ULRICH WENDT

DÉCOR — ALAIN TANNERS KINO DER STOFFE

ESSAY

„Glückliches Land, in dem man wieder träumen kann und glauben lernt an die Mächte der Vergangenheit, von denen wir dachten, sie wären, wie so vieles, ein Irrtum und eine Lüge des Lesebuches!

Die Sonne ist jung und stark, der Himmel hoch und tiefblau, die Bäume dunkelgrün, versonnen, uralt. Und weiße, breite Straßen, die seit Jahrhunderten Sonne getrunken haben und widerstrahlen, führen zu den weißen Städten mit den flachen Dächern, die so eben sind, als wollten sie zeigen, daß hier nicht einmal die HtShe gefährlich werden kann und daß man niemals, niemals hinunterfällt in schwarze ’Liefen.“

- Joseph Roth, Die weißen Städte

Ein Mann steht am Fenster seines Hotelzimmers und schaut nach draußen. Durch einen Spalt zwischen den roten Vorhängen dringt Licht ins Zimmer. Er trinkt ein Glas Whisky leer und geht aus dem Bild. Währenddessen fährt die Kamera langsam auf die Vorhänge zu. Sekundenlang sind nur sie zu sehen, ihre leichte Bewegung im Wind. Motorengeräusch ist zu hören, eine Straßenbahn klingelt, eine Uhr spielt eine kleine Melodie. Der Mann kehrt mit einem gefüllten Glas ins Bild zurück, trinkt und sieht wieder hinaus. Die Kamerafahrt ist bei einer Naheinstellung seines Gesichts angelangt.

Die beschriebene Szene stammt aus Alain Tanners Film Dans la ville blanche (1983). Die Ruhe und Intensität, mit der sich Tanner dem Augenblick und der Atmosphäre widmet, ist charakteristisch für die Filme, die er nach Jonas qui anra 25 ans en l’an 2000 (1976) gedreht hat. In seinen Filmen der späten sechziger und siebziger Jahre setzte er sich mit aktuellen gesellschaftlichen Fragen auseinander und bemühte sich darum, eine dem linken Diskurs angemessene Sprache zu entwickeln. Mit „Diskurs-Filmen“1 wie La Salamandre (1971) und Le milieu du monde (1974) konnten sich viele Angehörige der Achtundsech- ziger-Generation identifizieren. Doch Tanner verließ lange vor dem Fall der Mauern „den Schutz und das Netz des richtigen Diskurses“2 und suchte nach offeneren Formen des Filmemachens, fernab von Botschaften und Ideologien. Er begab sich - inhaltlich und formal - mit seinen Filmen auf die Reise.3 In diesen Reisefilmen befaßte er sich mit der Standardisierung des filmischen Blicks durch die Medien und dem Verlust der Utopie. Wenn von seinen frühen Filmen gesagt wird, sie seien in einem „konjunktivischen Ton“4 gehalten, dann müßte man über seine späten Filme sagen, daß sie „Filme im Präsens“5 sind. Die Erfahrung der Orte, Körper und Gegenstände ist in den Mittelpunkt von Tanners Interesse gerückt. In einem Interview mit Martin Schaub meinte er, die Filme müßten auf die „Stoffe“, die „tatsächlichen Erscheinungen“ eingehen.6 Es kommt ihm auf „la matérialité du décor“7 - sinngemäß übersetzt: auf „die Stofflichkeit des Dekors“ - an. Mit Dekor ist hier nicht nur die Ausstattung eines Raums gemeint, sondern auch ein Gegenstand, eine Stadt oder eine Landschaft.8 In meinem Text möchte ich untersuchen, welche Dekors Tanner für seine Filme auswählt und wie er die Reise durch sie gestaltet.

