ELISABETH BRONFEN

BILDER, DIE TÖTEN - TOD IM BILD — GEDANKEN ZU MICHAEL POWELLS PEEPING TOM

ESSAY

„Für das Auge pflegen wir die dunkeln psychischen Vorgänge bei der Verdrängung der sexuellen Schaulust und bei der Entstehung der psychogenen Sehstörung so zu übersetzen, als erhöbe sich in dem Individuum eine strafende Stimme, welche sagte: ‚Weil du dein Sehorgan zu böser Sinneslust mißbrauchen wolltest, geschieht es dir ganz recht, wenn du überhaupt nichts mehr siehst“, und die so den Ausgang des Prozesses billigte. Es liegt dann die Idee der Talion darin, und unsere Erklärung der psychogenen Sehstörung ist eigentlich mit jener zusammengefallen, die von der Sage, dem Mythus, der Legende dargeboten wird. In der schönen Sage von der Lady Godiva verbergen sich alle Einwohner des Städtchens hinter ihren verschlossenen Fenstern, um der Dame die Aufgabe, bei hellem Tageslichte nackt durch die Straßen zu reiten, zu erleichtern. Der einzige, der durch die Fensterläden nach der entblößten Schönheit späht, wird gestraft, indem er erblindet.“

- Sigmund Freud (1910)

In der klassischen Tiefenpsychologie wird die Scoptophilie, d. h. die sexuelle Stimulation oder Befriedigung durch Schauen oder Entblößen, als eine der Grundperversionen eingestuft. Sie stellt eine Abweichung vom sogenannten normalen Sexualakt dar, d.h. „dem Koitus mit einer Person des entgegengesetzten Geschlechts mit dem Ziel, durch genitales Eindringen zum Orgasmus zu kommen“ (Laplanche/Pontalis 1972, 378). Ganz im Sinne der Lehre Sigmund Freuds beschreibt der an einen der Mordschauplätze gerufene Psychoanalytiker in Michael Powells Film Peeping Tom (1960) diese im Voyeurismus enthaltene Verkehrung des ‚normalen’ sexuellen Begehrens demzufolge auch als „the morbid urge to gaze“. Verdreht am peeping Tom, der in der alten englischen Legende für seine Schaulust mit Blindheit bestraft wird, ist die Tatsache, daß sein Blick auf einer intermediären Relation zum Sexualobjekt verweilt, daß das Schauen, „was auf dem Wege zum endgültigen Sexualziel rasch durchschritten werden soll“, zum Sexualziel gemacht und aus ihm ausschließlich die sexuelle Lust gewonnen wird. Freud unterscheidet jedoch zwischen einem Verweilen bei dem intermediären Sexualziel, dem sexuell betonten Schauen, das den Menschen die Möglichkeit bietet, „einen gewissen Betrag ihrer Libido auf höhere künstlerische Ziele zu richten“, und der Perversion des Blickens. (Freud 1905, 55/56) Letzterer ist eigen, sich ausschließlich auf einen Körperteil zu beschränken, mit der Überwindung des Ekels verbunden zu sein und vor allem das normale Sexualziel, anstatt es vorzubereiten, zu verdrängen. Bei der Schau- und Exhibitionslust entspricht das Auge einer erogenen Zone, welche als Nebenapparat und Surrogat der Genitalien hervortritt. Das Schauen löst das Tasten ab, verselbständigt sich regelrecht und führt zu einer verkehrten Form der Penetration des oder der anderen; in Powells Peeping Tom zu einer Penetration durch den Blick oder/und durch das Messer statt durch das männliche Glied.

Apodiktisch gesagt, Perversion entsteht, wenn „Gelüste sich ganz wie sexuelle gebärden, aber dabei von den Geschlechtsteilen oder deren normaler Verwendung ganz absehen“ (Freud 1940, 74). Dieser Definition fügt Freud jedoch hinzu, daß das Streben, zu schauen und beschaut zu werden, in zweifacher Ausbildung vorhanden ist, in aktiver, sadistischer (männlicher) und in passiver, masochistischer (weiblicher) Form, „von welch ersterer später die Wißbegierde abzweigt, wie von letzterer der Drang zur künstlerischen und schauspielerischen Schaustellung“ (Freud 1909, 46).

Der selbstgenügsame Blick: Hure, Pin-up, Stand-in

Gerade diese von Freud herausgearbeitete Vernetzung zwischen dem Schautrieb und dem Trieb zur Grausamkeit bildet das Gesamtmuster für Michael Powells Geschichte des focus pullers Mark, der darunter leidet, daß er alles, was er sieht, auch filmen muß und somit die Welt entweder durch die vermittelnde Instanz seines Suchers wahrnimmt oder als kinematographische Duplikation auf seiner privaten Feinwand. Die Fatalität dieses Leidens jedoch hegt darin, daß er an einem Dokumentarfilm über die Todesangst arbeitet, dessen Anschauungsmaterial zuerst drei schöne, sich dem Blick des Voyeurs willig anbietende Frauen sind, bis er zuletzt sein Gesamtkunstwerk nur durch das Hinzufügen seines eigenen sterbenden Körpers vervollständigen kann. Denn indem Mark versucht, den Tod durch das Photographieren weiblicher Gesichter, die von Todesangst geprägt sind, im Bild einzufangen, nimmt er das Klischee, daß Blicke töten können, wörtlich. Er lebt eine ganz besondere Variante der Schaulust: nicht den herkömmlichen Drang, die weibliche Person, auf die er sein verdrehtes sexuelles Begehren gerichtet hat, nackt zu sehen (Freud 1909a, 388), wie etwa auf den views, den Pornobildern, die er im oberen Geschoß eines Tabakladens, wo sie dann heimlich vertrieben werden, herstellt. Seine perverse, mit Ekel und einer Art Enthüllung verbundene Phantasie besteht darin, durch das Sexuelle hindurch den Schrecken des Todes, wie ihn jeder und jede in sich trägt, zu betrachten. Diesen Einblick in den tiefsten Grund der menschlichen Existenz sucht er als Anblick, als view. Der für jeden Lebenden immer nur erahnbaren Todesangst versucht er Schärfe zu verleihen, eben eine perverse, eine verdrehte Art des focus pulling.

Einem seiner Opfer, der Statistin Vivian, erzählt er das Szenario, das er sich für sein Dokumentationsprojekt ausgedacht hat, um sie in die richtige Stimmung zu versetzen für die Rolle, die sie darin zu spielen hat: „Imagine a man coming towards you, who wants to kill you regardless of consequences [...] a mad man but he knows it and you don’t and just to kill you isn’t enough for him.“ Daraufhin zeigt er ihr, daß sich in einem Bein seines Stativs ein Messer verbirgt, und ergänzt, „but there is something eise“. Dieses something else, diesen Mehrwert, der erst das spezifisch Perverse an Marks Dokumentationsprojekt ausmacht, kann er Vivian nur zeigen. In Worte fassen kann er diesen verkehrten Zusatz erst für die Frau, die er statt seiner Kamera lieben könnte. Auf ihr Drängen, eine Antwort für die Schreckbilder, die sie auf der Leinwand seines privaten Kinos gesehen hat, zu erhalten, erklärt er Helen folgendes: „Do you know what the most frightening thing in the world is? It’s fear. So I did something very simple.“ Er zeigt ihr den Spiegel, der neben der Kamera befestigt werden kann, und fügt hinzu: „When they felt the spike touching their throat and knew I was going to kill them, I made them watch their own deaths. I made them see their own terror as the spike went in. And if death has a face, they saw that too.“ (Abb. 1)

Marks ganz spezifische Perversion besteht also nicht nur in dem Verweilen auf dem Blick, in seiner Sexualisierung des Blickes. Auch bezieht sie sich nicht allein auf die Transformation von Blicken in Töten. Sie enthält vor allem die Hinzufügung eines Blickwechsels, wo die Mordopfer sich selbst beim Sterben betrachten müssen. Die schönen Frauen, die sich willig dem Blick des Voyeurs angeboten haben, werden selbst in die Position des Voyeurs gezwungen. Die Figur des Voyeurismus kollabiert hier, denn die Betrachtung des anderen als Selbst und des Selbst als anderen fallen zusammen. Selbstreflexiv hinterfragt jedoch Powell somit auch die eigene Tätigkeit als Filmemacher. Denn per Implikation sind er und seine Zuschauer in einem zumindest im übertragenen Sinne ähnlich perversen Blickwechsel eingefangen. Für jeden Akt des Filmes, so Powells selbstkritische Botschaft, kommt der Tod ins Spiel. Denn der dargestellte Körper wird eingerahmt, zum entlebten Körper, der als abwesender durch den Ersatz des Bildes wieder anwesend wird.

