MARTIN SCHAUB

HÉLAS POUR MOI (JEAN-LUC GODARD)

SELECTION CINEMA

Jean-Luc Godard fährt fort, aus Ahnungen - nicht aus Gewißheiten, schon gar nicht aus Ideologien - Filme zu machen. Andersherum: Auch Helas pour moi ist wieder die filmische Konkretisierung einer Ahnung. Nicht erst seit Je vous salue Marie, Passion und Nouvelle Vague kreisen Godards Spekulationen und (SeIbst-)Erfahrungen um die Grenzlinien von Endlichkeit und Ewigkeit, von Diesseits und Jenseits, von Menschlichkeit und Göttlichkeit. Daß er bei diesem Kreisen einmal auf den Amphytrion-Alkmene-Stoff stoßen würde, überrascht nicht.

Der Mensch hat die Aspiration zum Göttlichen, der Gott eine Sehnsucht nach dem Menschlichen. Der „Grund“ dafür ist die Unvollständigkeit, das menschliche oder göttliche Defizit. Über dieses Defizit kann man nicht kohärent verhandeln, weil es nur geahnt und nicht definiert werden kann. Mich erstaunt es jedenfalls nicht, daß in Godards neuen Filmen die Musik - im Falle von Hélas pour moi neben Bach und Beethoven Holliger, Schostakowitsch, Honegger, Kanchelli, kurz, ein wichtiger 'Feil des meditativen ECM-Angebots - als körperlose Hängebrücke ins Unsägliche diese eminente Bedeutung bekommen hat. Das Unsägliche, das „je-ne-sais-quoi“, das Godard, seit er Filme macht, zu jenen halsbrecherischen Wortspielen gedrängt hat, von denen Hélas pour moi natürlich nicht frei, ja eher überladen ist („Dans ‚dispute’, il y a le mot ‚pute‘“). Weshalb Godard dieses oder jenes Stück als f Untergrund oder als Prisma seiner Geschichte und seiner Inszenierung braucht, kann er nicht sagen. Ihn interessiert eine geheimnisvolle, man darf sagen mystische Synästhesie, und nur synästhetisch kann man seine neuen Filme tastend zu lesen versuchen.

Gott ist einsam, die Menschen sind einsam. Wird in dieser Einsamkeit Religion (religio) geboren? In der hypothetischsten Art beschreibt, zeigt, evoziert Godard die Anziehungskraft von Wort (Geist) und Körper, und er riskiert mit der dem Stoff angemessenen Ahnungsfülle das „incommunicado“. Eigenartigerweise stellt sich Kommunikation aber immer wieder ein. Es gelingt Godard also, dem/der Zuschauerin das Konkrete des Materials immer wieder als Chiffre, als Bedeutung begreifen zu lassen. Das Hin und Her zwischen Verbindlichkeit und Ohnmacht - nehme ich an - ist nichts mehr und nichts weniger als Godards melancholisches Selbstporträt.

„Proposition de cinéma“ lautet für diesen Film die Gattungsbezeichnung. Das ist die Formulierung eines extrem einsamen Menschen, der sozusagen metaphorisch auf ein Ohr, auf ein Herz, auf Liebe hofft: Liebe, der königliche Weg zur mystischen Aufhebung des Gegensatzes von Endlichkeit und Ewigkeit. Und die „proposition“ gilt schließlich - noch niemand hat das bis jetzt gesagt, weil dieser Film mit seiner apokryphen Intensität eben auch einschüchtert -, diese „proposition“ gilt auch Anne-Marie Miéville (und hinter ihr Anna Karina, Anne Wiazemsky). In Hélas pour moi will der Gott die Beziehung zu der Sterblichen, wünscht, daß sie sich ihm gibt, ihm, dem Gespaltenen und Einsamen. Daß sie ihn durchschaut (durchfühlt), wirft ihn jedoch zugleich in seine Einsamkeit zurück und bestätigt die Richtigkeit seiner Ahnung.

In die französische Filmszene paßt Hélas pour moi kaum mehr; die Brüder im Geist sind Außenseiter: Oliveira, Garrel, Straub und Huillet. In der schweizerischen ist Godard noch einsamer; neben ihm gibt es keinen und keine, die an die Möglichkeit der filmischen Artikulation einer komplexen, verwirrten, tragischen Innerlichkeit glauben. Alle anderen versuchen sich am „filmischen Roman“ und scheitern am eklatanten Mangel an Welthaftigkeit. Godard sucht Kommun(ikat)ion aus einem existentiellen Hunger heraus. Das aber ist - burschikos gesagt - der Unterschied zwischen der Herstellung von Brot und mehr als Brot.

Martin Schaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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