„Das Reisetagebuch des Chūji“ (Chūji tabi nikki) von Daisuke Itō war ein unerhörter Film.1 Für viele ist dieses Werk aus dem Jahre 1927 schon immer eines der größten Ereignisse der japanischen Filmgeschichte gewesen; allein, es galten bisher sämtliche Negative und Kopien des Films als verloren. Anhand der zahlreichen Beschreibungen habe auch ich mir oft eine Vorstellung von seiner hervorragenden Qualität zu machen versucht. Gespräche mit Leuten, die den Film kurz nach Kriegsende noch gesehen hatten, regten meine Vorstellung zusätzlich an, und je geringer die Hoffnung, um so mehr wünschte ich mir, diesen Film einmal mit eigenen Augen sehen zu können. Ich hoffte, nein, ich wußte, daß ich diesem „Traumfilm“ während meiner verbleibenden Jahre Arbeit eines Tages irgendwo in einem der vielen regionalen japanischen Filmarchive begegnen würde.
Im Herbst 1992 ging mein Wunsch in Erfüllung, und ich war, wie man so sagt, erschlagen. Schon einen Film zu finden, der jahrzehntelang für verloren gehalten wurde, ist eine atemberaubende Freude. Wie um diese noch zu steigern, war nun das gefundene Werk von atemberaubender Größe.
Eine Privatperson hatte die Streifen über das Film- und Kulturarchiv Hiroshima dem Film Center Archive des staatlichen Museums für moderne Kunst in Tokio vermacht. Die Schenkung umfaßte leider nicht die gesamte Filmtrilogie: Etwas von Teil 2 und fast den ganzen Teil 3, nicht aber Teil 1. Der Rest war verlorengegangen. Aber dieser knappe Drittel des Films, der restauriert worden ist, vermittelte dem Zuschauer eindrücklich den Reiz dieses Werks. Immer war von einem „unglaublichen“ Film die Rede gewesen, aber daß er so brillant sein würde, habe ich kaum erwartet.
Es sind der Rhythmus der Schnitte sowie die Inszenierung, die mir zuerst ins Auge sprangen. Gespielt wird die Geschichte vom Untergang eines Gauners, der erst von einer chronischen Krankheit heimgesucht und dann von seinen Häschern in die Enge getrieben wird - keine außergewöhnliche Geschichte also. Der Film fesselt vielmehr durch das Wechselspiel zwischen der holzschnittartigen Regie von Daisuke Itō und seiner unglaublich sorgfältigen Gestaltung der Szenen, was dem Ganzen einen dynamischen Sog des ständigen Wechsels verleiht. Der Film wird so zu einem „Spektakel der Darstellung“, wie man sagen könnte. Nicht in dem Sinne, daß die allseits bekannte Geschichte von Chūji Kunisada als ein prächtiges Schauspiel inszeniert wird; es sind vielmehr Form und Rhythmus der Schilderung, mit denen das Drama optisch erzählt wird, diese selbst werden also zum Spektakel. Wenn von „optisch erzählen“ die Rede ist, so liegt dies selbstverständlich auch daran, daß es sich um einen Stummfilm handelt.
Gegen Ende des Films, wo abwechselnd Chūji, der in einem Schuppen liegt, dann wieder seine Häscher, die von vorne angreifen, gezeigt werden, meint man, das wilde Geschrei akustisch zu vernehmen. Dies gilt erst recht für die Schlußszene mit dem Kampf zwischen den Häschern und dem Gefolge Chūjis, welches das Tor des Schuppens verzweifelt zu verteidigen versucht.