Am Anfang des Filmes sehen wir ein geschlossenes Auge, das sich plötzlich vor Entsetzen öffnet, dann eine Prostituierte, die vor einem Schaufenster steht und auf den nächsten Kunden wartet. Ein Mann geht auf sie zu, während er sie filmt. Die Kamera ist verborgen, über der Hüfte unter seinem Mantel versteckt. Wir sehen von nun an die Prostituierte nur noch als auserwähltes Objekt seines Blickes, genauer, nur noch durch einen vermittelten Blick, nämlich durch den Sucher seiner Kamera. Das Blickfeld, in dem die Frau somit im übertragenen Sinne eingefangen, entleibt wird, ist zudem durch ein schwarzes Kreuz strukturiert. Die Kamera wählt den Ausschnitt, die Ferne, das Detail; mal den Rücken, den Po, die Beine, die Füße, mal das Gesicht. Doch sie läßt die Frau nicht mehr entkommen. Die Frau ist bereits auf dem Kreuz des Suchers festgenagelt, während sie sich noch zu bewegen scheint, die Straße entlang schlendert, die Treppe empor in ihr Zimmer im oberen Stockwerk steigt.

Dieses Blicken, mit dem wir von Beginn an Komplizen sind, ist jedoch nicht das desinteressierte Blicken des Cineasten. Die eingefangene Frau - dies stellt sich erst später heraus - ist Teil einer Dokumentation, die selbstreflexiv auf ihr eigenes Verfahren verweist. Durch den Sucher sehen wir, wie der Mann sein perverses Handeln dadurch kommentiert, daß er das Wegwerfen der Filmhülle mit im Filmbild einfängt. Dies stellt eine Brechung der herkömmlichen Kameraführung dar, die nach traditionellem Verständnis so wenig als möglich auf sich selbst aufmerksam machen soll. (Bordwell/Thompson 1979) Die Frau gibt sich dem Blick des Kunden bewußt hin, entkleidet sich, legt sich auf das Bett. Ihr Körper wird explizit als Ware für den Kunden inszeniert. Was diese Frau jedoch nicht weiß, ist, daß sie sich zusätzlich dem Blick des filmenden Perversen anbietet. Ein kleiner Zusatz - das ominöse something else - taucht plötzlich in der Gestalt einer Lichtreflexion über ihrem Kopf auf. Sie blickt nun nicht mehr von der Routine ihres Geschäftes gelangweilt, sondern entsetzt. Die Kamera mit ihrem tödlichen Zusatzbehör - dem für den Zuschauer noch verborgenen Messer und dem Spiegel - nähert sich ihr. Die Verkehrung der sexuellen Penetration endet im Schrei. Wir sehen ein von Entsetzen verzerrtes Gesicht. (Abb. 2)

Die konventionelle Tauschsituation hat sich gewandelt. Die Prostituierte beherrscht den Blick des Kunden nicht mehr, er beherrscht sic. Blicken ist nun ganz wörtlich zum Akt des Besitznehmens geworden. Wir als Zuschauer sind ebenso beengt wie die betrachtete Frau, ebenso auf das Blickfeld des Suchers reduziert. Auf den Schnitt, der immer erfolgt, bevor das Messerstativ den Hals der Frauen penetriert, so daß in diesem Schnitt das Nichtzeigbare - der Tod und die Todesangst - stattfindet und somit gerade als Ellipse zum Ausdruck kommt, folgt eine Wiederholung der Szene, vom Blickfeld ähnlich begrenzt. Während die Titel des Vorspanns ablaufen, sehen wir den Filmemacher Mark, der sich die vorhergehende Szene auf der Leinwand seines privaten Kinos ansieht, nun ohne das Kreuz im Sucher. (Abb. 3) Die Mordszene wirkt deshalb noch weniger unmittelbar, und gleichzeitig macht sie ein unheimliches Paradox sichtbar: Auf den ganz wörtlich tötenden Blick der Kamera folgt eine Wiederauferstehung der Toten. Auf der Leinwand lebt die ermordete Prostituierte, um sich als Filmfigur auf endlos wiederholbare Weise vor dem Blick des Kunden zu entkleiden, vor plötzlichem Entsetzen aufzuschreien und zu sterben. Der dargestellte Tod ist ein doppelter - darin liegt die Dekonstruktion des Films. Die Hure ist im übertragenen Sinne tot, weil sie körperlich abwesend nur als Bild anwesend ist; im realen Sinne tot, weil sie von dem Zusatz an der Kamera erdolcht wurde. Demzufolge läuft das Wechselspiel von Blicken und Töten auf folgende Weise ab: Ein Sehen, das im übertragenen Sinne die Angeblickte tötet, weil es sie zur Ware macht, führt zum wirklichen Tod, wird wiederum von einem Sehen abgelöst, das von diesem realen Tod ausgeht und ihn in einem endlosen Spiel der Doppelungen auffängt.

Diese erste mörderische Filmsequenz endet mit einer Auflösung. Mark filmt, wie die Leiche der Hure aus dem Haus getragen wird. Teilweise sehen wir diese Leiche wieder durch den von einem Kreuz strukturierten Sucher seiner Filmkamera, so daß wir wieder an seinen Blick gebunden sind. Teilweise aber sehen wir diese Leiche durch den Blick eines Dritten, des implizierten Filmemachers Powell, der erst an dieser Stelle eine narrative Distanz zu seinem perversen Double herstellt, d. h. nachdem die Komplizität mit diesem verkehrten Filmen unverkennbar etabliert wurde. An dieser Stelle zeigt Powell zum ersten Mal von der Außenperspektive, quasi objektiv, Mark beim Filmen.

Um die Aporie, die dem Verhältnis von Repräsentation und Tod innewohnt, zu umschreiben, hat Michel Foucault eine eindringliche Metapher geprägt: „den Tod vor Augen, verfolgt [die Darstellung] sich mit äußerster Hast, fängt aber auch wieder von vorn an und erzählt sich selbst [...]; an der Grenzlinie des Todes reflektiert sich das Sprechen: es trifft auf so etwas wie einen Spiegel; und um den Tod aufzuhalten, der es aufhalten wird, hat es nur eine Möglichkeit: in sich, in einem Spiel mit Spiegeln, das selbst keine Grenzen hat, sein eigenes Bild entstehen zu lassen. In der Tiefe des Spiegels, da, wo das Spiel wiederbeginnt, um wieder an den Punkt zu kommen (den des Todes), um ihn jedoch wieder zu umgehen, gewahrt man ein anderes Sprechen - das Bild des wirklichen Sprechens, aber als winziges, inneres, virtuelles Modell.“ (Foucault 1963, 91)

In gewissem Sinne dekonstruiert Powell bereits avant la lettre, was Foucault eher euphorisch als die virtuelle Macht der sclbstreflexiven poetischen Sprache verkündet. Denn er zeigt in den drei Tötungsszenen der schönen Frauen, was die logische Konsequenz einer Filmsprache sein kann, die sich an der Grenzlinie des Todes selbst wiedergibt. Die aporetische Geste, in der die Repräsentation an den Punkt des Todes kommt, diesen aufzuhalten und im Filmbild einzufangen sucht, ihn umgeht, sich gleichzeitig jedoch auch von ihm nährt, erweist sich im Falle des perversen Filmemachers Mark als ein gefährlicher Wiederholungs- und Verdoppelungszwang. Die andere Filmsprache, die im Spiel der kinematographischen Widerspiegelung mit ihrer tödlichen Grenze entsteht, ist für Powell eine des Entzugs, aber auch eine der Duplikation. Denn einerseits ist Mark gezwungen, seine tödliche Filmerei ständig zu wiederholen, weil ihn seine Bilder des Todes an die Grenze der Filmsprache bringen, dann aber Zurückschlagen, ohne eine Grenzüberschreitung zu erlauben. „The lights“, klagt er, „fade too soon“, wobei dieses Scheitern (auf der diegetischen Ebene des Films zumindest) reale Opfer fordert. Andererseits kann sich Powell selbst dem tödlichen Kreislauf nur bedingt entziehen. Zwar entwickelt sein

Film Peeping Tom genau das in einem virtuellen Raum entstandene andere Sprechen, das Foucault mit seiner Metapher des Spiegels an der Grenzlinie des Todes und gegen diese benennt, doch diese produktive Virtualität des Films, die selbst von dem Auf- und Festhalten des Todes profitiert, wird als selbstkritische Doppelung der dargestellten Morde inszeniert.