Orte, Nicht-Orte

Die filmischen Reisen Tanners führen auf die grüne Insel - Irland - und in die weiße Stadt - Lissabon -, ins Niemandsland des Jura und an kleine Orte am Meer, in Italien und Andalusien. Es sind Reisen an entlegene Orte, die in mehrfacher Hinsicht das Gegenteil von Tanners Ausgangsort, der Schweiz, verkörpern. In Messidor (1979) zeigt er die Schweiz als ein Land, das unter der Käseglocke verharrt, ohne die Möglichkeit, Luft zu holen. In dem darauf in Irland entstandenen Light years away (1981) dagegen weht den Hauptfiguren der frische Wind des Atlantiks um die Nase. Während in Messidor die Landschaft zubetoniert oder durch Verkehrsschilder, Tunnels und auf den Asphalt gemalte Streifen und Pfeile domestiziert ist, spielt Light years away „im Nirgendwo [...], in einer Tankstelle am Ende der Erde“9. Nur diese Tankstelle und ein Autofriedhof in der Hügellandschaft weisen auf die Zivilisation hin. Die Städte, Dörfer und Landschaften, die Tanner in seinen späten Filmen aufsucht, sind keine standardisierten, sondern eher altmodische Orte, die durch geographische Gegebenheiten (das Meer, die Wüste, das Gebirge) oder politische Verhältnisse (Portugal und Spanien waren durch Diktaturen jahrzehntelang vom Rest Europas isoliert) eine Inselposition einnehmen und auf diese Weise lange Zeit vom europäischen Fortschreiten ausgespart und verschont blieben. Sie haben dadurch einen Teil ihrer Eigenheiten bewahren können. In ihrer Widerständigkeit und Randständigkeit ähneln die Orte den Hauptfiguren Tanners, die sich gegen die Eingliederungsbemühungen der modernen Gesellschaft behaupten. Und wie diese tragen sie die Narben unserer Zeit. Tanner braucht sie, um an ihnen seine Fiktion zu entwickeln. Er nennt sie „Nicht- Orte“10, weil an ihnen wie unter einem Brennglas die Geschichten, Krankheiten und Hoffnungen aller anderen Orte Europas sichtbar werden. Das bedeutet jedoch nicht, daß sie austauschbar sind. Er präsentiert sie nicht als bloße Hintergrundszenerie für die Handlung seiner Filme: Die Orte gewinnen in Tanners Filmen ein eigenes Gesicht.

Stadt

„Es war gegen Ende des Sommers. Man hatte mir gesagt: Komm nach Portugal, um einen Film zu drehen. Ich hatte einmal die Schiffe gesehen, welche die Flußmündung des Tejo hinauffuhren und die in des Wassers Tiefe, nach den Bewegungen der Flutzeit, um ihre Anker drehten. Das war mir aufgefallen und hatte mich an eine weit zurückliegende Zeit erinnert. Und an das Geheimnis der Straßen des alten Lissabon.“

- Alain Tanner im Programmheft zu Dans la ville blanche

In Dans la ville blanche versucht Tanner, den Zauber, den Lissabon auf ihn ausgeübt hat, in Bilder umzusetzen. Er folgt dem Matrosen Paul (Bruno Ganz), der von seinem Schiff desertiert ist, auf seinen Erkundungsgängen durch die Stadt. Paul schlendert durch die Gassen Lissabons, filmt mit einer Super-8-Kamera die Fischstände auf dem Markt, die Hühner auf den Treppen und die aufgehängte Wäsche im Wind; er fährt mit der Straßenbahn durch alte kurvige Straßen; in den Bars säuft und tanzt er, flirtet und schlägt sich; nachts sitzt er auf dem Balkon vor seinem Hotelzimmer und sieht den roten Mond und die Lichter der Schiffe auf dem Tejo. Tagsüber begleitet Tanner in zwei Kamerafahrten Pauls Spaziergang entlang einer befahrenen Straße, vorbei an einem Holzlager, an parkenden Autos und an einer Mauer, die mit Graffiti bedeckt ist. Graffiti kommen in Tanners Stadtbildern oft vor. In Lissabon steht auf einer Hausfassade: „Vota APU“, im Dublin von Light years away ist an einem Unterstand zu lesen: „Punk“, „Sex Pistols“ und der Name „Alan“. Die sprechenden Wände erzählen vom politischen und kulturellen Underground der Orte.11 In Lissabon treffen die alte und die neue Geschichte zusammen. Die vielen Szenen, die in der Alfama, einem alten Stadtteil Lissabons, spielen, weisen die Stadt als einen Ort der Vergangenheit aus, an dem Geschichten zu spüren sind. In den Gesichtern der alten Männer, die in den Cafés sitzen und Domino spielen, werden sie offenbar. Zugleich zeigt Tanner Lissabon aber auch als einen modernen Ort der Spielhallen, der Prostitution und als Hafenstadt.

Häfen und Schiffe kommen oft in Tanners Filmen vor. In Le journal de Lady M. (1993) begleitet eine ausgedehnte Kamerafahrt den Gang von Myriam Mézières am Hafen von Barcelona entlang. Und in La vallée fantôme (1987) schwelgt Tanner, der als junger Mann selbst zur See gefahren ist, in Bildern der Lagune von Chioggia. Immer wieder läßt er Jean, Dara und Paul an der Mole auf und ab gehen, sich unterhalten oder telefonieren. Im Hintergrund sind Fischerboote und große Schiffe zu sehen. Diese Einstellungen sind in einem warmen, beinahe goldenen Licht gefilmt worden.

La vallée fantôme und Dans la ville blanche sind südliche Filme. Die weiße Stadt Lissabon ist im Gegensatz zu Dublin und Genf, wo die früheren Filme Tanners spielen, eine von gleißendem Licht erfüllte Stadt. Doch weiß ist die Stadt nicht nur wegen ihres intensiven Lichts. Weiß bedeutet auch, daß bislang nichts ausgemacht, alles noch offen ist: ein unbekannter Hafen, fremde Menschen, eine Sprache, die (noch) nicht beherrscht wird. Die weiße Stadt ist ein Leerraum für Pauls Ausstieg: Für ihn sind das Hotelzimmer, die Einsamkeit und die Stille weiß. Und die weiße Stadt birgt den Traum des Filmemachers von neuen unverbrauchten Bildern - einen Freiraum, in dem er sich mit dem Ort auseinandersetzen kann.

