BERNHARD ECHTE

DIESES GRAZIÖSE VORÜBERHUSCHEN DER BEDEUTUNGEN — ROBERT WALSER UND DAS KINO

ESSAY

Vorspiel auf dem Theater

Wenn die Quellen nicht trügen, war es am 18. Februar 1894; da saß der junge Banklehrling R. W., der schon mit 14 Jahren ins Comptoir gekommen war und also durchaus keinen regelmäßigen höheren Bildungsgang durchmachen durfte, im Bieder Stadttheater und sah eine Extra-Vorstellung von Schillers Räubern. Daß er gesessen habe, dürfte zwar übertrieben sein, denn bei den „erhöhten Preisen“ einer Extra-Vorstellung wird es nur zu einem Stehplatz im zweiten Rang gereicht haben. Der Wirkung des Stücks aber tat dies keinen Abbruch, im Gegenteil. Der junge Lehrling ließ sich von der dramatischen Elandlung völlig in Bann schlagen: „Wie herrlich aufregend diese Räuber sind! [...] Wenzel hat gezittert.“ Und: „Von da an ist sein heimlicher Entschluß gefaßt: er will Schauspieler werden.“ (SW 2, 81 /82)1

Wenzel? Der junge Banklehrling hieß in Wirklichkeit Robert Walser, und man darf annehmen, daß auch er vor Erregung gezittert hat. Ein Aquarell seines Bruders, das wenige Wochen später entstand, zeigt ihn jedenfalls, feurigen Blicks, in romantischem Räubergewand. Mochte er als angehender Kommis auch schüchtern und gehemmt wirken - in der Rolle des Karl Moor, die fleißig auf dem Dachboden des elterlichen Hauses geübt wurde, offenbarte sich, welch große und kühne Seele in ihm wohnte. Mit dem Revolver in der Linken und einem Dolch in der Schärpe gab es für ihn nur ein Ziel: das Theater, das Heldenfach.

Bald sah der Dramatische Verein Biel den jungen Theaterenthusiasten als neues Mitglied. Es scheint, man habe ihn dort gut brauchen können - der Wilhelm Teil, den man gerade einstudierte, erforderte „über hundert Mitwirkende“2. Nicht weniger waren es auch bei Klaus Leuenberger, dem vaterländischen Trauerspiel des Bieler Lehrers Arnold Heimann, das anschließend auf dem Programm stand. An Pathos und heroischen Auftritten dürfte es dabei nicht gemangelt haben, doch offenbar war es genau dies, was den jungen Walser am Theater anzog. Und so ließ er es sich nicht nehmen, selbst ein historisches Drama zu schreiben, das den „polnischen Freiheitskampf“ zum Gegenstand hatte. Jammerschade, daß dieses Stück den Lauf der Zeiten nicht überdauert hat - Walser als jugendlicher Stürmer und Dränger, das würde man heute gerne mal lesen.

Item. Das Manuskript teilte das Schicksal von Walsers Theaterambition als ganzer. 1895 in Basel hatte Walser der Zumutung seines Vaters, der ihm den Schauspielunterricht untersagen wollte, noch die Stirn bieten können. Doch wenig später erfolgte ein endgültiges Verdikt. Als Walser einem Schauspieler des Stuttgarter Hoftheaters vorsprach, hieß es nur lakonisch: „Junger Mann, Ihnen fehlt der göttliche Funke.“ Worauf der lässig über eine Ottomane gelagerte Mime indigniert mit dem Fuß wippte, zum Zeichen, daß er nicht weiter molestiert sein wolle.

Spätestens hier dürfte Walser erkannt haben, was Pose ist. Nicht, daß ihm deswegen die Kunst prinzipiell fraglich geworden wäre - man konnte ja schließlich noch aufs Dichten ausweichen (Malerei und Musik waren durch seine Brüder Karl und Ernst schon besetzt). Das Theater aber hatte seinen großartigen Nimbus verloren. Auch wenn es Walser in der Folge immer wieder als Ort traumhafter Verzauberung beschwor, so hat er nie mehr vergessen, daß das Theater Illusionen herstellt. Und da Schadenfreude zu den schönsten zählt, so empfand Walser von nun an ein besonderes Vergnügen, wenn die Illusion durch einen Zufall plötzlich zerbrach.