Mitten im Film findet der zweite Mord, an dem Stand-in Vivian, statt. Nachts wollen Mark und sie verbotenermaßen im abgeschlossenen Studio der Filmgesellschaft, für die beide arbeiten, eine geheime Probeaufnahme von ihr machen, damit sie den Produzenten Jarvis von ihrem Schauspieltalent überzeugen kann. Vivian ist eitel, macht sich für die Aufnahme schön, simuliert den männlichen Blick, indem sie sich gekonnt in dessen begehrtes Blickobjekt verwandelt. Doch wieder kippt eine Inszenierung des weiblichen Körpers, wo die Frau meint, den männlichen Blick beherrschen zu können, in eine Szene völliger Machtlosigkeit um. Während sie tanzt und sich in der Rolle des Stars selbstgenügsam gefällt, baut Mark akribisch eine Szene auf, leuchtet den Raum aus, richtet seine Scheinwerfer und seine Kamera auf die Frau, zeichnet die Stelle, an der sie stehen wird, mit einem Kreuz. Selbst die postmortale Haltung wird geprobt. Scherzend legt Vivian sich in den Koffer, der ihr später die Flucht vor der tötenden Kamera verbauen und als ihr Sarg dienen wird. (Abb. 4)

Anders als das erste Mordszenarium soll dieses nicht zufällig, sondern durchkalkuliert verlaufen. „The result“, erklärt er, „must be so perfect, that even he […]” Die Inszenierung ist bewußt auf einen anderen, einen Dritten, gerichtet, doch während Vivian sich explizit für den Produzenten Jarvis zur Schau stellt, richtet sich Mark implizit an seinen Vater. Denn seine Dokumentation des perfekten Abbildes der Todesangst stellt seine perverse Antwort auf das Lebensprojekt dieses toten Vaters dar, der seinerseits als Verhaltensforscher versucht hatte, eine vollkommene Dokumentation des Lebens eines Kindes herzustellen. Demzufolge werden auch zwei Kameras für diese doppelt gerichtete Szene benötigt. Die offizielle Kamera, die der focus puller Mark scheinbar usurpiert, und seine eigene, tötende Kamera. Wieder inszeniert Powell eine selbstreflexive Brechung des narrativen Geschehens. Vivian stellt sich hinter die Kamera des offiziellen Vaters, während Mark sic mit seiner Kamera filmt und somit eine Widerspiegelung des Kamerablickens inszeniert: „photographing you photographing me.“ Auf den Befehl hin: „stand on your cross“ soll Vivian ihre Glanzrolle spielen, die Szene der Todesangst, zu der Mark zwanghaft zurückkehren muß. Die Aporie seines Perfektionswahns besteht nun aber darin, daß für Vivian die Simulation in Realität umkippt - sie stirbt in der Tat aus Angst -, daß sich aber der Ausdruck dieser Angst im Filmbild weder berechnen noch einfangen läßt. Der Tod erscheint als Erwartung und als Nachtrag, aber der Augenblick des Todes entzieht sich; für Mark aufgrund des frühen Schwindens der Lichter, für den Filmbetrachter aufgrund von Powells selbstbewußt inszeniertem Schnitt.

In seiner Verzweiflung greift Mark schließlich auf das Pin-up Milly zurück. Anfangs hatte sie sich noch bewußt der Fotokamera Marks hingegeben, weibliche Anziehungskraft simuliert, sich bewußt zum Bild gemacht. So will sie z. B. in der ersten Fotositzung die Täuschungsmöghchkeiten des Fotobildes für sich nutzen und bittet Mark, die blauen Flecken auf ihrem Körper unsichtbar zu machen: „Can you fix my bruises so they don’t show.“ Zwei Arten des Sehens werden somit von Powell inszeniert. Die eine, gesellschaftlich sanktionierte Art des Blickens ist eine, in der die pornographisch gestellten, simulierten Szenen der Erotik reale Gewalt - für die Millys Körperverletzungen stellvertretende Zeichen wären - durch die Künstlichkeit des Bildes verdecken, verschönern. Die andere Art des Blickens - und daran gekoppelt der Filmsprache - sucht gerade das Häßliche, das die schöne Oberfläche verunstaltet, um so die ästhetische Einheit des Filmbildes aufzusprengen. Dieses zweite Blicken fällt aus der sanktionierten Ökonomie heraus. Somit besteht eine der beunruhigenden Ironien des Films darin, daß der pornographische Blick, der den Frauenkörper zum Bild des männlichen Begehrens entlebt, diesen zwar verdinglicht - die Frau wird körperlich (die Hure) oder als Bild (das Stand-in, das Pin-up) zur Ware -, den weiblichen Körper also im übertragenen Sinne tötet. Jedoch erst das sexualisierte Blicken, das aus dem herkömmlichen ökonomischen Kreislauf herausfällt (das Filmen, von dem Mark sagt: „some things I photograph for nothing“), tötet wirklich. Zuletzt kann auch Milly dieser anderen Filmsprache nicht entkommen. Sie liegt zuerst noch leicht bekleidet auf dem Bett des Fotostudios. Die Pose einer Hure simulierend, blickt sie Mark selbstgenügsam an. Dann springt die Kamera Powells in der nächsten Einstellung auf die andere Seite des Bettes, und Milly liegt nackt, ihr Blick noch immer auf den ihr entgegenkommenden Mark gerichtet. Als wäre somit filmsprachlich eine Grenzüberschreitung für den Zuschauer vollzogen, sehen wir nun zum ersten Mal nicht ein Bild des Opfers, sondern wir betrachten aus der Position des Opfers, wie der Täter auf sie und implizit uns zukommt. (Abb. 5)

Freud bietet zwei Erklärungen dafür, warum ein Triebschicksal sich ins Gegenteil verkehren kann: „die Wendung eines Triebes von der Aktivität zur Passivität und die inhaltliche Verkehrung“. Mit dieser Erklärung hätte man vielleicht eine Antwort auf die Frage, warum die tödliche Ökonomie des verkehrten Blickens zuerst an drei weiblichen Opfern durchgespielt werden muß. „Beispiele für den ersteren Vorgang“, so Freud, „ergeben die Gegensatzpaare Sadismus - Masochismus und Schaulust - Exhibition. Die Verkehrung betrifft nur die Ziele des Triebes; für das aktive Ziel: Quälen, Beschauen wird das passive: Gequältwerden, Beschautwerden eingesetzt. Die inhaltliche Verkehrung findet sich in dem einen Falle der Verwandlung des Liebens in ein Hassen.“ (Freud 1915, 220) In der Wahl dieser drei schönen Frauen als Opfer zeigt sich also die Komplementarität des Voyeurs und der Exhibitionistin, denn nur die Frauen, die die tödliche Blick-Ökonomie Marks unterstützen, können in seinem Dokumentationsprojekt mitwirken. Erst am Ende des Films, im Schlußbild der Leiche Marks, wird das Kollabieren von aktivem männlichem und passivem weiblichem Schautrieb inszeniert.

Die Perversion von Mark, die der Film zu dekonstruieren sucht, besteht nun aber vor allem darin, daß dieser symbolische Tausch (Baudrillard 1976) - in dem der weibliche Körper als Bild und das Bild als Ware getauscht wird - an der Grenzlinie zum Tod in den Bereich des Realen umkippt. Die in der Verdinglichung enthaltene, übertragene Tötung findet wirklich statt und sprengt so auf mehrfache Weise den sogenannt normalen Kreislauf. Indem der weibliche Körper mittels der Übertragung in ein zweites Medium - Bild - doppelt getötet wird, soll für Mark ein Rätsel dingfest gemacht werden, nämlich der Tod. Im Gesicht der Frau will er ein Bild des Todes erhalten. Hier kommt er aber auch an die Grenze seines Repräsentationssystems. Er scheitert wiederholt und ist gezwungen, wiederholt diesen tötenden Akt zu vollziehen - „the lights fade too soon“.