Die Realisierung einer solch filmischen Wirkung läßt auf das allgemeine Niveau des japanischen Films zu der Zeit, wo das „Reisetagebuch des Chūji“ entstanden ist, schließen. Ohne Zweifel hat das großartige Talent von Daisuke Itō dieses Werk zu dem werden lassen, was es ist. Ich bin aber, obwohl ich nur recht wenige Filme aus dieser Zeit gesehen habe, überzeugt, daß erst das hohe Niveau, auf dem sich der japanische Film um 1927 befand, die Schaffung eines solchen Werkes ermöglichte. Auch die Schauspieltechnik von Denjirō Ōkochi in der Rolle des Chūji und von Naoë Fushimi in der Rolle der Konkubine Oshina scheinen dies zu bestätigen.
Das Schauspiel der beiden ist ungeheuerlich. Denjirō Ōkochi als der untergetauchte Gauner Chūji teilt seine Rolle in zahlreiche Teilrollen auf: die unvergleichbare Gestalt des äußerst majestätischen Gangsterbosses, die Rolle des dezenten Liebhabers, der sich bei einer Sake-Brauerei einschleicht und zum Kommis machen läßt, und schließlich die elende Ruine von Mensch, der erst von chronischem Rheumatismus befallen und dann noch von seinen Häschern gejagt wird. In allen diesen Rollen hat der Schauspieler deutlich verschiedene Konturen; eigentlich scheint er jedesmal ein anderer Schauspieler zu sein. Um so ergreifender wirkt deshalb der Untergang dieses Gangsterhelden, der zuletzt auf einem Türbrett hegt und sich nicht mehr bewegen kann.
Naoë Fushimi tritt erst gegen Ende des Films auf, spielt dort aber mit einer Vehemenz des Ausdrucks, die einen zuweilen schaudern läßt: die katzenhafte Miene, mit der sie einen Revolver aus dem Schoß zieht, die starren Augen, mit denen sie ihn gegen den enttarnten Verräter unter dem Gefolge richtet; dann der Übergang in ihrem Gesicht von Wut zu schlichter Schönheit, als sie sich beruhigt.
Gemeinsam ist beiden Schauspielern eine Übertriebenheit des Ausdrucks, was diesen Film so spannend macht und den Eindruck einer gewaltigen schauspielerischen Leistung hinterläßt. Die übertriebenen Wandlungen von Chūji, Szenen auch wie seine übertriebene Rührung, da er auf der Straße unvermittelt einem von seinem harten Los unbeeindruckten Waisen begegnet, sind dadurch charakterisiert, daß sie mit dem Ausdruck formalisierter Übertriebenheit jegliche Art von Realismus überbieten, was auch für die Unheimlichkeit der Fushimi zutrifft. Ich finde es bemerkenswert, daß es gerade dieser Formalismus ist, der den Film so stark macht. Man könnte, wenn hier von Formalismus die Rede ist, fälschlicherweise an feststehende und starre Darstellungsmuster denken. Vielmehr wird aber das, was in einer Rolle ausgedrückt werden soll, zuerst verdichtet, um dann zum festen Repertoire der Darstellung zu werden. Dieser Unterschied wird besonders deutlich, wenn man diese Darstellungsweise mit der neuerer Fernsehspielfilme vergleicht. Hatten Denjirō Ōkochi und Naoe Fushimi das Abgleiten in einen flachen Realismus vermieden und mit extrapolierten Darstellungsformen jene Wirkung des dynamischen Realismus erreicht, so werden in der Braunschen Röhre aufgrund des Gebots „natürlicher“ Darstellung nur noch Szenen gespielt, die längst zum Stereotyp geworden sind. Schließlich zeigt auch der körperliche Ausdruck der beiden Schauspieler, auf welchem Niveau der japanische Film sich damals bewegte. Auch hier gilt es selbstverständlich, individuelle Fähigkeiten zu beachten; die unerhörte Darstellungskraft von Denjirō Ōkochi und Naoë Fushimi kann aber wiederum nur vor dem Hintergrund des damaligen Standes des japanischen Films insgesamt gesehen werden. Ich denke, daß mancher heutige Zuschauer, der sich das „Reisetagebuch des Chūji“ ansieht, ähnliche Überlegungen machen wird. Der schon über 65jährige Film, der nichts von seiner Lebendigkeit eingebüßt hat, fordert den Vergleich mit dem zeitgenössischen japanischen Kino heraus.