Nichts schöner, als wenn beispielsweise bei einem Zürcher Lustspielabend ein Student „irgendeinen Witz auf die Bühne“ wirft, worauf sich der Direktor des Boulevard-Theaters zu einer abrupten Unterbrechung seines Spiels veranlaßt sieht, um dem Publikum seine verrohten Sitten vorzuhalten.3 Eine andere Anti-Klimax, die Walser mit Vorliebe erwähnt, sind Pausenverkäufer, die Getränke, Süßigkeiten und dergleichen anbieten. Ganz im Gegensatz zu seiner jugendlichen Theaterbegeisterung scheint Walser mit einmal all jene Umstände geschätzt zu haben, die verhinderten, daß es allzu hoch und pathetisch herging.

In Berlin, wo Walser ab 1905 lebte, war er mit dieser Haltung jedoch an der falschen Adresse. Hier hatte man es am Theater entschieden hoch im Kopf. Warme menschliche Begeisterung war hier ebenso fehl am Platz wie Humor. „Neulich in der Premiere“, schrieb Walser an Christian Morgenstern: „Wie sich da jedes Gesicht lumpig und kalt kennt. Nichts erschauernd und erwärmend Fremdes.“ (Briefe, 50) Und lachen durfte man in diesen Premieren auch nicht, schon gar nicht, wenn es sich um die Uraufführung von Wedekinds Frühlings Erwachen handelte: „Als ich die bekannte Gerichts- oder Lehrerzimmerszene vor Jahren im Reinhardttheater zu Berlin sah, lachte ich wahnsinnig.“ (AdB 1, 34) Schickte sich das? Hätte Walser nicht beispielsweise bei Hauptmanns Versunkener Glocke oder seinen Einsamen Menschen das Ernste und Problemhafte seriöser würdigen sollen? „Alle diese Stücke wie die bewußte ‚Versunkene’ und diese bewußten,Einsamen’“, befand Walser jedoch, „was erzeugen sie anderes als eine Sündflut von Ziererei nach der Seite der Sentimentalität hin. Da ist doch eine Posse weit weniger schädlich.“ (AdB 2, 490)

So ging Walser bald lieber ins Gebrüder Herrenfeld-Theater oder in die Gebirgshallen, wo es lebende Bilder gab mit spaßhaft gemütvollem Kitsch und wo einem die Kellner zwischendurch was Ordentliches vorsetzten. Und dann ging Walser auch ins Kino.

Frühe Kinoerlebnisse

Wann Walser ein erstes Mal mit der Novität des Kinematographen in Berührung kam, weiß man nicht. Ein unlängst im Nachlaß Otto Julius Bierbaums aufgetauchtes Prosastück, das Walser als „Pantomime“ bezeichnete und mit dem Titel Der Schuß versah, läßt es denkbar erscheinen, daß er bereits vor 1902 eine Kinovorführung besucht hat.4 Der Text folgt jedenfalls in Handlung und Dramaturgie den typischen Mustern des Stummfilms. Bis in kleinste Details hinein beschreibt Walser, was der Zuschauer der Pantomime sehen solle, so daß sich der Text fast wie ein Drehbuch in Prosa liest. Wo Walser zu so früher Zeit den Film hätte kennenlernen können, muß indes offenbleiben - vielleicht im neueröffneten Corso-Theater in Zürich oder in Biel, wo der Dampfkarussellbesitzer George Hipleh-Walt ab 1898 mit seinen Vorführungen begann.