Eine weitere Erklärung für die Wahl der Opfer findet sich vielleicht in der tradierten Blick-Ökonomie der westlichen Kultur, von der John Berger behauptet, „men act and women appear. Men look at women. Women watch themselves being looked at [...] The surveyor of woman in herself is male: the surveyed female. Thus she turns herself into an object - and most particularly an object of vision: a sight.“ (Berger 1972, 47) In Peeping Tom wird die Verdinglichung, die Berger anspricht, wirklich. Denn die drei schönen Frauen passen in Marks monströses Gesamtkunstwerk, weil sie eitel sind, weil sie bewußt die auf den männlichen Blick gerichtete Weiblichkeit, von der Berger spricht, simulieren, weil sie sich willig in ein Bild umwandeln lassen - für Geld, aber auch für Ruhm (Vivian) und für Veredelung (Milly, Vivian). Jeweils befinden sie sich (während sie sich auf Marks Blick-Ökonomie einlassen) in einem transgressiven Raum - der dunklen Straße, dem abgeschlossenen Filmstudio nachts, dem abgeschlossenen Zimmer über dem Tabakladen. Sie dienen Mark als brauchbares Material für sein Projekt, weil sie zu einem gewissen Grad die tötende Verdinglichung des Körpers in ein Bild selbst wollen. Insofern ist die reale Tötung auch konsequent. (Abb. 6) In diesen drei Szenen wird für die Frauen das geliebte Selbstbild zum Verhängnis. Sterben können und müssen diese drei Frauen, weil sie bereit sind, in den Spiegel zu schauen, um dort an der Grenze des Selbstbildnisses den Tod zu sehen. Hiermit verweist Powell indirekt auf die Ikonographie der Vanitas-Tradition des europäischen Barocks, genauer auf die tradierte Allegorie, in der der Eitle im Spiegelbild den eigenen Tod erblickt.

Es sind schöne, verführerische weibliche Leichen, weil sie eine Wiederholung der falschen Mutter darstellen. In dem Kindheitsfilm, den Mark Helen an ihrem Geburtstag zeigt, sehen wir das Vorbild aller zukünftigen Opfer - die zweite Ehefrau seines Vaters, wie sie venusartig aus dem Meer heraustritt. Was diese Frauen als Leichen jedoch vor allem auszeichnet und was als Verkehrung des konventionellen Blickes der Frau in den Spiegel inszeniert wird, ist die Brechung dieser Schönheit. Denn der Blick, dem sie sich auf fatale Weise hingeben, indem sie gezwungen werden, nicht den vermittelten Blick des sie filmenden Mannes, sondern den eigenen widergespiegelten Blick wahrzunehmen, ist anamorphotisch. (Lacan 1973) Diese Frauen müssen in einen Zerrspiegel schauen und sehen deshalb schon analeptisch den Tod, weil die Widerspiegelung, die narzißtisch ihr Gefühl von Selbstgenügsamkeit unterstützen soll, bereits durch die Verzerrung der Wiedergabe subvertiert wird. So ist das Spiegel-Double bereits im übertragenen Sinne ein Vorbote dessen, was das Messer des Stativs dann vollziehen wird. In den Sekunden, bevor die Tötung diese Spiegeltäuschung real werden läßt, sehen die drei Frauen sich bereits fragmentiert.

Diese unheimliche Verkehrung bleibt auch für die Betrachter der Toten. Die Polizisten bemerken, daß diese toten Frauen sich wegen ihres entsetzten Blickes von anderen Leichen unterscheiden („Never seen such fear on anyone’s face as on this girl’s“). Der Inbegriff des schönen, zur Schau gestellten weiblichen Körpers - käuflich und einrahmbar - wird radikal häßlich. Der verkehrte Tauschprozeß verläuft also folgendermaßen: Alle drei Frauen geben sich dem männlichen Blick hin - dem Auge, der Foto- oder der Filmkamera. Am Körper dieser schönen Leichen wird der damit implizierte Tötungsprozeß wörtlich. Doch zwei Aspekte stören diese Blick-Ökonomie: 1) Mark bekommt nie das Bild, nach dem er sich sehnt. Die Perfektion des Bildes, die den Tod in diese Ökonomie mit einbinden könnte, ist eine unmögliche. Das Traumatische kann nie ganz im Bild festgemacht werden. Es entzieht sich gnadenlos. 2) Die schöne Leiche trägt das Gesicht des Schreckens. Die tote Frau - als Leiche perfekter Abdruck der verdinglichten Frau - wird durch diesen Ausdruck gestört. Die Drehung geht zu weit, wird real, aber der ersehnte Mehrwert - something else - entzieht sich.

Der abweisende Blick: Tote Mutter, blinde Mutter

Im Gegensatz dazu lassen sich weder der abwesende Blick der toten Mutter noch der stumpfe Blick der blinden Mrs. Stevens in Marks Ökonomie einbinden. Eine der privilegierten Szenen aus dem Dokumentarfilm seiner Kindheit, die Mark Helen vorführt, stellt dar, wie er von seiner toten Mutter Abschied nimmt. Bezeichnenderweise werden der ganze Körper des Jungen sowie die Hände der Leiche dargestellt, nie aber das Gesicht der Mutter. (Abb. 7) Die darauf folgenden Szenen (die Trauerfeier, das Begräbnis) werden übersprungen. Gezeigt werden erst wieder Bilder dessen, was diese Mutter ersetzt: Vaters neue Geliebte am Strand. Am Morgen seiner Hochzeitsreise schenkt der Vater seinem Sohn eine Kamera, damit dieser als sein Stellvertreter seine Umwelt indirekt, durch den Sucher der Kamera, wahrnehmen und aufzeichnen kann. Demzufolge füllt also nicht die reale Stiefmutter, sondern die Kamera und der daran gekoppelte väterliche Blick die leere Stelle, die sich durch den Tod der Mutter aufgetan hat. Die Funktion der realen Ersatzmutter ist lediglich die der Zeugin. Sie filmt die Übergabe der Kamera von dem Vater an den Sohn, sie filmt den Sohn beim Filmen.

Auch der gescheiterte Mordversuch an der blinden Mutter Helens inszeniert eine Blick-Ökonomie, die dem herkömmlichen mütterlichen Blick, den das Kind auf sich ziehen will, um sich als einheitliches Subjekt widergespiegelt zu finden und somit seinen Narzißmus zu stützen, entgegengesetzt ist. Mrs. Stevens kann seinen Wunsch, den Dokumentarfilm über die Todesangst zu Ende zu führen, deshalb nicht befriedigen, weil sie keinen Blick des Schreckens in Reaktion auf eine verzerrte Darstellung ihres Gesichtes im Spiegel, sondern nur einen toten Blick wiedergeben kann. Sie kann keine Vervollkommnung dessen sein, was vor ihrem stumpfen Auge auf der privaten Leinwand Marks abläuft, kein Double des vor Schreck verzerrten Gesichts von Vivian. (Abb. 8) Ihr Blick kennzeichnet genau den Entzug, dem Mark mit seinem Filmen an der Grenzlinie zum Tod immerzu entgegenwirken will, eine Verweigerung, einen Leerlauf. Die Perversion, und damit auch der Mord an einer Frau, wird an dieser Stelle aufgehalten, weil keine Verkehrung möglich ist.

Auch hier geht es um ein Scheitern, in diesem Fall jedoch vor allem dessen, was die Psychoanalyse als Narzißmus bezeichnet: Die Phantasie der Einheit, die der Blick der Mutter, und als deren Surrogat, der Blick der Geliebten, dem Subjekt bietet. Im sogenannt normalen Entwicklungsverlauf soll, erst nachdem diese Illusion der Unversehrtheit im Zuge des primären Narzißmus hergestellt wird, ein Bruch im imaginären Selbstbild entstehen, genauer der Bruch der Mutter-Kind-Dyade durch den Vater, als Stellvertreter von Autorität, Kulturgesetzen und Konsistenz des Symbolischen. Natürlich ist in diesem unversehrten Selbstbild, das über den mütterlichen Blick vermittelt wird, immer eine entfremdende Differenz enthalten. Einerseits weil das Selbstbild nie ganz mit dem dargestellten Körper identisch sein kann (Lacan 1966), andererseits weil das Bild die Abwesenheit des Körpers impliziert (Bronfen 1992). Für die sogenannt gesunde psychische Entwicklung des Subjektes muß diese Phantasie der Einheit mitsamt der ihr eingeschriebenen Differenz aufgegeben werden. Sie kehrt aber im Erwachsenenleben als Linderung der daraus hervorgegangenen narzißtischen Kränkung wieder, und zwar als die konstitutive Täuschung in den Liebesbeziehungen.