Übrigens: Als ich mir bei einer Aufführung im Filmzentrum meinen „Traumfilm“ ansah, saß ganz in der Nähe der Regisseur Kinji Fukasaku, der sich vernehmbar über den Film zu freuen schien. Mir, der ich immer behaupte, der Actionfilm sei die Krönung des Films, hat diese Szene gefallen, wie ein erstklassiger Vertreter heutiger Actionfilme sich diesen Klassiker des Jidaigeki, des Actionfilms mit historischen Stoffen also, anschaute. Auch Kinji Fukasakus neuster Film Itsuka giragira suru hi („The Triple Cross“, 1992) faszinierte durch seine formale Gestaltung. Obwohl der Streifen nur die simple Geschichte erzählt, wie Bankräuber einen blutigen Kampf um den Beuteanteil führen, paßt jeder Schnitt zu dem auf den Zuschauer einwirkenden Rhythmus und der Melodie, die sich aus Formen, Farben und Tönen unterschiedlichster Intensität ergeben. Auch hier könnte man von einem „Spektakel der Darstellung“ sprechen.
Konkret gesagt liefern sich in diesem Film ein Geländewagen in der Hauptrolle und ein roter ausländischer Wagen in der ersten Nebenrolle eine unerbittliche Verfolgungsjagd, wobei eine große Anzahl anderer Automobile und Busse sowie unzählige Polizeiautos dazwischengeraten. Das Chaos, die Zusammenstöße und der Kampf zwischen dieser bemerkenswerten Anzahl von Automobilen überbieten die stereotypen Szenen mit der obligaten motorisierten Verfolgungsjagd gewöhnlicher Actionfilme; die Geschwindigkeit des Autofahrens wird als solches zum eindrücklichen Schauspiel. Indem die Geschwindigkeit der Darstellung zum eigentlichen Spektakel wird, verlieren die Autos ihren Attributcharakter und führen auf der Leinwand die Intensität bewegter Formen vor.
Es ist vielleicht gerade diese Intensität bewegter Formen, die dem Chūji tabi nikki seine Lebendigkeit verleiht und was den Kern des Actionfilms überhaupt ausmacht. Der Film aus dem Jahr 1927 und jener aus dem Jahr 1992 stimmen in diesem Punkt absolut überein.
Um den eben skizzierten Gedanken selbst in Zweifel zu ziehen: Es besteht kaum Anlaß, die beiden Filme, die eine zeitliche Distanz von mehr als 60 Jahren trennt, ohne weiteres miteinander in Verbindung zu bringen. Ein genauerer Blick auf den zeitgenössischen japanischen Film läßt eine solch optimistische Sicht kaum zu. Auch wenn aus dem Blickwinkel der Filmanalyse bei Chūji tabi nikki und Itsuka giragira suru hi Parallelen festgestellt werden können, müssen im Hinblick auf situative Faktoren bedeutende Unterschiede bezüglich Produktion und Publikumswirkung der Filme festgestellt werden. Es sind, kurz gesagt, die grundlegenden Unterschiede zwischen der Situation von 1927, wo das Produktionssystem in Japan unter dem Druck von immer höheren und breiter gefächerten Erwartungen an den Film ständig verbessert wurde, um das Goldene Zeitalter der frühen dreißiger Jahre herbeizuführen, und der Situation von 1992, wo das Produktionssystem sich in der Auflösung befindet, da der gesellschaftliche Stellenwert des Films unklar geworden und im Abnehmen begriffen ist.
