DORIS SENN

UR-MUSIG (CYRILL SCHLÄPFER)

SELECTION CINEMA

So unprätentiös der Titel, so anspruchsvollehrgeizig das Unterfangen des Musikers Cyrill Schläpfer: urtümliche, das heißt authentische und bisher von einem breiten Publikum kaum wahrgenommene Klänge der Schweizer Musiktradition festzuhalten, in Bildern Gesang und Spiel zu dokumentieren und über Aufnahmen von Brauchtum und Natur den Bogen zum Menschen, seiner landschaftlichen Verwurzelung zu schlagen und damit die Frage nach seiner Identität zu stellen.

Die im Appenzell und in der Innerschweiz zwischen 1989 und 1993 aufgezeichneten Rufe, Melodien und Instrumentalstücke klingen, an DRS-l-Volksmusik-geprägten Hörkonventionen gemessen, ungelenk, bisweilen „falsch“, jedenfalls aber unvertraut. Ur-Musig führt uns vor Auge und Ohr, daß Jodeln nicht gleich Jodeln (gleich Trachtengruppe) ist, sondern zu bäuerlichen Arbeitsabläufen gehört und u.a. das Appenzeller Zäuerli, das Muotataler Jüüzli, den Naturjodel, den Bet-Ruf, den Löckler (zum Eintreiben des Viehs) und das Jodellied umfaßt. Treichlen, Maultrommel, der dem Alphorn verwandte Büchel, Chlefeli und Fußstampfen werden als Melodie- und Rhythmuselemente in ihrer Schlichtheit gewürdigt. Unter den Instrumentalmusikern und -formationen kommt Rees Gwerder, den Schläpfer dem Film vorgängig schon mit einer Tonträgerproduktion bekannt gemacht hat, cm Ehrenplatz zu. Mit seinem Schwyzerörgeli, der „Krummen“, seinem gleichmütigen Gesichtsausdruck und dem schier unerschöpflichen Fundus an lüpfigen Melodien entspricht er dem auch von folklorekritischer Seite mit Sympathie begegneten Bild des unverfälschten, eigenbrötlerischen Berglers.

So weit, so gut. Doch wo liegen die Haken dieser Dokumentation urschweizerischen Wesens? Sie liegen dort, wo auf der Tonebene zwar Unkonventionelles, nach Möglichkeit Unbearbeitet-Ursprüngliches geboten wird, auf der Bildebene jedoch dem folkloristischen Klischee der unberührten Bergwelt, der Idylle ächten Bauerntums zugedient wird (jedes Element moderner Zivilisation - seien es Autos, Telefonleitungen oder Strommasten — wurde sorgsam ausgespart). Sie liegen dort, wo wissenschaftliches Interesse gänzlich ausgeklammert, auf jeglichen erklärenden Kommentar konsequent verzichtet wird, vieles des Gezeigten und Gehörten so aber nicht eingeordnet werden kann, die Landschaften und das mit ihnen verbundene Brauchtum durcheinandergeraten.

Ur-Musig sollte - so Schläpfer - kein Lehrstück, sondern eine einem Musikstück vergleichbare Komposition werden, und zuweilen entwickelt die assoziative Bilderfolge auch wirklich einen eigenen tragenden Rhythmus und Spannungsbogen. Des öfteren stellt sich jedoch das Gefühl des Repetitiven, des bloßen Bebilderns einer Musikkompilation ein. Der Eindruck verstärkt sich gegen Filmschluß, wo in Endlosschlaufen diese und jene Klangvariation auch noch vorgeführt wird, die unbestritten schönen Landschafts- und Brauchtumsbilder entgegen jedem zyklischen Ablauf noch einmal durcheinandergewirbelt werden.

Trotz allem, die Popularisierung bisher wenig bekannter Schweizer Musiktraditionen muß dem Film zugute gehalten werden und findet zu Recht seinen Niederschlag im beachtlichen Kinoerfolg, vor allem seitens eines Publikums, das sich bisher kaum mit der einheimischen Volksmusik anfreunden konnte.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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