Nun legt die klassische Psychoanalyse eine zweite Phase des Blickens, die an den Vater gebunden ist, fest. Als Dritter spricht dieser die das Kind kastrierenden Verbote und Gesetze der Kultur aus, erlaubt ihm dadurch aber auch, in die symbolische Ordnung einzutreten. Psychoanalytisch gesprochen verhandelt der Vater symbolisch die Entsagung des mütterlichen Körpers und die

Kastration als Kulturleistung. Die Annahme des väterlichen Blickes, der paternalen Metapher als Verbot der Mutter und als Ersatz für deren Blick (der eine ambivalente Unversehrtheit vermittelt hatte), gibt dem Subjekt nun eine andere Art der Stabilität. Die an den verbietenden Blick des Vaters geknüpfte Autorität verleiht einem an sich inkonsistenten Universum Konsistenz. Das imaginäre Bild des unversehrten Körpers wird durch die Annahme der Selbstspaltung ersetzt, Phantasien von vollständiger Befriedigung werden aufgeschoben, Grenzziehungen zwischen Körper und Bild, Gedanken und deren Realisierung unternommen. Kultur bedeutet demzufolge, Zerstörungs-, Unversehrtheits- und Vollkommenheitsphantasien in den Bereich der Zeichen zu verlagern; für die Geschichte von Peeping Tom in den der Wissenschaft und der Kunst. Ausschlaggebend für Powells Film ist, daß die Störung, die perverse Verkehrung des normalen Kreislaufes, die dekonstruiert wird, davon ausgeht, daß der Platz der Mutter nie adäquat gefüllt ist, so daß einerseits der durch den Blick des Vaters hervorgerufene Bruch von Anfang an einer leeren Stelle aufsitzt, andererseits Marks primärer Narzißmus nie zur Genüge aufgebaut werden konnte.

Bezeichnenderweise hat nur die blinde Mutter Helens den Einblick in die Fatalität von Marks Schaulust. Sie warnt ihn, „instinct is a wonderful thing. Pity it can’t be photographed. If I’d listened to it years ago, I might have kept my sight. I wouldn’t have let a man operate I had no faith in. So I’m listening to my instinct, Mark. And it says, all this filming isn’t healthy. You need help, get it, Mark.“ Sie verbietet ihm, Helen wiederzusehen, bis er ärztliche Hilfe gesucht hat. Als Blinde erkennt sie die Gefahren des Photographierens, kann jedoch die leere Stelle der eine beruhigende Illusion von Unversehrtheit vermittelnden Mutter nicht einnehmen. Dieser Mangel wird im Film durch das Gegensatzpaar Kamera — Helen verhandelt.

Der neugierige Blick: Die Kamera, die Geliebte

In der Gegenüberstellung von Kamera und Mädchen ergibt sich sowohl eine Weiterführung als auch eine bezeichnende Durchbrechung des väterlichen Projektes. Wie bereits oben angedeutet, ist die Dokumentation Marks eine Perversion, weil verkehrte Vervollkommnung der Dokumentation eines aufwachsenden Kindes, die sein Vater an ihm durchzuführen versucht hat. Das Buch Helens über eine Zauberkamera und was diese photographiert ist ein Gegenentwurf zum väterlichen Projekt. Helen, die mit ihrer Mutter zur Untermiete in Marks Haus wohnt, wird von Anfang an eingeführt als die Figur im Film, die sich außerhalb der fatalen Blick-Ökonomie zu bewegen scheint. So ist sie diejenige, die an ihrem 21. Geburtstag auf Mark zugeht und ihn zu ihrer Feier einlädt, dann in sein Zimmer hinaufsteigt und ihn im Betrachten seiner Todesfilme stört, um ihm ein Stück Geburtstagstorte zu bringen. Auch ist sie diejenige, die wiederholt Marks krankhaftes Schauen unterbricht. An diesem Abend erbittet sie sich nicht nur den Eintritt in seine Dunkelkammer, sondern sie will auch, als eine Art Geburtstagsgeschenk, seine Filme sehen. Mark zeigt ihr bezeichnenderweise nicht den eigenen Dokumentarfilm, sondern den seines Vaters, führt ihr also nicht seine perversen Symptome, sondern die Urszene seines Traumas vor, nicht die im Bild doppelt getöteten Objekte seines Blickes, sondern seinen eigenen Körper als Blick- und Filmobjekt.

Dieses Geschenk beinhaltet einen Austausch der Blickpositionen. Zusammen mit Mark darf Helen die Betrachterposition einnehmen, darf seinen Kinderkörper und die Qualen des väterlichen Experimentes, dem er ausgesetzt war, miterleben - die nächtliche Blendung, das plötzliche Erwachen (wenn z. B. eine Eidechse auf sein Bett geworfen wurde), die Angst. Jedoch im Gegensatz zu den schönen, selbstgenügsamen Frauen unterstützt Helen diese Blick-Ökonomie nicht. Während Mark sie beim Betrachten dieses Dokumentarfilms filmen möchte, um sie somit in die passive Position zu versetzen, in der er sich als Kind auf so traumatische Weise ständig befand, wehrt sie sich gegen den tödlichen Kreislauf des Blickens und Bildermachens und will statt einer Duplikation des dargestellten Szenariums dieses durch ein Verstehen unterbrechen. Sie gibt sich der Kamera Marks nicht hin und hält ihre Hand auf die Linse.

Zudem fordert sie beim Betrachten dieser Bilder frühkindlicher Qual Erklärungen, die stets die Redlichkeit und Nützlichkeit des väterlichen Projektes in Frage stellen, bis sie dann schließlich den Projektor ganz abstellt, während Mark den Szenen seiner Kindheit nur hilflos Zusehen kann. Dies tut sie bezeichnenderweise an der Stelle, wo der Vater dem Sohn am Tag seiner Hochzeitsreise die erste Kamera überreicht und die Linse der geschenkten Kamera als Verlängerung von Marks kindlichem Blick direkt in die väterliche ihn filmende Kamera blickt. (Abb. 9) Schließlich betrachtet sie in der letzten Szene von Peeping Tom Marks Morddokumentation doch, aber alleine und gegen sein Verbot, und bringt so seine aufklärende Beichte in Gang. Auch bezeichnend für die Gegenüberstellung Kamera und Geliebte ist die Tatsache, daß wir an dieser Stelle nur Helens Reaktion auf die entsetzten Gesichter der Frauen und deren Leichen sehen, nicht mehr die Filmbilder selber. Damit wird nochmals verdeutlicht, daß Mark seine verkehrten Liebesobjekte aufteilt in Frauen, die die tödliche Blick-Ökonomie unterstützen, sich filmen lassen, selbst filmen wollen oder wie die blinde Mutter zumindest noch potentiell teilhaben können an seinem Phantasma, und Helen, die auf radikale Weise diesen Kreislauf unterbricht.

Denn sie plädiert mit dem Projekt ihres Kinderbuchs über eine magic camera (für das Mark die Photographien machen soll) für einen anderen, nicht tötenden Blick. Die Kamera in ihrer Geschichte gehört einem kleinen Jungen, und die Bilder, die sie macht, zeichnen die Spuren kindlicher Züge, die in den Gesichtern der Erwachsenen enthalten sind, auf: „It sees grown-ups as they were, when they were children.“ Somit ist ihr Projekt dem von Mark diametral entgegengesetzt. Filmsprachlich inszeniert Powell diesen Gegensatz dadurch, daß gleichzeitig in zwei getrennten Räumen einerseits Marks Schreckensbilder von Vivians Tod entwickelt werden, andererseits Helen die Pläne für ihr Kinderbuch mit Mark entwickelt. Die Analogie besteht ferner darin, daß auch Helen das Kindliche im Erwachsenen einzufangen sucht, nicht aber wie Mark das Trauma der Kindheit, die Erlebnisse der Furcht, sondern das Glück, das Staunen, das von dem Prozeß des Erwachsenwerdens zwar verdeckt, nie aber gänzlich getilgt wird; z. B. die Spuren eben jenes an den mütterlichen Blick gekoppelten primären Narzißmus. Das Zurückholen des kindlichen Zustandes bedeutet deshalb nicht wie für Mark ein Szenarium, wo das Kind als Objekt des Blickes des väterlichen Anderen verdinglicht und entlebt, sondern eher durch den Blick der anderen belebt wird.