Als konkreten Ausdruck dafür, wie sich das breite Publikum heute zu Filmen verhält, kann man die japanischen Top ten nach Umsatz anführen (Angaben aus Kinema Junpō 2/1993; die Zahlen geben den eingespielten Umsatz in Yen wieder; 1 Mia. Yen entsprechen ungefähr 13,5 Mio. Franken):
Kurenai no buta („Porco Rosso“ - Zeichentrickfilm von Jun Miyazaki)
2,8 Milliarden ¥
2. Oroshiya-koku smmutan („Kodayu“ - historischer Abenteuerfilm; Regie: Junya Satö)
1,8 Milliarden ¥
3. Doraemon: nobita tokumo no ōkoku („Doraemon“ - Zeichentrickfilm von Tsutomu Shibaya)
1,6 Milliarden ¥
4. Doragonbōru Z: gekitotsu! („Dragonball Z“ - Zeichentrickfilm von Daisuke Nishio)
1,6 Milliarden ¥
5 Minbō no onna („Violent Woman“ - Spielfilm; Regie: Jūzō Itami)
1,5 Milliarden ¥
6. Tōki rakujitsu („Faraway Sunset“ - Spielfilm; Regie: Seijirō Kamiyama)
1,5 Milliarden ¥
7. Doragonbōru Z: Kyokugen batoru!! („Dragonball Z“ – Zeichentrickfilm von Kazuhito Kikuchi)
1,4 Milliarden ¥
8. Goshira tai kingugidora („Gozilla vs. King Gidora“ - Zeichentrickfilm von Kazuki Ōmori)
1,4 Milliarden ¥
9. Otoko ha tsurai yo: Tora Jirō no kokubaku („Tora-san Confesses“ - Komödie; Regie: Yōji Yamada) und: Tsuribaka nisshi 4 („Free and Easy“ - Komödie; Regie: Fujio Kuriyama)
1,4 Milliarden ¥
10. Hashi no nai kawa („River without Bridge“ - Dokumentarfilm von Yöichi Higashi)
1 Milliarde ¥
Insgesamt zehn japanische Filme haben die Grenze von einer Milliarde Yen durchbrochen; von den ausländischen Produktionen waren es deren neun: Hook von Steven Spielberg an der Spitze mit 23 Milliarden Yen, gefolgt von Alien 3, Basic Instinct, JFK, The Beauty and the Beast, Patriot Games, Hot Shots, L’amant und Lethal Weapon.
Daß die vorderen Ränge auch vier Zeichentrickfilme enthalten (mit Kurenai no buta ganz oben) liegt selbstverständlich daran, daß sie das junge Publikum anzuziehen vermochten. Alle Jahre wieder erscheinen die von Shun Miyazaki gezeichneten Filme, ebenso Doraemon und Gozilla aus dem Hause Tōhō, Doragonball Z von Tōei sowie die von Shōchiku produzierte Doppelserie Otoko ha tsurai yo und Tsuribaka nisshi; sie zählen inzwischen zum Standardrepertoire. Angesichts der Regelmäßigkeit, mit der die Filme von Jūzō Itami einen Skandal provozieren, darf man auch seine Filme schon zum Standardrepertoire zählen. So gesehen bleiben lediglich drei „neue“ Filme. Beachtet man die Konzerne, die hinter der Produktion dieser drei Filme standen (Dentsū bei Oroshiya-koku suimutan, Asahi Television und die Tōkyū-Group bei Tōki rakujitsu und Seiyū bei Hashi no nai kawa), so zeigt sich wieder ein vertrautes Muster: Mit konzentrierter Werbung wird in den Massenmedien das Publikum für bestimmte Filme mobilisiert. Der japanische Film wiederholt, wie es scheint, die immer gleichen Muster seit Jahren, ja seit Jahrzehnten.
Dies ist wohl auch das Image, das der Film inzwischen beim Publikum hat. Kaum erwähnt zu werden braucht, daß die Filmwahl des Publikums und die Vorstellung, die es über „Film“ hat, sich zirkulär zueinander verhalten. Es entsteht eine Vorstellung von Film, die eigentlich früher oder später die Frage überflüssig machen dürfte, ob man ins Kino gehen soll.
