treten, sie kennenzulernen - im Kindesalter ist diese Situation wohlvertraut, auch wenn die beschriebene Konstellation meist nur im übertragenen Sinne zutrifft. Kinder sind in einer Erwachsenenwelt oft Outsider, Noch-nicht-Dazugehörige. Ihnen wird auch zugestanden, ungenierter zu beobachten, es sei denn, es handelt sich um Szenen sexuellen oder (gesellschaftlich weniger streng bewertet) gewalttätigen Inhalts. Durch das Beobachten wird die andere Welt erlernt, erfahren, sich angeeignet. Natürlich ist es nicht so, daß die Kindheit nur aus Beobachten besteht, aber es gibt introvertierte Phasen, in denen mehr ein distanzierteres, abwartendes, eben beobachtendes Verhalten dominiert.

Auf der anderen Seite gibt es - neben den Fremden und den Kindern - eine dritte Gruppe innerhalb der Gesellschaft, die Gefahr läuft, in die Rolle der Zuschauer gedrängt zu werden: alte Menschen. Hier sind es oft fehlende Mobilität, Kommunikationsschwierigkeiten, Generationskonflikte, das scheinbare Nachlassen körperlicher und geistiger Präsenz, die das Aufbauen dieser Barrieren begünstigen. Anders als bei Kindern und Fremden signalisiert der Status des Beobachtens ein Nicht-mehr-Dazugehören, einen Übergang zum Nichtmehr-Sein. Angehörige aller drei Gruppen „eignen“ sich besonders, in Filmen den Status des Beobachters zugewiesen zu erhalten, vielfach als Nebenfiguren, kaum beachtet, aber dem Regisseur die Möglichkeit eröffnend, die oben beschriebene Mise-en-abîme-Struktur einzubringen. Während investigatives und voyeuristisches Beobachten aus einer Intention abgeleitet sind und die selbstreferentielle Komponente eine übergeordnete Struktur darstellt, die bei jeder Funktion auftreten kann, so orientiert sich die Kategorisierung nach bestimmten Gruppen an gesellschaftlichen Merkmalen.

In Michelangelo Antonionis II grido (Italien 1957) tauchen zwei Nebenfiguren auf, die beiden beschriebenen Gruppen angehören: das Mädchen Rosina, das Aldo auf den ersten Teil seiner Irrfahrt mitnimmt, und der störrische Vater von Virginia, der verwitweten Tankstellenbesitzerin, bei der Aldo eine Weile bleibt und mit der er ein Liebesverhältnis beginnt. Bezeichnend ist, daß sich die beiden beobachtenden Figuren fast auf Anhieb gut verstehen und so etwas wie eine verschworene, wenn auch machtlose Gemeinschaft gegen die mittlere Generation bilden. Der Alte muß Zusehen, wie Virginia seinen Hof und sein Land verkauft und das Bauern aufgibt. Trotzig hockt er auf der Bank vor dem Haus, beobachtend und Wein trinkend. Nur ab und zu löst er sich aus der passiven Rolle - etwa um den neuen Besitzer des Bauernguts mit Steinen zu bewerfen, als er „seine“ Bäume fällen läßt. Einer dieser anarchistischen Ausbrüche ist es, der ihn zu einem Spitalaufenthalt zwingt. Die Viererkonstellation der Figuren zerbricht, bald wird auch Rosina zurück zu ihrer Mutter geschickt werden, nachdem sie Aldo und Virginia in einer Liebesszene im Freien überrascht hat.

Diese beiden Nebenfiguren und ihre beobachtende Position reflektieren den Hauptstrang der Handlung wie ein Spiegel, manchmal direkt, manchmal ganz verzerrt. Das Beobachten, obwohl es diskret bleibt, besitzt in dieser Figurenkonstellation etwas Bedrohliches, Mahnendes. Rosina erinnert Aldo ständig an ihre Mutter Irma, Virginias Vater ist der ständig präsente Protest gegen die Richtung, die sie als neue „Chefin“ eingeschlagen hat. An der ersten Station auf Aldos Reise bleibt Rosina im Hintergrund fast immer sichtbar, obwohl sie zunächst außerhalb des Hauses von Aldos früherer Freundin bleibt und eine passive, abwartende, vielleicht auch verunsicherte Haltung einnimmt. In der erwähnten Liebesszene dagegen, welche die Trennung von Vater und Tochter einleitet und wie eine modifizierte Urszene wirkt, wird sie spielend eingeführt. Sie sammelt Steine, entdeckt dann die beiden am Boden liegend. Ihre Verstörtheit wirkt um so größer, indem sie zunächst ihren Spielgestus beibehält, nun aber die eingesammelten Steine wieder an ihre alten Plätze zurücklegt, um schließlich panikartig die Flucht zu ergreifen. Durch den Wegfall der beiden „stützenden“ Nebenfiguren, die oft in eine Beobachterhaltung versetzt werden, beginnt für Aldo gleichsam der Anfang vom Ende. Er wird wieder von Unruhe gepackt, verläßt Virginia, irrt durch die neblige Po-Landschaft, um am Schluß, am Ende einer zirkulären Bewegung, den Tod zu finden.