Paul schreibt an seine Frau: „Ich würde gerne wieder lernen, über die Dinge zu sprechen“, aber er weiß noch nicht, wie. Seine Situation ähnelt derjenigen von Tanner nach dem Ende des Diskurses. Dieser konnte keine Diskursfilm-Geschichten mehr erzählen. Auch Paul ist so eine Art Filmemacher.12 Mit seinen Super-8-Erkundungen der weißen Stadt unternimmt er den Versuch, wieder „über die Dinge zu sprechen“. In diesen Aufnahmen widmet sich Tanner den Stoffen pur: Die Brücke des 25. April über den Tcjo ist von unten, vom Schiff aus, zu sehen, und durch ihren Boden hindurch sieht man die fahrenden Autos. Die Einrichtung seines Zimmers - das Türschloß, ein Bild vom Walfang, einen alten roten Sessel, ein Waschbecken, das von Azulejos, den blauweißen portugiesischen Kacheln, eingerahmt ist, einen Spiegel - filmt Paul in einem Schwenk. Er nimmt beim Gehen das Kopfsteinpflaster auf. Dadurch, daß die Bilder stumm sind, begleitet allein durch die Musik Jean-Luc Barbiers, in der das Saxophon dominiert, bekommen die gefilmten Orte und Dinge ein außerordentliches Gewicht. Zunächst wirken die Bilder erholsam, bar jeden Stadtgeräuschs, aber durch die dramatisierende Musik, die Dauer der „leeren Bilder“13, die den Charakter von Innenbildern Pauls annehmen, und die Porosität der auf 35-mm-Format gebrachten Super-8-Sequenzen entsteht der Eindruck von Verlorenheit.

In dem Moment, wo der Film wieder aus den Super-8-Bildern auftaucht, fallen die Geräusche und Klänge sehr auf: Kinder- und Frauenstimmen, anfahrende Autos, Hundegebell, Vogelgezwitscher, eine Straßenbahn quietscht, und von irgendwoher kommt Musik. Die Filme Tanners sind auch Hörfilme: Ihre ausgeprägte Tonebene erzählt eine Menge von den Orten, an denen sie spielen. Die Geräusche schaffen eine zusätzliche Ebene im Film. Sie erweitern ihn um das, was im Bild nicht oder nur zum Teil zu sehen ist. Auf diese Weise entsteht bei den Zuschauern der Eindruck von Räumlichkeit. Tanner arbeitet prinzipiell mit Originalton.14 Im Vergleich zu anderen Filmen sind Verkehrsgeräusche, Truppenübungslärm usw. bei Tanner sehr laut zu hören. In Messidor verstärkt dieser Effekt den Eindruck der Entfremdung: Im fahrenden Auto oder an einer befahrenen Straße sind die Geräusche derart ohrenbetäubend, daß eine Verständigung nur unter lautem Rufen möglich ist. In den deutschen Synchronfassungen einiger Filme Tanners sind nicht nur die Geräusche stark heruntergemischt worden, auch die vielfältigen Sprachebenen wurden geglättet. Dans la ville blanche, in dem vier Sprachen gesprochen werden, sind durch die deutsche Synchronisierung wichtige Merkmale der Fremdheit und des allmählichen Verstehens genommen worden. Dara (Laura Morante) klingt in der synchronisierten Version von La vallée fantôme wie Sophia Loren in Die Gräfin von Hongkong. Es wundert nicht, daß sich Tanner der spöttischen Bemerkung von Jean-Marie Straub anschließt, im Mittelalter wären die Leute, die Filme synchronisieren, öffentlich verbrannt worden.15

Die Städte, die von den Hauptfiguren der Tannerschen Filme aufgesucht werden, sind keine behaglichen Orte, an denen sie sich ausruhen können. Es sind Orte - wie Lissabon in Dans la ville blanche und Brooklyn in La vallée fantôme -, die ihnen fremd sind und die sie zunächst verunsichern. Besonders deutlich wird diese Verunsicherung im letzten Viertel von Une flamme dans mon cœur (1987): Mercédès (Myriam Mézières) begleitet den Journalisten Pierre (Benoît Régent) auf einer Geschäftsreise nach Kairo. Er hat wegen beruflicher Verpflichtungen kaum Zeit für sie. Mercédès hält sich zuerst im Hotelzimmer auf. Aber dann ergeht es ihr wie Paul in Dans la ville blanche: Sie wandert durch die Stadt und verliert sich zunehmend darin. Zu ihrer inneren Orientierungslosigkeit kommt die äußere hinzu.