Eine Koinzidenz steht jedoch fest: Als Walser im Jahr 1905 nach Berlin zog, eröffnete dort gerade das erste ständige Kinematographentheater. Die Adresse war gediegen: Unter den Linden. Seine eigentliche Verbreitung fand das neue Gewerbe allerdings an anderen Orten: in den Vergnügungsvierteln und proletarischen Quartieren der Stadt. Binnen kurzem existierten dort Dutzende von mehr oder weniger improvisierten Vorführungsstätten. „Die Einrichtung eines Kintopps ist sehr einfach“, schrieb ein pseudonymer Bardolph im Januar 1909 in der Wochenschrift Morgen: „Ein Ladenlokal, das durch Verkleben der Fenster dunkel gemacht ist. Stuhlreihen, die durch angenagelte Latten zusammengehalten werden. Eine Leinwandfläche, die die Bilder aufnimmt. Ein Klavier oder ein Musikautomat und ein Büfett, an dem es Bier und Erfrischungen gibt. Man sitzt eng zusammengedrängt, jedes Plätzchen ist ausgenutzt, jeder Stuhl ist besetzt. An den Wänden stehen diejenigen, die keinen Platz gefunden haben. Die Erwachsenen rauchen, die Kinder jubeln, und der Klavierspieler paukt auf das verstimmte Klavier. In den Pausen werden Erfrischungen rundgereicht. Süßigkeiten, meine Herren! Süßigkeiten, meine Damen!“ und der junge ‚Herr’ von fünfzehn Jahren greift geschmeichelt in sein Portemonnaie und bietet seiner,Dame‘ Eiswaffeln oder überzuckerte Baumnüsse an.“5

Wo sich das Volk ungeniert vergnügte, mußten die Hüter der Kultur natürlich bald Bedenkliches wittern. Schon Anfang 1907 hatte z.B. ein gewisser Dr. Josef Ettlinger im Berliner Tag warnend seine Stimme erhoben: „Scheint es überflüssig, auf die Gefahr solcher volksverrohender, dem niedrigsten Sensationskitzel dienenden Schaustellungen hinzuweisen? Soll der Kampf gegen die Pest des Hintertreppenromans umsonst geführt sein und der Teufel, den man durch die eine Tür hinaustreibt, als Beelzebub durch eine andere wieder eindringen? Solche Bundesgenossen in der Volkserziehung haben uns wirklich gerade noch gefehlt, und alle, die an dieser Aufgabe irgendwie interessiert sind, sollten beizeiten ihr Augenmerk auf diesen um sich greifenden Unfug richten.“6 Was ließ den selbsternannten Herrn Doktor Volkserzieher dermaßen dramatisch die Stirn runzeln? Da war zum einen die „Sucht nach neuen Reizungen“, denen der Kientopp Vorschub leiste, zum anderen aber der ungebremste Durchbruch von Phantasien und Phantasmen. Grausamkeiten und Verbrechen niederster Art stachelten die Schaulust des Publikums an; schamloseste Nacktheiten seien beinahe allerorten zu sehen, ja, er habe letzthin sogar gelesen, „daß in den Kinematographentheatern bereits eine gynäkologische Operation in aller Naturtreue vorgeführt werde“.

„’Bier, wurstbelegte Brötchen, Schokolade, Salzstangen, Apfelsinen gefällig, meine Herrschaften!’ ruft jetzt in der Zwischenpause der Kellner.“ Der ehemalige Handelsbeflissene R. W, der weder eine regelmäßige höhere Bildung noch vertiefte Volkserziehung hatte über sich ergehen lassen müssen, genehmigte sich eine Erfrischung. Gerade hatte auf der Leinwand ein wunderbar schurkischer Schurke teuflische Pläne gefaßt, so daß man, genüßlich knabbernd, allerhand dramatischen Verwicklungen entgegensehen konnte. Ah, da ging es auch schon weiter: Ein edler Graf muß erleben, wie ihn sein absolut unedler Kammerdiener mit einer „sinnberaubenden Flüssigkeit“ ins Reich der Träume schickt. Flugs und unter dämonischem Augenrollen werden dem bedauernswerten Opfer Hände und Beine gefesselt. „Im nächsten Augenblick hat der Räuber den Geldbrief an sich gerissen und der arme Herr wird in den Koffer geworfen, worauf der Deckel zugeklappt wird.“ Gerade will sich der gebannte Zuschauer das Schmachten des Aristokraten so recht zu Herzen gehen lassen, da ist eine neue Erfrischungsrunde fällig. Die „anwesenden Vorstadtherrschaften“ greifen munter zu. „Zuletzt endet alles gut. Der Diener wird von Detektivfäusten gepackt und der Graf kehrt mit seinen Zweimalhundert - tausend Mark glücklich, obgleich unwahrscheinlich, wieder nach Hause.“ (SW 3, 54/55)