Dieser auf unterstützende Intersubjektivität statt Entlebung des anderen gerichtete Blick zeigt sich auch darin, daß Helen von Powell auf fast überdeterminierte Weise als Muttersurrogat inszeniert wird. Sie wohnt in dem Zimmer der verstorbenen Mutter und wird wiederholt mit Milch assoziiert. Sie nimmt Mark vor dem gemeinsamen Abendessen die Kamera weg und sperrt diese Rivalin in ihr Schlafzimmer (den mütterlichen Raum) ein. Ohne seine Kamera kann Mark eine sogenannt normale Beziehung zu einem Liebesojekt haben - er kann Helen küssen. Nachdem Mark selbst diese Rivalität benennt: „it will never see you [...] whatever I photograph I always lose“, überlebt Helen die Beichtszene eben gerade deshalb, weil sie weder in die Kamera noch in den Spiegel blickt. (Abb. 10) Somit steht sie für ein unvermitteltes, auf Anwesenheit basierendes Blicken als Unterbrechung der tödlichen Blick-Ökonomie, die sich von einem Spiel aus Abwesenheit und Duplikation speist.

Bezeichnend für das Argument des Films jedoch ist die Tatsache, daß sich beide Abbildungsprojekte als unmöglich erweisen, sowohl Marks Versuch, den Gesichtsausdruck der Todesangst aufzuzeigen, wie auch Helens Versuch, im Gesicht der Erwachsenen Züge einzufangen, die sie wie Kinder aussehen lassen. Beide, das vollkommene Bild des Todes und das vollkommene Bild des Glücks, scheitern, weil die leere Stelle der Mutter weder mit einem normalen Surrogat (Helen als lebenserhaltende Alternative zu seiner Kamera) noch mit den pervertierten Wiederholungen (die schönen Frauen und ihre tödliche Beziehung zu seiner Kamera) gefüllt werden kann.

Was hingegen nicht scheitert - so Powells beunruhigende Botschaft ist die aus der väterlichen Autorität entstandene Bildproduktion. Weil Mark stets Objekt des Blickes seines Vaters war, konnte ein gesunder Narzißmus sich nicht entwickeln. So dokumentiert der Film Peeping Tom nicht nur die Gefahr und das Leid desjenigen, der stets blicken muß. Hierfür bietet Powells Film das Gleichnis von Voyeur und Mörder, indem er ein psychisches Szenarium entwickelt, wo die Kamera die Stelle der Geliebten einnimmt und wo der als work bezeichnete mörderische Umgang mit Film statt des sogenannt normalen Geschlechtsverkehrs stattfindet.

Jedoch fast eindringlicher wird das Leid dokumentiert, stets gesehen zu werden und sich dessen auch stets bewußt zu sein. So sind vielleicht das Schrecklichere nicht die Morde, die Mark begeht, da filmsprachlich die Sympathielenkung uns für seine psychische Haltung einnimmt. Nicht zuletzt wegen des Einsatzes von Helen als Reflektorfigur für die intendierten Reaktionen des Filmbetrachters ist die Tatsache wesentlich beunruhigender, daß Mark von seinem Vater stets beobachtet und m Filmbildern auf Tonband festgehaltcn wurde, sowie die daraus entstandene Traumatisierung, die Mark dazu zwingt, sich diese Filme wiederholt anzusehen. Denn fatal an diesem Wiederholungszwang ist auch die Tatsache, daß Mark andere Figuren in den Kreislauf einbeziehen muß, um ihn zu Ende zu führen; daß er auch andere, nämlich schöne weibliche Opfer als Identifikationsfiguren wiederholt die Urszene seines Traumas durchspielen läßt und so nicht nur die eigene Viktimisierung, sondern diese in der Wiedergabe durch andere ständig betrachtet und aufzeichnet. Denn der Mehrwert, das besondere something else, um den dieses perverse Szenarium sich dreht, ist die Tatsache, daß seine Opfer sich beim Sterben Zusehen müssen, daß sie ihren eigenen Blick treffen. Genau an diesem Punkt inszeniert Powell das von Freud angesprochene Kollabieren von Aktivem und Passivem in der Perversion. Sowohl der, der blickt, als auch der, der betrachtet, wird bestraft. Im gleichen Zuge, in dem Mark seinen männlichen Sadismus über die Opferung eines weiblich-masochistischen Körpers zu bestätigen sucht, kippt er unwillkürlich in diese passive Position um.

Inszeniert wird also das Scheitern der narzißtischen Einheit, eine Unfähigkeit, diese illusionäre Unversehrtheit in der eigenen Phantasiewelt aufzubauen, weil Mark den Vater als Dritten immer schon mitreflektieren mußte. Somit tritt er verfrüht in die symbolische Ordnung ein, und zwar bevor er diese von der an dem mütterlichen Blick verhandelbaren imaginären Tätigkeit trennen konnte. Das Resultat ist seine perverse Überflutung des Symbolischen mit imaginärer Tätigkeit. Der Bruch in der an den Blick der Mutter gebundenen Spiegelphase (Lacan 1966) des unversehrten Ich-Bildes bzw. die Fragmentation des Selbstbildes mittels der väterlichen Intervention wird dann in seiner Perversion derart wiederholt, daß er diese Fragmentierung des Selbstbildes nun seinen Opfern vorhält. So spiegelt er sich in ihnen, und so spiegeln sie ihm seine Verwundbarkeit wider. Der Kreislauf kann endlos fortgeführt werden. Mark jedoch erkennt, daß er sein Projekt über den anderen, weiblichen Körper niemals vervollständigen kann, oder nur unter der Bedingung, daß er zu seinem eigenen Körper als Objekt sowohl des fremdbestimmten väterlichen als auch des eigenen Blickes zurückkehrt; daß die Befreiung aus dem System nur der Kurzschluß sein kann.

Von der weiblichen Leiche rum Suizid des Voyeurs

Kehren wir nochmals zu Freuds Diskussion des Voyeurs und des Exhibitionisten in der Sprache der Perversion zurück. Freud unterscheidet drei Stufen: 1) Das Schauen als Aktivität gegen ein fremdes Objekt gerichtet; 2) das Aufgeben des Objektes, die Wendung des Schautriebes gegen einen Teil des eigenen Körpers (und, daran gekoppelt, die Verkehrung in Passivität) und die Aufstellung des neuen Zieles, nämlich beschaut zu werden; 3) die Einsetzung eines neuen Subjektes, dem man sich zeigt, um von ihm beschaut zu werden. Diese Entwicklungsphasen schränkt Freud dadurch ein, daß er erklärt, der Schautrieb sei zu Anfang seiner Betätigung autoerotisch, „er hat wohl ein Objekt, aber er findet es am eigenen Körper“ (Freud 1915, 222). Erst später wird er dazu geleitet (auf dem Wege des Vergleichens), dieses Objekt mit einem analogen fremden Körper zu vertauschen. Anders gesagt, aus der Selbstbeschauung (der autoerotischen Vorstufe) ergeben sich zwei Möglichkeiten: ein fremdes Objekt zu beschauen (männliche Schaulust) oder als eigenes Objekt von einer fremden Person beschaut zu werden (weiblicher Exhibitionismus); das erstere die aktive, das letztere die passive Endgestaltung.

An genau diesem Punkt verkehrt nun Powell in seinem Film auf radikale Weise das Freudsche Muster, das er als Intertext durch seinen Titel Peeping Tom, durch den Beruf des abwesenden Vaters und durch den von der Polizei an den Mordschauplatz gerufenen Psychoanalytiker explizit anspricht. Denn die zentrale Störung Marks rührt daher, daß er nie in der ersten Position gewesen ist. Gehört die Vorstufe des Schautriebes, während der die Schaulust den eigenen Körper zum Objekt macht, in den Bereich des Narzißmus, und ist der aktive Schautrieb ein Verlassen des Narzißmus, der passive Schautrieb ein Festhalten an der narzißtischen Bildung, bietet Marks Biographie den Narzißmus als leere Stelle. Anders gesagt, Powell übernimmt Freuds Einsicht, „daß die Triebschicksale der Wendung gegen das eigene Ich und der Verkehrung von Aktivität in Passivität von der narzißtischen Organisation des Ichs abhängig sind und den Stempel dieser Phase an sich tragen“ (Freud 1915, 224), doch er inszeniert deren postmoderne Dekonstruktion. Denn in seiner Darstellung ist dieser Ursprung leer. Vor jeder narzißtischen Bildung stehen die kastrierende Stimme und der autoritäre Blick des Vaters. Jede Autoerotik ist in diesem Fall immer schon durch die Mitreflexion des strafenden Blickes dieses anderen geprägt.