Tanner zeigt die Altstadt Kairos in einer langen stillen Einstellung, in der Mercédès nur flüchtig - wie eine zufällige Passantin - erscheint. Das rege Treiben auf einer matschigen Straße beherrscht das Bild: Pferdewagen und Autos schieben sich aneinander vorbei, eine Frau trägt einen Korb auf dem Kopf über die Straße, ein Fahrrad-Transportwagen fährt durchs Bild, ein Junge sieht in die Kamera, der Ruf eines Muezzins ist zu hören. In den meisten Einstellungen des Films wird Kairo als eine moderne Großstadt mit Pepsi- und British-Airways-Reklamen gezeigt, die Teile der alten Traditionen integriert hat. Nur einmal, kurz, ist der Traum von einem ruhigen märchenhaften Kairo zu sehen: Ein Boot fährt den Nil hinunter, und am Rande stehen Palmen. Doch nachdem das Bild langsam ausgeblendet worden ist, bricht Tanner die Idylle wieder. In der nächsten Einstellung ist eine befahrene Straße zu sehen, die Trillerpfeife eines Polizisten gellt durch den Lärm, und immerzu hupen Autos.

Am Ende des Films findet sich Mercédès an der Peripherie von Kairo wieder. Sie hat die Nacht dort verbracht. Von einem Hügel über einer großen Straße aus betrachtet sie im Morgenlicht die Skyline der Stadt mit ihren Minaretten. Die letzten Einstellungen zeigen ein Niemandsland von halbfertig gebauten Häusern am Rande der Stadt. Mercédès sitzt auf einer Treppe und sieht ein Kind an, das neugierig hinter einer Mauer hervorguckt. Der Film endet in der schwanken Stimmung zwischen Verzweiflung und Hoffnung, die durch den Ort betont wird.

Die Verunsicherung, welche die Reisenden der Filme Tanners in den Städten erfahren, ist ein wichtiges Moment: Sie steigert ihre Aufmerksamkeit und Empfindlichkeit für die Eindrücke, die sie empfangen, und gibt den Anstoß zu Veränderungen. Tanner zeigt die Städte in seinen Filmen als Orte des Übergangs und der Verwandlung zwischen dem Sichverlieren und dem Sichfinden.

Land

Die Beschreibung der Landschaft, der Wetterverhältnisse und des Lichts nehmen in Light years away viel Raum ein. Von Anfang an ist der Wind zu hören, der vom Atlantik her bläst. Selbst in Momenten, in denen die Filmmusik spielt, ist er deutlich zu vernehmen. In vielen Einstellungen verschwinden die Gipfel der karstigen Berge im Nebel. Das Licht ist trüb. Das Pflaster schimmert feucht vom Regen. Der Wind zottelt die Haare der Hauptdarsteller durch. Jonas’ bunter Schal und Yoshkas roter Wagen bilden in diesen Einstellungen die einzigen Farbtupfer. Im scharfen Kontrast dazu stehen die Bilder, in denen die Sonne durch die Wolken bricht und einen Teil der Landschaft in blendendes Licht taucht. Die Gegensätze von Licht und Schatten erscheinen oft auf einem Bild. Jonas’ Wanderung auf einem Hochplateau unter einem Regenbogen oder sein morgendlicher Lauf bei trübem Licht am Strand entlang, durch die Wellen, mit den wolkenbedeckten Bergen am Horizont, zeigt Tanner in Bildern, die den Zuschauern viel von dem Draußensein nahebringen.

In Light years away vermittelt Tanner die Vorstellung von einer Natur, die kaum durch die Einwirkungen der Zivilisation beeinträchtigt ist. Kein Düsenjäger stört die Ruhe der Heidelandschaft. Die Fischerboote sind noch nicht durch fish farms ersetzt worden. In den Bergen gibt es Adler. Ein Entkommen aus dem Dunstkreis der Städte scheint möglich zu sein.

Mit No man’s land (1985) hat Tanner einen anderen Weg eingeschlagen. Im Vorspann läßt er Madeleine (Myriam Meziercs) sagen: „Es gibt keine Natur. Auch das ist eine Hoffnung. Es gibt keine Natur. Der Beweis? Es gibt Mutanten.“ Durch Madeleines Bemerkung vermeidet Tanner von vornherein den Eindruck, es könne sieh bei den Naturdarstellungen des Films um idyllische Rückzugsorte handeln. Den Bildern der Natur in No man’s land haftet durch diese Aussage und die mehrfach im Verlauf des Films thematisierte Krise der Gesellschaft etwas Verlorenes an. Direkt nach Madeleme spricht Jean (Jean-Philippe Ecoffey): „Ich liebe die Ruhe der Tannen, den Schnee, das Grüne, die Tiere. Ich habe kein Angst vor dem Land und den Tieren. Ich habe mehr Angst vor den Menschen.“ Zwischen den Polen dieser beiden Äußerungen bewegt sich der Film.