Ein zweiseitiges Manuskript

Auch der Schriftsteller Robert Walser kehrte daraufhin zufrieden nach Hause, setzte sich hin und verfaßte ein launiges Feuilleton mit dem Titel Kino. Den fertigen Text schickte er gewissermaßen an die Konkurrenz, an die Schaubühne nämlich, für die er sonst Theaterthemen glossierte.7 Das Prosastück wurde dort am 25. Mai 1912 gedruckt, d. h. zu einer Zeit, da die Theaterdirektoren des Deutschen Bühnenvereins beschlossen, den Schauspielern aller Mitgliedstheater die Teilnahme an Filmaufnahmen zu untersagen. Bezog Walser in diesem Streit irgendwie Position? Das Kino-Feuilleton ließ diesbezüglich keine eindeutigen Rückschlüsse zu. Genaue Leser der Schaubühne mochten sich allenfalls an Walsers Texte Gebirgshallen und Lebendes Bild erinnert fühlen, in denen sich Walser vergleichbar volkstümlichen Vergnügungsstätten ebenfalls zugetan gezeigt hatte.

Der Zufall wollte es, daß 80 Jahre nach dem Erstdruck das Manuskript von Kino wieder auftauchte. William Piasio, der passionierte Bieler Kinosammler, griff geistesgegenwärtig zu und konnte das rare Stück für die Cinecollection des Bieler Museums Neuhaus erwerben. Der Kauf erwies sich als ein besonderer: Rückseitig hatte Walser einen zweiten Text notiert, der, weil durchstrichen, ungedruckt geblieben war. Auf wen diese Streichung zurückgeht, auf Siegfried Jacobsohn oder Walser selbst, ist heute schwer zu entscheiden. Einfacher läßt sich nachvollziehen, warum der Text nicht publiziert wurde: Seine polemische Note war selbst für damalige Verhältnisse pikant und berührte die persönliche Sphäre einiger Zelebritäten. So etwas druckte nur, wer sich mutwillig Feinde schaffen wollte. Daß Walser dergleichen einmal geschrieben hat, erstaunt heute selbst den Fachmann. Und was war da Seltsames über das Kino zu lesen? Eher also zum ersten Mal:

Rundschau

von ROBERT WALSER

Auch Dauthendey ist jetzt zum Schauspiel übergegangen und trägt, so scheint es, so manches zur Bereicherung der Schaubühne bei. Ich war neulich im Kintopp, und ich muß gestehen, es war grauenhaft. Ich will nie wieder an solch einen Ort der Lüge und des Hirngespinstes hingehen. Der Kino erscheint mir wie die Pest der Jetztzeit. Der große Hauptmann schreibt jetzt Romane, die die Zeitungen, welche die Welt bedeuten, bereitwilligst in ihre breiten und schmalen Spalten aufnehmen. Von Kyser, dem tapferen Angreifer von unhaltbaren Zuständen, ist neulich viel die Rede gewesen. Kyser nehme sich in acht. Er läuft zu viel in Gesellschaft. Wer sich an Sekt, Austern und Trüffeln gewöhnt, dem geht frühzeitig das Feuer der Seele verloren. Und Hofmannsthal? Mit welcher neuen und unerhörten Granatenbombe ist er beschäftigt? Wedekind hält sich scheinbar hübsch still. Das wird ihm nur zum Vorteil gereichen können. Die Kleistenfeier nebst anhängender diesbezüglicher Stiftung ist auch wieder vorüber. Duelliert euch doch lieber, als so dumm für aufkeimende allfällige Talente sorgen zu wollen. Die kommen am besten vorwärts, wenn ihr euch nicht um sie bekümmert. O daß ein Gott dem deutschen Reich seine Milliarden raubte. Es denkt alles nur an Fütterung. Als Kyser seinen berühmten Stiftungsaufsatz schrieb, dachte er an was? An Futter! Entsetzenerregende Zustände. Doch es kann ja nach und nach besser werden. Loerke macht wahrscheinlich auch sein Drama im Stillen. Es macht heute alles, was eine Feder hinter dem Ohr hat, Dramen. Nur Hesse nicht, der Gute! Schnitzler? Doch es will mir kein schlechter Witz auf Schnitzler einfallen, als höchstens, daß ich schon seit längster Zeit kein Schnitzel mehr gegessen habe. Ich esse in letzter Zeit sehr oft dicke Erbsen, Pökelkamm und Sauerkohl. Sternheim haben sie auch wieder absagen müssen, die Schurken. Einen greulichen, haaremporsträubenden denkbar plumpen Erfolg hatte Freksa mit seinem Ding. Ein solcher gewissermaßen schmählicher Allerweltserfolg ist zu beklagen. Ein so netter guter Junge mit harmlosen roten Wangen. Ja ja. O mon dieu.