Die zweite ebenso prägnante Verkehrung, die Powell dem herkömmlichen Freudschen Muster entgegensetzt, besteht darin zu zeigen, daß die ursprüngliche Schaulust - hergestellt in dem Wechselspiel von väterlichem und kindlichem Blick - nicht ausschließlich eine sexuelle Schaulust ist, dem eigenen Geschlechtsteil oder dem Geschlechtsleben der Eltern gewidmet, sondern gerade der Kreuzung von Sexualität und Körperbedrohung. Bei seinem Versuch, eine lückenlose Dokumentation der Entwicklung eines Kindes zu erstellen, bevorzugt der Vater nicht kindliche Freude, Lust oder Glück, sondern die Reaktion des kindlichen Nervensystems auf Angst. Die zweite Schlüsselerklärung des Films, die nicht Marks pathologisches Verbrechen, sondern das seines Vaters betrifft, findet demzufolge statt, während Mark Helen den Film seiner Kindheit erklärt. Bezeichnenderweise schreit Helen gerade an der Stelle im Film auf, an der sie sicht, wie eine Eidechse auf das Bett des Jungen geworfen wird und in der Nähe seiner Genitalien unter die Decke abtaucht, worauf der kleine Mark angstergriffen aufwacht. Sem Vater, so führt Mark aus, wollte eine in allen Details vollständige Aufzeichnung der Entwicklung eines Kindes, nahm ständig Notizen und Fotos, so daß der Sohn nie einen Augenblick der Privatheit kannte. Auf Marks Erklärung: „He was a brilliant scientist“ erwidert sie: „A scientist drops a lizard on a child, and good comes of it?!“

Wir haben also folgenden Kreislauf, der von dem abwesenden, aber weiterhin mächtigen Vater ausgeht. Mark wird als Kind ‚entlebt’, d.h. zur lebenden Leiche gemacht, weil traumatisiert und in zahllosen Bildern eingefangen. Statt einer ihn bestätigenden Mutter erhält er, nach der Kastration durch den Blick des Vaters und als Ersatz für die tote Mutter, eine Kamera. Dieser Kreislauf spielt sich dann in seinem Erwachsenendasein folgendermaßen ab: Der Drang, Todesfurcht im Filmbild einzufangen, ist eine verschobene Veräußerung seiner eigenen Angst. Um diesen fatalen Zirkel aufzuhalten, kehrt er zuletzt zu seinem eigenen Leib als Objekt seines Dokumentationsprojektes zurück. Während seine Opfer das Gesicht des Todes im Spiegel sahen, konnte seine Kamera diesen Ausdruck nicht einfangen. Nun erhält er das so intensiv begehrte Bild der Todesangst, und zwar indem er seinen eigenen Tod sieht. Denn der gesuchte Anblick ist ein radikal subjektiver, die Widerspiegelung des Betrachters, die von einer dritten, vermittelten Blickposition nicht nachvollziehbar wäre. Erst indem Mark sowohl betrachtendes Subjekt als auch betrachtetes Objekt dieses furchtbaren Blickes wird, den aktiven und den passiven Pol der Perversion zusammenfallen läßt, die Grenze zwischen fremdem und eigenem Körper auflöst, und damit sowohl die Position des Kindes als auch die des Vaters in den Szenen seines frühkindlichen Traumas einnimmt, um sie ein letztes Mal zu wiederholen, kann er das väterliche Projekt vervollständigen. Diesen Selbstmord hat er immer miteinkalkuliert, denn er erklärt Helen: „I’ve been ready for this for such a long time.“

Im Augenblick des Kurzschlusses laufen alle Tonbandstimmen gleichzeitig, die Blitzlichter und Auslöser sämtlicher Kameras gehen eine nach der anderen los. In dem Moment, da er sich selber an seinem Messer-Stativ ersticht, empfindet er zum ersten Mal das befreiende Gefühl unmittelbarer Angst. Für die Überlebenden bleibt dieser Ausdruck der Todesangst jedoch weiterhin unzugänglich. (Abb. 11) Am Ende des Films ersetzen Tonbandstimmen den durch Marks Suizid zu seinem Abschluß gebrachten Kreislauf der tötenden Bilder. Auf das väterliche Verbot: „Don’t be a silly boy, there’s nothing to be afraid of“, nachdem die Filmspule in Marks Projektor durchgelaufen ist, nachdem auch Powells Leinwand dunkel geworden ist, kommt aus dem Off, als sei es die Halluzination des Filmes Peeping Tom selber, die kindliche Stimme Marks: „Good night Daddy. Hold my hand.“ Der Kreis schließt sich, indem die Ökonomie des väterlichen Blickes bestätigt wird, das Reale des Todes hingegen sich wieder und weiterhin dem Bild entzieht. Zum Schluß kann Mark den durch den väterlichen Blick in Gang gebrachten Kreislauf entlebender Bilder zu Ende führen, indem er anstatt eines Bildes vom Tod den Tod selbst erhält. Unerreichbar hingegen bleibt das Glück, das er über die Geliebte, als Platzhalterin der leeren Stelle der Mutter, erfahren könnte, die zweite Möglichkeit, diesen Kreislauf aufzuhalten.

Als bewußte Kritik an dem vom Kino implizierten Voyeurismus stellt der Film demzufolge die Frage: Wer darf sanktioniert blicken? Die Antwort lautet, der Vater und der Analytiker als Wissenschaftler, der Regisseur und der Filmproduzent als Kunstschaffende, die Polizei als Ordnungsstifter, die Kunden der Huren und die Betrachter der Pornobilder als Konsumenten. Nicht sanktioniert hingegen werden der neugierige Blick Helens und der perverse Blick des Voyeurs Mark. Jedoch aufgrund welcher Instanz wird diese Grenzziehung unternommen, und wessen Gesetz wird damit stabilisiert? Wiederholt hatte sich gezeigt, daß die Vernetzung von Töten und Bildproduktion von der Position des Vaters abhängt. Dabei erscheint die Verhandlung um den Namen des Vaters bzw. um die väterliche Metapher ausschlaggebend. Zum einen unterminiert diese väterliche Instanz vorzeitig die Mutter-Kind-Dyade, so daß Mark von Anfang an statt des bestätigenden mütterlichen Blickes den traumatisierenden Blick des Vaters in seinen psychischen Apparat eingeschrieben bekommt. Zum zweiten ist dieser väterliche Blick ein verselbständigter. Mark weiß nicht nur, daß er ständig vom Blick des Vaters getroffen ist. Diese väterliche Autorität funktioniert zudem gerade aufgrund der leiblichen Abwesenheit des Vaters. Die deviante Verkehrung, die somit einsetzt, hängt nun davon ab, wie mit diesem dritten, konsistenzsichernden Blick umgegangen wird. Anders gesagt, in Reaktion darauf, daß Marks primärer Narzißmus von Anfang an durch den Vater gestört wurde und er deshalb die durch den mütterlichen Blick verhandelte Tätigkeit des Imaginären nicht im Gegensatz zu dem symbolischen Bereich, der unter der Ägide des Vaters steht, entwickeln kann, sondern diese zweite Instanz das Register des Imaginären völlig auszulöschen sucht, taucht diese verworfene imaginäre psychische Energie in der Gestalt einer Psychotisierung des Symbolischen wieder auf.

In seinem Aufsatz „D’unc question préliminaire à tout traitement possible de la psychose“ entwickelt Lacan eine Beschreibung des Zustandes, in dem die väterliche Metapher als konsistenzstiftende Instanz fehlgegangen ist. Von dem als Stellvertreter dieser konsistenzstiftenden Instanz dienenden Anderen, so Lacan, wird das Subjekt zweifach auf seine Existenz befragt - „,Que suis-je là?‘ concernant son sexe et sa contingence dans l’être, à savoir qu’il est homme ou femme d’une part, d’autre part qu’il pourrait n’être pas, les deux conjuguant leur mystère, et le nouant dans les symboles de la procréation et de la mort.“ (Lacan 1966a, 549) Die Entscheidbarkeit dieser Fragen hängt von der Existenz solch eines stabilisierenden Anderen ab. Erweist sich nun die paternale Metapher als inadäquat bzw. scheitert sie in ihrer ordnungssichernden Funktion, hat dies eine Verwerfung des Signifikanten, des Gesetzes des anderen zur Folge, und damit eine Destabilisierung des gesamten semiotischen grenzziehenden Prozesses der Verneinung oder Bejahung sowie der Erstellung von Gegensätzen und kodifizierten Konstruktionen. Die Stelle des kohärenzstiftenden Anderen wird sodann nicht mehr als Ort der Befragung wahrgenommen, sondern als ein Loch, und das Fehlen der paternalen Metapher durch Halluzinationen im Realen ersetzt.