In No man’s land unternimmt Tanner ausgedehnte Naturaufnahmen von dem Wald, den Feldern und den Weiden im Jura - aber durch den Dialog, die fortwährenden Kamerafahrten und die verfremdende Musik von Terry Riley und Krishna Bhatt wahrt er Distanz. Dennoch wird die Landschaft in Einstellungen wie dem stillen Bild des aufziehenden Morgennebels auf einer Wiese und den verschiedenen Wolkenbildern des Films nahezu spürbar. Diese Einstellungen sind unabhängiger von dem Handlungsverlauf als in Light years away. Sie haben keine Hauptfiguren als Mittel- oder Anhaltspunkt für die Zuschauer und sollen keine Botschaft transportieren. Christian Dimitriu bemerkt über vergleichbare Sequenzen in Messidor, daß sie die Handlung geradezu „unterbrechen“ und als distanzierende Momente oder als „Zeichen der Stille“ wirken, „in der sich eine Spannung auflösen kann“.16

Auch in La femme de Rose Hill (1989) gibt es einprägsame Landschaftsaufnahmen von schneebedeckten Feldern im Winter, blühenden Wiesen und vom Winde bewegten Baumwipfeln im Frühling, die den Zuschauern Freiräume des Schauens und der Reflexion bieten.17 An einigen Stellen kündigen sie einen Sprung in eine andere Stimmung an: Die Bilder vom Schneetreiben im Waadtland korrespondieren mit dem eisigen Klima, dem Julie (Marie Gaydu) im Hause des Bauern Marcel (Roger Jendly) ausgesetzt ist, und die Bilder des Frühlings kündigen eine Zeit der Freiheit und des Aufbruchs an, die Julie gemeinsam mit der alten Jeanne (Denise Péron) erlebt. Am Ende des Films wird Julie von der Polizei aus der Idylle abgeschoben. Tanner zeigt das pessimistische Finale in einer blühenden Landschaft bei strahlendstem Sonnenschein. Durch diesen Kontrast wird der bittere Schluß hervorgehoben.

Der Stillstand, der den Matrosen Paul in Lissabon beschäftigte und der Jeanne und Marie in Messidor durch die Schweiz irren ließ, trifft die Figuren von No man’s land an - bzw. zwischen - den Grenzen. Sie schmuggeln Autos, Menschen und Geld aus Abenteuerlust und um die Aufbrüche, von denen sie träumen, finanzieren zu können. Jean ist der einzige von ihnen, der auf dem Lande bleiben möchte - trotz seines Wissens um das Sterben der traditionellen Landwirtschaft. Nach einem Streit mit seinem Onkel, der ihn überreden wollte, in der Stadt Arbeit zu suchen, zeigt Tanner eine lange stille Einstellung von Kühen, die auf einer Weide liegen und mit ihren Schwänzen die Fliegen verscheuchen. In ihr geschieht nichts, was die Handlung vorantreiben würde. Tanner ergreift mit dieser Einstellung Partei für Jean.

Auf eine bitter-ironische Weise erfüllt sich Jeans Wunsch, auf dem Lande bleiben zu können. Beim letzten großen Coup versuchen Paul (Hugues Quester) und er, Gold in Rucksäcken über die Grenze zu schmuggeln, und werden von der Polizei überrascht. Paul, der meinte, im Wald untertauchen zu können, wird auf der Flucht von einem Polizisten erschossen. Jean wird angeschossen. Er verkriecht sich unter einer Baumwurzel, drängt sich an den Boden und horcht. Vielleicht ist es seine Verbundenheit mit der Landschaft, die ihn rettet. Am Ende humpelt Jean auf dem Bauernhof seiner Familie an Krücken herum. Die Natur ist in No man’s land kein sicherer Zufluchtsort. Sie bietet den Figuren nur vorübergehend Trost und Geborgenheit. Ihre Schlupfwinkel sind bedroht. Die Polizisten durchkämmen auf der Suche nach Jean und Paul den ganzen Wald. Das Niemandsland wird kontrolliert.

Der Grenzbereich in No man’s land als ein Ort der Reibungen und Konflikte inspirierte Tanner dazu, seine Geschichte zu entwickeln: Paul macht Geschichten mit seiner Vorliebe dafür, „nachts durch den Wald zu gehen und das Gesetz zu brechen“, wie es im Dialog heißt. Die Grenze fordert ihn regelrecht dazu heraus, sie zu übertreten.