Da gäbe es natürlich einiges zu erläutern. Wer weiß schließlich noch, wer der Schriftsteller Hans Kyser (1882-1940) war und was es mit seinen damaligen Angriffen gegen die Kleist-Stiftung auf sich hatte. Oder wem ist Friedrich Freksa (1882-1955) und sein Stück Sumurûn noch ein Begriff, das bei seiner Uraufführung durch Max Reinhardt (24.4.1910) einen Sensationserfolg auslöste? Interessant auch, daß Walser offenbar genau über Loerkes geheime Bemühungen im Bilde war, aus der „Geschichte vom Oger“ ein Drama zu machen.8 Aber eben, es machte ja sowieso alles Dramen. Der eine erziehe mit „seinem Ding“ einen „haaremporsträubenden Allerweltserfolg“, der andere konterte mit einer „Granatenbombe“. Die hohe Kunst der Bühne - herabgekommen zu einem Markt der Sensationen. Doch statt den verlorengegangenen Kunstcharakter des Theaters einzugestehen, schimpfte man lieber auf das Kino, die „Pest der Jetztzeit“.

Es ist offensichtlich, daß Walser diese Schmähung ironisch zitiert. Auch seine schülerhaft brave Versicherung, er werde „nie wieder an solch einen Ort der Lüge und des Hirngespinstes hingehen“, ist purer Hohn. Natürlich ging er wieder hin, oft sogar und anscheinend lieber als ins Theater, die Stätte seiner Jugendpassion. Daß das Kino ein „Ort der Lüge“ sein sollte, war ihm nämlich gerade recht. Genau daran fehlte es doch seiner Meinung nach im Theater. 1907 hatte er bereits gefordert: Lüge auf die Bühne (SW 15, 34/35). Dieser ganze Realismus und Naturalismus, dieses Problemhafte und Aufklärerische - was bewirkte das denn? „Die Bühne übt, wenn sie Wahrheiten ausklopft, einen verschüchternden Einfluß aus“, meinte Walser.

„Wenn sie aber, was sie etwa früher noch ein bißchen getan hat, goldene ideale Lügen in großer unnatürlich-schöner Form ausspinnt, so wirkt sie aufreizend und ermunternd und fördert wiederum die schönen, krassen Gemeinheiten des Lebens. Man ist dann eben im Theater gewesen und hat sich an einer fremden, edeln, schönen, sanften Welt berauscht. Gebt acht mit euern ungezügelten Naturstücken, daß das Leben nicht eines Tages versickert. Ich bin für ein Lügentheater, Gott helfe mir.“ (SW 15, 35)

Wenn die Sache mit der „fremden, edeln, schönen, sanften Welt“ ab und zu ein bißchen kitschig rauskam, war das im übrigen kein Beinbruch. Walser wünschte sich schließlich keine Illusion, sondern Lüge, d. h. eine Illusion, die er gleichzeitig teilen und durchschauen konnte. Phantasieren und träumen wollte er, bezaubert werden und seinen Sehnsüchten nachhängen - und über all das womöglich lachen. Gab’s das in einem intellektualistisch-prätentiösen Hauptstadttheater? Selten, sehr selten. Und in einem Kino? Na, aber gerne doch, treten Sie näher, mein Herr.