Claude Jutras Mon oncle Antoine (Kanada 1971) rückt den heranwachsenden Benoît zwar ins Zentrum, beläßt ihn aber in seinem Beobachterstatus. Bereits das Possessivpronomen im Titel kennzeichnet die Blickrichtung. Tatsächlich ist Benoît während des ganzen Films präsent, auch wenn er manchmal nur am Bildrand plaziert erscheint. Das Schlußbild des Films, das zeigt, wie Benoît mit aufgerissenen Augen von außen durch die Fenster in ein Haus blickt, könnte geradezu als programmatisch bezeichnet werden.

Der im Titel genannte Onkel Antoine führt einen Gemischtwarenladen in einer ländlichen Gegend im kanadischen Quebec und nimmt auch noch das Amt des Leichenbestatters wahr. Er wird für Benoît zu einer Orientierungsfigur, als sein Vater die Familie vorübergehend verläßt, um als Holzfäller zu arbeiten. Benoît hilft im Laden aus und amtet als Meßdiener. Die Mischung aus Nicht-mehr-Kindsein und Noch-nicht-Erwachsensein prädestiniert ihn für eine Rolle, die etwas außerhalb fixer Strukturen steht. Die kindliche Dimension wird beispielsweise darin deutlich, wie er zu Beginn die Arbeit des Einsargens beobachtet. Der Gesichtsausdruck des etwas im Abseits stehenden Jungen verrät keine allzu große Anteilnahme - und wenn es zu „schlimm“ wird, schiebt er einfach das Meßbuch vor sein Blickfeld: Was ich nicht sehe, das gibt es auch nicht.

Zwei Tage später, am Ende des Films, hat Benoît einen großen Teil seines naiv-linkischen Verhaltens verloren. Viel ist inzwischen geschehen: Ein Junge in seinem Alter stirbt, zusammen mit seinem Onkel Antoine macht Benoît den Leichentransport, der zu einem traumatischen Erlebnis wird, als der Onkel in der schneedurchpeitschten Nacht infolge seines exzessiven Alkoholkonsums ausfällt und Benoît - unvermittelt in die Erwachsenenrolle katapultiert - das Führen des Pferdegespanns überläßt. Während dieser langen und beschwerlichen Rückfahrt geht der Sarg mit dem Toten verloren. Bei seiner Rückkehr muß der Junge zudem feststellen, daß Antoines Angestellter sich mit dessen Frau vergnügt hat. Mon oncle Antoine ist ein feinfühliger Film über den Prozeß der Adoleszenz, der sich auch in einem allmählichen Blickwechsel ausdrückt. Der Beobachter verliert immer mehr seine Unschuld, die Distanz zur Erwachsenenwelt schmilzt.

Der Prozeß des Alterns, des Altwerdens erscheint in mancher Hinsicht wie eine Umkehrung des Heranwachsens. Daraus resultiert oft ein Zurückversetztwerden in die Rolle des Beobachters - sei dies als Entmündigung oder aber auch als Zugestehen eines „unproduktiven“ Freiraums. Ozu Yasujiro, dessen Filme oft eine (auseinanderfallende) Familie ins Zentrum setzen, präsentiert in seinem Film Bakushu (Früher Sommer, Japan 1951) das ganze Spektrum eines Menschenalters und die daraus resultierenden Verhaltensnormen: die Kinder, die aus dem Zimmer geschickt werden, wenn es um die Besprechung ernsthafter Themen wie z. B. den geeigneten Mann für die noch unverheiratete Noriko geht, und die sich diesem Gebot nur widerwillig fügen; die Eltern als eigentliche Entscheidungsträger; die Großeltern als diejenigen, die zwar bisweilen noch um Rat gefragt werden und Wünsche artikulieren, die aber nicht mehr immer ernst genommen werden; und schließlich noch ein älterer Bruder des Großvaters, der sich nicht nur wegen seiner Hörbehinderung etwas abseits hält, oft still vor sich hin blickt und in die Ferne sieht. Das Beobachten nimmt so eine ungebündelte Form an, ist nicht auf eine bestimmte Person oder einen Vorfall fokussiert, erinnert manchmal nur noch äußerlich an diese Tätigkeit. In Wirklichkeit ist es eher ein Meditieren, eine Innenschau am Ende eines Lebens, die sich dahinter verbirgt. Diese Figur taucht kurz nach dem Beginn des Films auf, als der alte Mann die Familie seines Bruders besucht, dann verschwindet sie wieder - eine unwesentliche Nebenfigur, könnte man meinen. Doch der Eindruck täuscht. Am Ende kehrt die Narration des Films zu eben dieser Person zurück. Die Großeltern ziehen, da Noriko nun nicht mehr den Haushalt mitfinanziert, zu ihm.