Die Grenzüberschreitungen in La vallée fantôme sind auf weniger selbstmörderische Weise existenziell für die Hauptpersonen des Films. Für den alternden Regisseur Paul (Jean-Louis Trintignant) geht es um ein endgültiges Verstummen als Filmemacher oder einen Neuanfang. Er sieht sich angesichts der Überfülle von Bildern und Geschichten außerstande, noch Filme zu machen. Darum ersehnt Paul nicht eine Darstellerin für eine seiner Geschichten, sondern eine Schauspielerin, die ihn dazu anregt, an ihrem Porträt zu arbeiten und von ihr ausgehend eine Geschichte zu erfinden. Mit Hilfe seines Assistenten Jean (Jacob Berger) begibt er sich auf die Suche. Die Reise führt sie von der Schweiz nach Italien, in die USA und zurück. Die vorangegangenen Reisefilme setzten sich mit der Leere auseinander und stellten sich den Medienbildern entgegen, formulierten aber nicht so deutlich und geradezu programmatisch wie La vallée fantôme die Möglichkeit einer Alternative. Tanner führt seine Idee des stofflichen Kinos anhand von Pauls Suche nach dem Bild einer Schauspielerin vor.

Zu Beginn von La vallée fantôme sitzen Jean und Paul auf einer Bank mit Blick über das Rhonetal. Jean sagt: „Schön hier. Es ist, als würde man seine Sprache wiederfinden.“ Seine Bemerkung erinnert an die Schwierigkeit von Paul in Dans la ville blanche, noch sinnvolle Worte zu finden. Sie deutet außerdem an, daß gute Orte eine ähnliche Auswirkung auf die Kreativität eines Filmemachers haben können wie die Porträts von Menschen. Doch Tanner bricht die Idylle, indem er Paul sagen läßt: „Wenn wir hier filmen wollten, müßten wir den Himmel für Flugzeuge sperren lassen.“ Und tatsächlich ist das laute Geräusch eines Flugzeuges zu hören. Pauls Entgegnung ironisiert die Szene, da Tanner sie unter Verwendung des Originaltons gedreht hat - natürlich ohne den Luftraum sperren zu lassen.

Am Ende des Films hat Paul die Schauspielerin Dara für seinen Film gewinnen können. Er geht wie am Anfang von La vallée fantôme durch ein Tal im Jura, das „Geistertal“. Hier kommen die Gegensätze des Films noch einmal konzentriert zum Ausdruck: Es ist Mai, und es schneit. Eine weibliche Stimme kommentiert aus dem Off, die Jahreszeiten „offenbarten so etwas wie Ironie“. In ihnen kommt wirklich die Ironie der ganzen Geschichte, des Aufbruchs im Alter, der Schwebe zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen Bleiben und Gehen, zwischen der Sehnsucht in die Ferne und nach dem Bleiben zum Tragen. Der Mai, der einst - in Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000 - so wichtig als Erinnerung an den Mai 68 war, daß er sämtlichen Hauptdarstellern Namen verlieh, die mit „Ma“ anfingen, ist nun verschneit, und die Ideologien sind längst erledigt. Frühling und Winter, erneute Bewegung und Erstarrung, treffen in dieser Atmosphäre zusammen. „Das Eis auf dem See war geschmolzen, aber es schneite“, heißt es im Kommentar. Paul fühlt sich in dieser paradoxen Situation in seinem Niemandsland wohl. Die Geister der Inspiration sind zurückgekehrt. Er kann wieder arbeiten - auch wenn damit nicht alle Probleme gelöst sind. Mit den letzten Einstellungen zeigt Tanner, daß für ihn eine Reise in und mit den Widersprüchen - gerade in den Bildern, die Gegensätze bergen - möglich geworden ist.

Meer

„La mer“, sagt der alter Spanier Antonio (Francisco Rabal) in L’homme qui a perdu son ombre (1991), „c’est ma mère.“ Das Meer ist seine Mutter - also ist es die „grand-mère“ seines Wahlsohnes Paul (Dominic Gould). Das erste Bild des Films zeigt die beiden großen Jungs bei einem Spaziergang am Meer. Sie unterhalten sich, doch ihre Worte werden von der Brandung übertönt. Lachend flüchten sie vor einer Welle, die nach ihren Füßen grapscht.

Auch Paul in Dans la ville blanche hat eine jungenhaft-erotische Beziehung zum Meer. Immer wieder filmt er mit seiner Supcr-8-Kamera das Licht auf den Wellen und die Gischt. Seiner Frau Elisa (Julia Vonderlinn) telegrafiert er: „Das einzige Land, das ich wirklich liebe, ist das Meer“, und: „Die Frauen sind zu schön.“ Die beiden weiblichen Hauptfiguren des Films sind - stellvertretend für die Frauen - von Tanner mit Wasser-Metaphern bedacht worden: Elisa ist die Frau vom Rheinufer. Sie ist in mehreren Einstellungen am Fluß zu sehen. Rosa (Teresa Madruga), Pauls Geliebte, ist die Frau aus der Hafenstadt. Zu einem Bild des anbrandenden Meeres ist Pauls Stimme aus dem Off zu hören: „Ich hebe sie. Stop. Ich liebe dich. Stop. Der Körper einer Frau ist zu weit.“ Die „Analogiebildung von Natur und Frauenkörper gehört zum festen Repertoire in der Wiederkehr des Mythos nach vollzogener Aufklärung“, schreibt Sigrid Weigel.18 In dem „mythischen“ Bild, das Tanner hier entwirft, werden die Frauen zur Projektionsfläche für die Sehnsüchte Pauls - bzw. der Männer. Das Bild des Meeres kann sowohl für das Erlebnis der Entgrenzung wie auch für die „bergende Natur“19, die ihn aufnimmt, stehen. Es drückt Pauls Sehnsüchte nach Rückhalt und sexueller Verschmelzung aus, nicht aber eine tatsächliche Auseinandersetzung mit Elisa und Rosa. Bezeichnenderweise spricht er seine Liebeserklärung zu einem Zeitpunkt aus, als beide auf Distanz zu ihm gegangen sind. Durch die Idealisierung der Frauen auf einer allgemeinen Ebene vermeidet Paul, sich mit der Geschichte der konkreten Frauen zu befassen.