Die paternale Metapher wird zu einer delirierenden Metapher: „C’est le defaut du Nom-du-Père à cette place qui, par le trou qu’il ouvre dans le signifié amorce la cascade des remaniements du signifiant d’où procède le désastre croissant de l’imaginaire, jusqu’à ce que le niveau soit atteint où signifiant et signifié se stabilisent dans la métaphore délirante.“ (Lacan 1966a, 577) Für Powells Peeping Tom könnte man nun sagen, das wissenschaftliche Projckt des Vaters wird zum halluzinatorischen Projekt Marks, genauer, zu einem delirierenden Dokumentarfilm, in dem Körper und Bild nicht mehr getrennt werden, die figurale Tötung des Filmens real wird. Für diese Halluzinationen im Realen ist das anschaulichste Beispiel die Auflösungsszene, in der Helen nicht in den Spiegel sieht, die Filmzuschauer aber weibliche Schreie hören. Aporetisch bleibt die Tatsache, daß Marks Dokumentationsarbeit sowohl die höchste Huldigung an die paternale Metapher darstellt als auch deren psychotische Verkehrung. Auf genau diametral entgegengesetzte Weise versucht auch die neugierige Helen der paternalen Metapher, d. h. der im übertragenen Sinne tötenden Wissenschaft, ihre Version der delirierenden Metapher entgegenzusetzen. Mit ihren Zaubergesichtern, in denen die Grenze zwischen kindlichem und erwachsenem Ausdruck verschwimmt, bietet sie sich als alternative Stellvertreterin der dritten, konsistenzstiftenden Instanz an.

Doch nicht ihre, sondern Marks Halluzinationen siegen. Nach seinem letzten Satz: „I’m sorry I couldn’t find those faces for you“ und nachdem er Helen zu Boden geworfen hat, verkehrt er ein letztes Mal das symbolische Mandat, das er von seinem Vater übernommen hat, und vollzieht im Suizid den einzig ihm offenstehenden erfolgreichen Akt. Im Sinne Lacans argumentiert Slavoj Zizek, daß die einzige Authentizität, die dem Subjekt zur Verfügung steht, darin besteht, das symbolische Mandat performativ zu übernehmen bzw. die Rolle, die es unter dessen Ägide angenommen hat, bis zu ihrer logischen Konsequenz durchzuspielen, um somit an die Grenzlinie von symbolischer Wirklichkeit und realer Negativität zu gelangen. Der Rückzug aus der symbolischen Welt im Zuge des symbolischen Suizids zielt darauf ab, das Subjekt aus dem intersubjektiven Kreislauf auszuschließen. Im Akt des Suizids in Peeping Tom, und damit ist nicht der Selbstmord, sondern die lang vorher geplante Inszenierung des letzten, endgültigen Todesbildes gemeint, kollabieren die seine mörderische Ökonomie des Blickens strukturierenden Positionen - der Betrachtete (Mark als Kind), der Betrachter (der Vater und dann der internalisierte väterliche Blick) und der Stellvertreter des Betrachters, der dessen symbolisches Mandat übernommen hat (Mark als mordender Filmemacher). „Was ist der Akt anderes“, fährt Zizek fort, „als der Augenblick, in dem das Subjekt, das ihn ausführt, das Netz von symbolischen Vorstellungen suspendiert, die ihm als Unterstützung in seinem täglichen Leben dienen und der radikalen Negativität, auf der sie gründen, entgegentreten? Der Akt als Real, als Überschreitung einer symbolischen Grenze [...] wirft uns zurück in den Abgrund des Realen, aus dem heraus unsere symbolische Wirklichkeit hervorgeht.“ (Žižek 1991, 87)

Dieser Akt, in dem eine Bewegung von der Wirklichkeit hin zum Realen vollzogen wird, inszeniert einen Kurzschluß des symbolischen Kreislaufs. So kann man folgern, daß Marks Akt die Authentizität des symbolischen väterlichen Mandats denunziert, die Nichtigkeit aller in seinem Namen simulierten Rollen aufzeigt, ohne jedoch die stabilisierende Notwendigkeit dieser Konsistenzstiftung zu verleugnen. Denn, so folgert Žižek: „Der Mangel, den das Subjekt annehmen muß, ist nicht sein eigener, sondern der des Anderen, was etwas unvergleichlich schwerer zu Ertragendes ist [...]. Die größte Illusion besteht genau in diesem Vertrauen in die Konsistenz des ‚großen Anderen’!“ (Žižek1991, 88) Die Freiheit, die Mark im Augenblick seines Sterbens empfindet, erklärt sich daraus, daß er in diesem Augenblick zum ersten Mal auf die Unterstützung beim väterlichen Anderen verzichtet, seine Aussage nicht an ihn richtet, sondern die East seiner Existenz ganz auf sich nimmt. Denn in der letzten Instanz entsteht und erhält Marks Perversion sich dadurch, daß er dem Vertrauen in die Konsistenz des „großen Anderen“ aufsitzt.

So wird zum Schluß augenscheinlich die paternale Metapher und per Implikation der von Mark verinnerlichte strafende Blick des Vaters wieder installiert. Gegen Marks und gegen Helens delirierende Metapher gerichtet, und nachdem alle Filmbilder endgültig erloschen sind, spricht die Tonbandstimme des Vaters seine Verbote. Die, die im Sinne der väterlichen Metapher blicken, bleiben unversehrt, während die, die sich gegen sie wehren (Helen) oder sie verkehren (Mark), bestraft werden bzw. sich im Zuge dieser devianten Reaktion zerstören. Aber so sehr diese paternale Instanz die psychotische Verkehrung des Symbolischen durch den Sohn wie auch dessen Akt als kurze Suspendierung der symbolischen Ordnung überlebt, so sehr ist sie doch auch in ihrem tödlichen Aspekt dekonstruiert worden: durch Marks zerstörerische Umkehrung des väterlichen Erbes einerseits und Helens kritischen Gegenentwurf andererseits. Auch bleibt unentscheidbar, ob diese Stimmen für den Zuschauer nicht eine weitere Halluzination darstellen, so daß auf der extradiegetischen Sinnebene des Films die delirierende Metapher durchaus nicht angehalten wird. Entlarvt erscheinen auch die Stellvertreter par excellence der konsistenzstiftenden Instanz, die Polizei, denn sie können immer nur zu spät kommen, wie auch die sanktionierten Verwalter des Voyeurismus, d. h. die Werkstätte des kommerziellen Kinos und der Pornographie, denunziert werden. Denn in deren Mitte, als Zeichen einer dem Prozeß der Verbildlichung unauslöschbaren internen Differenz, finden wir die Leichen von Vivian und Milly.

Literatur

Baudrillard 1976: Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982.

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Freud 1910: Sigmund Freud, „Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung“, in: Gesammelte Werke VIII, Frankfurt/M. 1945, S. 94-102.

Freud 1915: Sigmund Freud, „Triebe und Triebschicksale“, in: Gesammelte Werke X, Frankfurt/M. 1947, S. 210-232.

Freud 1949: Sigmund Freud, „Abriß der Psychoanalyse“, in: Gesammelte Werke XVII, Frankfurt/M. 1941, S. 63-138.

Kofman 1985: Sarah Kofman, Melancholie der Kunst, Wien 1986.

Lacan 1966: Jacques Lacan, „Le Stade du miroir comme formateur de la fonction du Je“, in: Écrits, Paris 1966, S. 93-100.

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Lacan 1973: Jacques Lacan, Le Séminaire livre XI: Les quatre concepts fondamentaux de la psychoanalyse, Paris, 1973.

Laplanchc/Pontalis 1972: J. Laplanche und J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt/M. 1972.

Žižek 1991: Slavoj Žižek, „Roberto Rossellini. Die Frau als Symptom“, in: Lettre International, Berlin Frühjahr 1991, S. 80-88.

Elisabeth Bronfen
geb. 1958, Professorin für englische Sprache und Literatur an der Universität Zürich, neuste Publikation: Nur über ihre Leiche: Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München 1994.
(Stand: 2019)
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