Neben der voyeuristischen und investigativen Intention des Beobachtens und der strukturübergreifenden Selbstreflexivität muß eine weitere erwähnt werden: die Funktion der Retardierung. Der Beobachter und vor allem der Akt des Beobachtens dient hier der Verzögerung der Narration, einem Innehalten. Der Beginn von C’era una volta il west (Italien 1968) von Sergio Leone schildert das Warten auf die Ankunft eines Zuges. Die Revolvermänner verbringen die Zeit mit mehr oder weniger sinnvollen Tätigkeiten. Anders als in Monsieur Hire, in dem die Titelfigur von seiner Vorliebe für Bahnhöfe erzählt, wird in diesem Western bald einmal klar, daß es nicht um die Lust am Finden möglicher Geschichten geht, das Beobachten also nicht wie ein „Flanieren“ wirkt, sondern eine Gerichtetheit, ein Ziel besitzt, als Vorstufe zu einer Auseinandersetzung betrachtet werden kann. Im Western treten solche retardierenden Momente, die mit dem Akt des (aufmerksamen) Beobachtens verbunden sind, oft vor Showdowns auf - C’era una volta il west zerdehnt und ritualisiert diese Phase auf extreme Weise. Als „Ruhe vor dem Sturm“ könnten solche Abschnitte charakterisiert werden, in denen nichts geschieht, aber klar wird, daß etwas geschehen wird, und es deshalb unumgänglich ist, daß das Umfeld genauestens beobachtet werden muß. Die Phase des Beobachtens dient als Spannungssteigerung.

Eine weitere Gruppe, der eher eine Beobachterrolle zugewiesen wird und die in einem größeren Kontext näher betrachtet werden müßte, kann in Filmen mit bürgerlichem und vor allem-großbürgerlichem „Milieu“ ermittelt werden: das Dienstpersonal. Zwar sind die Sphären von Herrschaft und Bediensteten meistens streng getrennt, dennoch ist aber das Personal oft anwesend, auch wenn es nicht um ihre eigenen Angelegenheiten geht - nicht als Protagonisten, sondern als Beobachtende. Solche Konstellationen erlauben es einem Film auch, eine zweite Erzählebene einzubringen, z. B. wenn das Personal über das Gesehene und Gehörte unter sich spricht, seine Variationen oder Versionen der Geschehnisse einbringt.

Manche Filme von Luis Bunuel operieren nach diesem Muster. Viridiana (Spanien 1961) oder Le journal d’une femme de chambre (Frankreich 1964) sind als Beispiele zu nennen. Im letztgenannten Film führt das Wissen zum sozialen Aufstieg der Titelfigur Celestine. Ein solcher wäre allerdings undenkbar, würde sie sich auf ihre Rolle als Beobachterin beschränken. Doch selbst in ihrem Handeln bleibt Celestine seltsam „unbetroffen“. Sie wirkt, wie Klaus Eder treffend beobachtet, wie ein „Katalysator, der die Geschehnisse auslöst, von ihnen allerdings weitgehend unberührt bleibt“.

Literatur

Serge Daney, „L’Œil et le Look“, in: Cahiers du Cinéma 346 (April 1983), S. 49/50.

Klaus Eder, „Kommentierte Filmografie", in: Peter W. Jansen, Wolfram Schutte (Hgg.), Luis Buñuel, München 1980, a. ergänzte Aufl. (= Reihe Film 6), S. 130.

Jean Tulard, Guide des films, Paris 1990 (Bouquins), Bd. L-Z, S. 246.

Thomas Christen
Geb. 1954. Studium der Germanistik, Publizistikwissenschaft, Psychologie und Filmwissenschaft. Dissertation über Das Ende im Spielfilm: vom klassischen Hollywood zu Antonionis offenen Formen (Schüren 2002).

Seit 1997 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Filmwissenschaft. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Art Cinema, europäischer Film, Filmgeschichte, Narratologie, Selbstreflexivität. Forschungsprojekt über «Formen des filmischen Exzesses» (Habilitation), «Martin Schlappner, die Neue Zürcher Zeitung und der neue Schweizerfilm» sowie Projekt der Herausgabe einer mehrbändigen Einführung in die Filmgeschichte.
(Stand: 2021)
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