Die Filme und das Schreiben

Man darf annehmen, daß schon in Berlin aus Walser ein regelmäßiger Kinogänger geworden war. Berichtet hat er über seine Eindrücke zwar relativ spärlich, doch entsprach dies seinen damaligen Schreibgewohnheiten. Auch über Café concerts, Varietés und Vergnügungslokale hat er in jener Zeit nur je ein oder zwei Prosastücke geschrieben, obwohl er die entsprechenden Etablissements oft besuchte. Noch während Walsers Bieler Zeit änderte sich daran wenig. Immerhin läßt das Prosastück Das Kind (II) durchblicken, daß Walser „häufig“ ins Kino ging. Dieses Wort findet sich gleich zu Beginn des Textes: „In den Kinostücken, die ich sah, trat häufig ein Kind als Hauptperson auf.“ (SW 16, 172). Die entsprechenden Filme waren jeweils von herzberückender Sentimentalität, doch nur in den seltensten Fällen wurde Walser „die Kinderei [...] etwas zu dick“ (SW 16, 172). Meist erschienen ihm die Streifen reizend, rührend, ja ergreifend, und einer davon (der sich heute leider nicht mehr identifizieren läßt) hatte es ihm besonders angetan. Er handelte von einer Ehefrau, die sich Kinder wünscht und wegen des Ausbleibens derselben an ihrem Manne zweifelt. Dieser entkräftet ihre Zweifel auf unvorhergesehene Weise, indem er eines Tages mit dem „Resultat seines Fleißes, vielmehr Fehltrittes auf dem Arm“ nach Hause kommt. Die Mutter des Kindes sei soeben gestorben, läßt er zerknirscht verlauten. „Zuletzt aber endet alles gut“, da das Kind mit seinen flehenden Äuglein das empörte Gattinnenherz zum Schmelzen bringt. „Das Stück mit dem Kind auf dem Arm“, resümiert Walser, „machte mir tiefen Eindruck und ist mir daher unvergeßlich geblieben, indem es sich mir unauslöschlich in das sonst so flatterhafte Gedächtnis einprägte.“ (SW 16,173)

Auch wenn der letzte Halbsatz ohne Zweifel ironisch klingt, so wird damit keineswegs signalisiert, daß eigentlich das Gegenteil des vorher Gesagten gemeint sei. Die Gemütswerte des Kitsches, die kollektiven Sehnsüchte, die sich in ihm artikulierten, hat Walser keineswegs geringgeschätzt. Ja, er gab sich diesen Sehnsüchten um so unbefangener hin, als er wußte, mit welchen Mitteln sie wachgerufen und befriedigt wurden. Ab und zu aber drohte ihm dies Vermögen zur Distanz verlorenzugehen: „Ich fürchtete mich vor dem Kinokind stets ein wenig, weil ich besorgte, daß ich seinetwegen kindisch werden könnte.“ (SW 16,172)

Diese Besorgnis hat Walser in den zwanziger Jahren schließlich abgelegt. Als er im Februar 1925 den Jackie-Coogan-Film Long Live the King sah, insistierte er in einem Prosastück auf der suggestiven Wirkung, die der kleine Hauptdarsteller auf ihn ausübte: „Das laß ich mir aber nicht auch nehmen!“ hob Walser ironisch-trotzig an. „Nachgerade wurde mir doch schon beinah allzu viel untersagt. Ich sah den Coogan, diesen Stern am Filmhimmel, und seitdem ich ihn sah, imitiere ich ihn, wo mir das passend vorkommt. [...] Coogan zu spielen bleibt für mich ein Genuß, den ich ersuchen möchte, mir zu gönnen.“ (AdB 1, 271) Auf die Vermischung von Realität und Fiktion reagierte Walsers Umgebung mit deutlichem Befremden. Um so besser, scheint sich Walser gedacht zu haben, und gewann aus diesen Verwicklungen gleich ein neues Prosastück.