Die anhand der Top ten festzustellende Tendenz des Publikums hängt selbstverständlich auch mit der Auflösung des Produktionssystems zusammen. Wenn die herkömmliche Methode der Filmproduktion zur Zeit gefährdet bzw. dem Zusammenbruch nahe ist und zudem die Vorstellungen über „Film“ diffus geworden sind, bleiben wohl zwangsläufig nur noch Zeichentrickfilme und Dauerserien mit ihrer breiten Publikumswirkung übrig, da einzig sie traditionelle Formen bewahren. Vielleicht verhält sich so das Publikum gegenläufig zu den Innovationen der Filmherstellung. Konkret könnte sich das z. B. in der Tatsache äußern, daß nach den ersten zehn Programmfilmen mit über zehn Millionen Yen eingespieltem Umsatz alle weiteren Produktionen tief abfallen. Mittlere Verkaufsschlager gibt es nicht mehr, es würde nur noch eine Defizitproduktion nach der anderen folgen.
Ich möchte hier statt einer Aufstellung von Defiziten lieber eine eigene Liste meiner japanischen Top ten aus demselben Jahr aufzustellen versuchen:
1. Aga ni ikiru („Life in Aga“), Regie: Makoto Satō
2. Itsuka giragira suru hi („The Triple Cross“), Regie: Kinji Fukasaku
3. Shiko funjatta („Sumo School“), Regie: Masayuki Subö
4. Shinde mo ii („Original Sin“), Regie: Takashi Ishii
5. Afureru atsm namida („Hot Tears“), Regie: Hirotaka Tashiro
6. Keishöhai („Keishohai“), Regie: Kazuki Omort
7. Kachō Shima Kōsaku („Shima Kosaku“), Regie: Kichitarō Negishi
8. Jigoku no keibiin („The Guard from Underground“), Regie: Kiyoshi Kurosawa
9. Seishun dendekedekedeke („Noisy Youth“), Regie: Nobuhiko Obayashi
10. Kirakira hikaru („Twinkle“), Regie: Jōji Matsuoka
Als ich diese Titel notiert habe, ist mir klargeworden, wie verschieden und disparat die hier angeführten zehn Filme sind. Jeder einzelne ist nicht nur von seinem Inhalt her anders, auch bezüglich Genre und Herstellungsmethode bestehen keine Gemeinsamkeiten. Die Reihenfolge der Titel ist rein subjektiv entstanden. Eigentlich aber würde sich schon jeder direkte Vergleich verbieten zwischen so unterschiedlichen Werken wie dem Dokumentarfilm Aga ni ikiru, der den Alltag der Bewohner eines Flußbettes liebevoll nachzeichnet, und dem Actionfilm Itsuka giragira suru hi, der wilde Schießereien und Verfolgungsjagden zeigt.
Gewiß gab es schon immer Filme, die sich nicht miteinander vergleichen lassen, und selbst bei Filmen derselben Gattung und derselben Serie ist bei näherer Betrachtung schon häufig unter einer sich gleichenden Oberfläche ein grundverschiedener Ausdruck zum Vorschein gekommen. Heute aber ist die Distanz zwischen den Filmen jenseits dieser Ebene von Nuancen zu suchen. Man gewinnt den Eindruck, daß sich sämtliche Werke eigener Ausdrucksmittel bedienen, so daß man fast zögert, alle der gemeinsamen Kategorie „Film“ zuzurechnen. Anzubieten scheint sich hier die Metapher des Pluralismus, die hier aber eigentlich nicht viel besagt.