Aber es wäre ungerecht, das Meer in Tanners Filmen allein auf seine Funktion als Metapher für das Weibliche festzulegen. Das häufige Erscheinen des Meeres in Tanners Filmen erinnert an Martin Schaubs Satz: „Die Schweiz liegt nicht am Meer.“20 Die Weite, die Tanners Hauptfiguren in Messidor und No man’s land so vermissen, haben sie in vielen Reisefilmen direkt vor Augen. In L’homme qui a perdu son ombre reagiert der Journalist Paul auf seine Sinnkrise mit einer Reise. Wie für viele andere Pauls in den Filmen von Tanner wird ihm ein Ort am Meer zum Fluchtpunkt. Hier haben die Konflikte Zeit, bedacht und ausgetragen zu werden. Die Wasserbilder, in denen keine Personen Vorkommen, bieten wie Tanners Landschaftsbilder den Zuschauern eine Zuflucht im Verlauf der Handlung.

Zwischenräume

Der Filmemacher Paul in La vallée fantôme wohnt - wie Tanner selbst - in Genf. Obwohl der Film in der Schweiz seinen Ausgang nimmt, wird sein Haus nie vollständig gezeigt. So wie Tanner ihn präsentiert, ist sein Ort eher die Rhonelandschaft oder das Geistertal im Jura als sein Haus. Auf einem Spaziergang an der Rhone fragt Jean ihn, ob das hier seine Heimat sei. Paul antwortet: „Nein. Ich stamme aus Mitteleuropa, das übrigens hier zu Ende ist. Auf der anderen Seite der Rhone liegt Westeuropa, und der Fluß fließt in Richtung Südeuropa.“ Eine Heimat ist für Paul ebenso unmöglich geworden wie für die Hauptpersonen von No man’s land. Tanner beschreibt den Ort Pauls als einen Zwischenraum, einen Ort des Übergangs zwischen Verharren und Aufbruch.

Er bietet Paul Nährboden für seine Arbeit, da er sowohl die notwendige Einsamkeit als auch den Vorschein der Reise birgt.21

In einer Einstellung arbeitet Paul an einem Holztisch hinter seinem Haus im Garten, mit Blick über das Rhonetal: ein Ausblick, in dem der Aufbruch von seinem Haus - das auch hier nicht zu sehen ist - schon mitenthalten ist. Paul ist schon zu Hause unterwegs.

Auch die Innenräume in Tanners Filmen behalten den Charakter von provisorischen Orten. Das Hotelzimmer wird für Paul in Dans la ville blanche zur ersten Station der Reise und zum Zwischenraum für seinen Ausstieg. Er bleibt einfach auf dem Bett liegen und läßt sein Schiff fahren. Doch das Hotel wird für Paul nicht zu seinem festen Aufenthaltsort. Es bleibt Ort der Reise, und Paul bleibt darin ein Reisender, unerreichbar. Seine Adresse lautet: Lisboa, poste restante.

Für Julie, La femme de Rose Hill, die von den Antillen kommt, ist das Hotelzimmer ein Ort des Exils. Es steht einerseits für ihre Befreiung aus der bedrückenden Situation im Hause des Bauern Marcel und seiner Mutter und andererseits für ihr Gefangensein in der Enge des Landes. Ihr Hotelzimmer ist ein möblierter Käfig: Sie geht darin spazieren, mißt den kleinen Raum mit ihren Schritten aus - vom Bad bis zur Tür und zurück - und singt dabei ein afrikanisches Lied. Die Kamera verfolgt ihren Gang mit Schwenks aus einer Ecke des Zimmers. Julie verläßt das Zimmer nicht. Jean versorgt sie ab und zu mit afrikanischer Musik, Essen und Gesellschaft. Hier lieben sie sich zum ersten Mal. In La femme de Rose Hill bildet das Hotelzimmer einen Zwischenraum zwischen der Enge auf Marcels Bauernhof und dem Zusammenleben mit der guten Hexe Jeanne, der Tante von Jean.