Zu allem Vergnügen erwies sich das Kino demnach auch als direkter oder indirekter Stofflieferant, ein Umstand, welcher in der Berner Zeit nicht ganz unwichtig war. Denn ab 1924 trat das Walsersche Prosastück in das Zeitalter seiner Massenproduktion; rund vierzig Prozent des gesamten erhalten gebliebenen Werks hat Walser in den folgenden fünf Jahren geschaffen.

In den Winterhalbjahren dürfte Walser mindestens einmal pro Woche ins Kino gegangen sein, und die meisten Streifen, die er sah, nahm er zum Anlaß für einen neuen Text. Nur selten ist der Bezug allerdings so explizit wie im Falle des Prosastücks Über einen Film (SW 17, 48-52), das die Kinoadaption von Selma Lagerlöfs Roman Gösta Berling zum Thema hat. Andere Texte, die erklärtermaßen auf einen Film zurückgehen, sind: Napoleon und die Gräfin Walewska (SW 17, 52-54), Gräfin Maritza (SW 18, 313-316), Burschen (SW 19, 430-432). In Mikrogramm-Entwürfen beschäftigt sich Walser u. a. mit Ernst Lubitschs 1919 entstandenem Dubarry-Film (AdB 1, 269), mit Rochus dieses Mutter, dein Kind ruft von 1923 (AdB 4, 257-261), mit Scaramouche (1923) von Rex Ingram (AdB 1, 275-277) und zweimal mit der genannten Coogan-Produktion (AdB 1, 271-273 und 273-275). Darüber hinaus werden in verschiedenen Prosastücken beiläufig Filmtitel erwähnt, so z.B. in Wissen und Leben (SW 19, 79; vgl. dazu auch AdB 4, 467).

An anderer Stelle hat Walser seine Quellen hingegen nicht offengelegt, so daß die Texte später in aufschlußreicher Weise in einen anderen Kontext gerieten. So hat Jochen Greven, der Herausgeber des Gesamtwerks, beispielsweise das Erzherzogs-Prosastück unter die Texte eingereiht, die mutmaßlich auf eine Trivialromanvorlage zurückgehen (vgl. SW 19, 372/373). Die Einordnung ist in keiner Weise abwegig, obwohl die Skizze in Wahrheit auf dem Film Der fesche Erzherzog basiert, der Ende Juli 1927 in Bern gezeigt worden war.

Tatsächlich hat Walser Filme und Trivialromanheftchen auf ganz ähnliche Weise ausgebeutet. Bei letzteren hatte er es sich zeitweise, wie er sich audrückte, zur „eigentlich ein bißchen komischen Gewohnheit gemacht, erstens solche Bücherchen sehr eifrig zu lesen und zu studieren, um unmittelbar darauf aus dem Gelesenen eine eigene Erfahrung, d.h. irgendwelches Possierliches, Witziges, Selbstisches, Vergnügtes, Tändelndes herauszuholen“ (SW 18, 75/76). Mit Filmen ist Walser während seiner Berner Zeit in der gleichen Weise verfahren, wobei die besagte Gewohnheit vielleicht nur insofern „komisch“ war, als er die Kinovorführungen (bzw. die triviale Lektüre) uneingeschränkt genoß. Ja, man kann womöglich sagen, daß er sie fast so hingebungsvoll erlebte wie seinerzeit, als er ein jugendlicher Theaterenthusiast gewesen war. Wenn er dann am Schreibtisch saß, brach sich allerdings jene Lust an der ironischen Anti-Klimax in ihm Bahn, mit der er Pose und Pathos einstmals zu unterlaufen gelernt hatte. So sind seine Kinotexte gleichermaßen Dokumente einer fast kindlich unmittelbaren Begeisterung wie einer kritisch-artistischen Belustigung. Konnte einem das Theater vergleichbare Anregungen bieten?