Es ist ja vielmehr so, daß die genannten Top ten bezüglich Umsatz den Eindruck von Uniformität entstehen lassen, während die von mir ausgewählten zehn Werke genau den gegenteiligen Eindruck der Disparität erwecken. Die letztgenannten Filme stehen unverwechselbar für die Auflösung jeder einheitlichen Vorstellung von Film, und gerade wegen dieser Auflösung schaffen es die Mainstreamfilme nur noch alle Jahrzehnte, neue Szenen zu erfinden. Dieses seltsame gegenseitige Verhältnis von Mainstream- und Minorityfilm tritt meines Erachtens von Jahr zu Jahr deutlicher hervor.
Die gegenwärtige Situation des japanischen Films kann einzig vor dem Hintergrund dieses gegenseitigen Verhältnisses zu beschreiben versucht werden, anders als die historische Situation um 1927, von der nicht behauptet werden kann, daß einzelne Werke wie z. B. das Chūji tabi nikki völlig verschieden vom Rest der japanischen Filme gewesen wären. Bedenkt man, daß dies ein historischer Schwertkampffilm mit dem wohlvertrauten Chūji Kunisada in der Hauptrolle war, so konnte dieser Film mit seiner so starken Inszenierung vom Publikum nur mit Begeisterung aufgenommen werden. Heute, in den neunziger Jahren, wagt man von einer solchen Situation nicht mal mehr zu träumen.
Um hier noch einmal auf meine Top ten zurückzukommen: Die einzelnen Filme haben keinerlei Gemeinsamkeiten, und jeder für sich ist phantastisch inszeniert. Den in ganz verschiedene Richtungen weisenden Filmen ist allen eine Kraft in der Gestaltung eigen, die über ihr jeweiliges Genre hinausgehen, zuweilen sogar die Kategorie des Films sprengen. Ohne Zweifel ist es diese Energie, die den Weg in die Richtung eines neuen Films weist. Wie Aga ni ikiru in einem Bereich spielt, wo der Unterschied zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm obsolet zu werden scheint, erschließt Itsuka giragira suru hi neue Horizonte des Actionfilms, indem er das Genre der bisherigen japanischen Actionfilme verläßt. Ähnlich verhält es sich mit den übrigen Werken. Von einer konventionellen Einteilung ausgehend, würde man Shiko funjatta und Seishun dendekedekedeke als Jugendfilme, Shinde mo ii, Ajurcru atsui namida wie auch Kirakira suru hi als Spielfilme, Keishōban als Gangsterfilm, Kachō Shima Kōsaku als Salaryman-Film und Jigoku no keibiin als Thriller bezeichnen, aber jedes einzelne Werk transformiert das eigene Genre in ein neues, indem eine hochgradig individuelle Form realisiert wird.
Heute kann es nicht um die simple Rekonstruktion einer verlorengegangenen Form gehen, sondern um die Schaffung neuer Formen. Die pointierte Individualität dieser so unterschiedlichen Werke zeugt von der Intensität dieses Bemühens. Der japanische Film hat den gemeinsamen Boden verlassen. Deshalb die filmische Individualität, die sich zu entfalten beginnt. Eine interessante Wende in der Geschichte des japanischen Films, die es weiter zu verfolgen gilt.
Schon bald hundert Jahre Film. Bereits vor dem Jubiläumsjahr 1995 befindet sich der gesellschaftliche Ort des Films in ständigem Umbruch. Rasant aufgekommen ist die Ausstrahlung von Filmen im Fernsehen, inklusive deren Satellitenübertragung, und auch der Versuch, den größten Teil neu erscheinender Filme noch vor der Kinopremiere über Satelliten auszustrahlen, ist nicht ausgeblieben. Erstaunlich, daß die Leute aus der Filmbranche das Fernbleiben des Publikums vom Kino überhaupt noch beklagen. Auch die Videovermarktung alter und neuer Filme aus Ost und West belebt die aktuelle Vielfalt. Daraus ist dann das neue Medium des ausschließlichen Videofilms entstanden - ganze Filmreihen wie etwa in Japan die von „Tei V-Cmema“. Schon hat aber - Einfluß des Satellitenfernsehens? - die Flucht des Publikums vor dem Video begonnen, was sich als Flaute bei den einst florierenden Video-Rental-Shops ausdrückt. „Tōei V-Cmema“ ist mit Tōru Murakawas Fukushū ha ore ga yaru („The Revenge“) als der ersten amerikanisch-japanischen Video-Koproduktion trotzdem eine Stufe weiter gegangen und hofft auf die Wende im Videogeschäft. Von seiten der auf eigenes Filmmaterial abzielenden Satellitensender hat z. B. der Pay-Channel „WOWOW“ Anfang 1993 den Versuch begonnen, Kurzfilmsenen hauptsächlich von Sōkō Ishn, aber auch von vielen anderen wie Shun Nakahara, Yōichi Sai, Naoto Yamakawa, Shumchi Nagasaki selbst zu produzieren und auszustrahlen.
Auch beim traditionellen Kino scheinen neue Verkaufsstrategien entworfen worden zu sein: Zwar ist das herkömmliche Block-booking-System unter dem Einfluß der Medienkonzerne nicht völlig verschwunden, aber gleichzeitig wimmelt es von Sonderaufführungen in den großen Kinohäusern und in den verschiedensten öffentlichen Gebäuden. Im ganzen Land werden eine bisher ungekannte Anzahl von Filmfestivals eröffnet, die gerade durch ihre je unterschiedliche Größe die Programmvielfalt beleben. Allein im Jahr 1992 machte ich an solchen Sondervorstellungen und Filmfestivals Bekanntschaft mit einer großen Anzahl phantastischer Filme. Beispielsweise der Film Beweg dich nicht, stirb und aufersteh! von Vitari Kanevsky, den ich am Festival des sowjetischen Films in Tokio 1992 gesehen habe, der Film Und das Leben geht weiter von Abbas Kiarostami sowie Werke von Masayuki Makino, Shinsuke Ogawa, Boris Barnet und Ernst Lubitsch.
Diese neue Vielfalt wird die Auflösung der herkömmlichen Vorstellung von Film noch beschleunigen, da sie unsere Sehgewohnheiten radikal verändert und den Film in neue soziale Kontexte stellt. Ich machte solch neue Filmerfahrungen an Festivals, wo Filme von Masahiro Makino, Shinsuke Ogawa u. a., die ich bereits kannte, gezeigt wurden: Die Aufführungen haben meine Vorstellung von Film verändert. Ebenso ist es mir dort mit den Filmen von Kiarostami (Iran) ergangen, und ganz besonders hat mich das schon jahrzehntealte Werk von Bons Barnet aus der Ex-Sowjetunion zum Staunen gebracht.
Kurz vor dem Hundert-Jahr-Jubiläum des Films ist die japanische Filmszene in den Sog vielfältiger und stark individualisierter Trends geraten. Für diese spannenden neuen Trends stehen auch allerneueste Werke wie Ohikoshi („Moving“) von Shinya Sōmai, Ai ni tsuite Tōkyō („Love in Tokyo“) von Mitsuo Yanagimachi oder Sora ga konna ni aoi wake ga nai („The sky can’t be so blue“) von Akira Tsukamoto. Besonders Ohikoshi war ein brillantes, eher international wirkendes Werk, das den Bereich des japanischen Films hinter sich gelassen hat und einen bisher unbekannten Stil erkennen läßt. Die Überwindung örtlicher Bindungen durch den Film fasziniert mich genauso wie die Überwindung zeitlicher Gebundenheit - so, wie es dem sechzigjährigen Chūji tabi nikki mit einer ungebrochenen Lebendigkeit gelungen ist. Bleibt die Frage, inwiefern es der Kritiker seinem Gegenstand gleichtun kann.
Aus dem Japanischen von Simon Adler Für zusätzliche Recherchen danken wir Midori Sagisaka, Tokio