„Ich werde vielleicht“, bekannte Walser im Januar 1927, „nur ein einziges Mal während der gesamten laufenden Saison ins Theater gegangen sein, wenn sie zu Ende ist und der Frühling samt seinen Liebenswürdigkeiten herannaht.“ (SW 19, 113) Auch Moissis Gastspielauftritt in Bern wollte er (und hat er dann auch) unbesucht vorbeistreichen lassen. „Wahr ist, ich geh’ nicht häufig ins Theater“, heißt es an anderer Stelle (SW 18, 159). Warum? „Die meisten Menschen wünschen bezaubert zu werden“, lautet Walsers Antwort (SW 18, 120). Das Schauspiel aber „läßt an Beziehungen zu der Zeit, worin wir leben, zu wünschen übrig. Man führt Dichtungen auf, die längst heruntergespielt sind.“ (SW 18,159) Bezauberte so etwas? Nein. Umsonst wartete das Theater also darauf, Walser würde vielleicht „zu bewegen sein, ihm vor dem Kino den Vorzug zu geben“ (SW 19,114).

Filmvorführungen dagegen waren für Walser sehr wohl „zu bezaubern imstande“, und zwar „hauptsächlich um ihrer Weltgeschichtlichkeit willen“. Was er damit meinte? „Ich verstehe hierunter etwas Distanziertes, Abgetöntes, und dann berührt mich die Technik im Kino als etwas ungemein Einnehmendes, und dann die Schnelligkeit, dieses graziöse Vorüberhuschen der Bedeutungen.“ (SW 19, 114) Schnell, leicht und kurzweilig war der Stummfilm. Auch wenn seine Inhalte häufig sentimental anmuteten, für seine Technik galt dies nicht. Variable Perspektiven, direkte Schnitte, plötzliche Überblendungen vermittelten Spontaneität und Lebendigkeit, ließen aber gleichzeitig erkennen, daß die gezeigte Wirklichkeit eine hergestellte war. All diese Techniken hat denn auch Walser beim Schreiben eingesetzt, und womöglich hat eben das, was ihn am frühen Kino so angenehm berührte, in seinen Texten die eigentliche Vollendung gefunden: das graziöse Huschen der Bedeutungen - die gerade dadurch Bedeutungen blieben.

Robert Walsers Texte werden in der Folge zitiert nach der Ausgabe, Sämtliche Werke in Einzelausgaben (SW). 20 Bdc. big. v. Jochen Greven. Frankfurt/Main 1985/86, nach der Edition, Aus dem Bleistiftgebiet (AdB). 4 Bde. Hg. v. Bernhard Echte u. Werner Morlang. Frankfurt/Main 1985-90, und nach den Briefen, hg. v. Jörg Schäfer. Frankfurt/Main 1979.

Zwischen dem 26. März und dem 15. April 1894 fanden insgesamt zehn Tell-Aufführungen des Vereins in Biel statt.

Vgl. SW 2, 53/54.

Der Wortlaut des Manuskripts, das die Stadtbibliothek München verwahrt, wird demnächst von Herrn Kurt Ifkovits publiziert.

Bardolph, „Im Kintopp“, in: Morgen, Jg. 3 (1909), Nr. 2 (8. Januar), S. 76.

Josef Ettlinger, „Kinematographie“, in: Der Tag (Ausgabe A), Nr. 38 vom 22.1.1907.

Er tat dies manchmal auch, obwohl er die entsprechenden Aufführungen gar nicht besucht hatte; siehe Walsers Brief an den Kleist-Herausgeber Georg Minde-Pouet vom 19.9.1920 (Deutsches Literaturarchiv, Marbach). Bezüglich seines Textes Prosaskizze schreibt Walser darin: „Gewiß führte damals Max Reinhardt im Deutschen Theater den Prinzen von Homburg mit Friedrich Kayssler in der Titelrolle auf. Ich habe aber die Vorstellung nicht gesehen; es ist mir bloß davon mancherlei berichtet worden, so daß ich wohl vom Anhören etwas inspiriert gewesen sein mag.“

Vgl. dazu Oskar Loerke, Tagebücher 1903-1939. Heidelberg/Darmstadt 1956, S. 55. Der Oger erschien dann erst 1921 als Roman.

Bernhard Echte
geb. 1958, ist Mitarbeiter des Robert-Walser-Archivs in Zürich und Mitherausgeber von Robert Walsers Mikrogrammen (Bd. 1-4, Frankfurt am Main 1985-1990), edierte außerdem u. a. Friedrich Glauser, Hugo Ball.
(Stand: 2019)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]