Die Hotelzimmer in den Reisefilmen sind meistens schlicht eingerichtet, beinahe karg. Sie sind wie die Landschaften in Tanners Filmen leer - leer von Bedeutung und damit offen für das Unmögliche, die Fiktion.

Auch die Cafés und Bars sind solche offenen, „transnationalen“22 Orte. Hier sitzen Menschen und trinken Kaffee oder etwas anderes, ohne Verpflichtung, in einer angenehmen Anonymität, die den Gästen erlaubt, zu beobachten, Blicken zu begegnen, ein Gespräch aufzunehmen oder es sein zu lassen. Tanner liebt es, dort Filme zu machen - oder einfach dazusitzen, zuzuhören, die Atmosphäre in sich aufzunehmen... In einem Interview sagte er: „So wie man in allen Betten Europas schlafen sollte, müßte man alle Kaffees trinken. Das wäre wie ein Initiationsritus, viel bereichernder als alle Kommissionen ihres wiedervereinigten Europas und auch viel notwendiger als alle Filme des wiedervereinigten Esperanto.“23 Der Matrose Paul wird durch eine verkehrt herumlaufende Uhr in der British Bar in Lissabon zum Ausstieg angeregt. Der Journalist Paul flüchtet aus der Stadt in die andalusische Bar seines väterlichen Freundes Antonio. Und Jean findet in Chioggia die Schauspielerin Dara in der Bar al cinema. Es dauert nicht lange, bis die männlichen Hauptpersonen in diesen Bars mit zum Personal gehören. Schon bald sind sie dabei, die Gläser abzutrocknen, den Boden auszufegen - und mit den Frauen herumzuschmusen. Die Cafés und Bars entsprechen den Wünschen der männlichen Hauptpersonen Tanners, ihrem gleichzeitigen Verlangen nach Begegnung und Unverbindlichkeit, ihrem Spieldrang.

Travelling

Zu den bevorzugten Mitteln von Tanners Mise en scène gehören die während eines längeren Zeitraums still beobachtende Kamera und das Travelling, also die filmische Fahrt. Beide sind Teile der Plansequenz, die eine genaue Bestimmung des richtigen Standorts der Kamera voraussetzt. Auf die vorgetäuschte Fahrt, den Zoom, verzichtet er prinzipiell. In den Filmen kommen ganz verschiedene Kamerafahrten vor: Gemeinsam ist ihnen eine Genauigkeit des filmischen Blicks, die von den langsamen, ruhigen Bewegungen getragen wird.

In Dans la ville blanche sitzen Paul und Rosa am Strand und tauschen sich über ihre Familien aus. Die Kamera fährt vom einen zur anderen und zurück. Die beiden sind - in einer halbnahen Einstellung - von hinten zu sehen. Ihre Gesichter sind einander zugewandt. Rosas Haar flattert im Wind. Durch die Kamerafahrten gibt es drei verschiedene Bilder in einer Einstellung: Paul, Rosa, und zwischen ihnen liegt das Meer. Nahezu identische Einstellungen finden sich in L’homme qui a perdu son ombre und Le journal de Lady M. Die langen Abläufe geben den Darstellern Zeit und Raum, ihr Spiel zu entwickeln. Die Kamera bewahrt ihre Unabhängigkeit von den Bewegungen der Figuren im Film. Sie behält ihr eigenes Tempo und ihre eigene Richtung bei. Das ist auch in einer Einstellung von L’homme qui a perdu son ombre zu beobachten: Die Kamera gleitet vom Tresen, hinter dem Antonio steht und bedient, über die Gesichter der spanischen Gäste, an einem Billardtisch vorbei, bis zur schreibenden Hand und hinauf zum Gesicht von Paul. Antonio setzt sich zu ihm, und die beiden beginnen ein Gespräch. Tanner hat diese Szene in einer einzigen langen Einstellung gedreht. Das Travelling schafft ein Gefühl für den Raum, den die Kamera durchquert. Durch Antonios Erscheinen am Anfang und am Ende der Einstellung wird außerdem die Dauer des Vorgangs betont.

Mit seiner Vorliebe für ein Kino, das sich mittels Plansequenzen auf die Stoffe einläßt, steht Tanner nicht allem da. Siegfried Kracauer war der Ansicht, im Kino gehe es um eine „Errettung“ der physischen „Realität“.24 Und André Bazin meinte, der Film sei nicht nur dazu in der Lage, „den in einem Augenblick festgehaltenen Gegenstand [zu] bewahren wie der Bernstein den intakten Körper von Insekten einer vergangenen Zeit“ - das „Bild der Dinge“ sei im Film „auch das ihrer Dauer“.25 Als filmisches Mittel, um die Dauer vorzuführen, hebt er besonders die Plansequenz hervor. Sie diene dazu, „über die Montage hinaus das Geheimnis einer filmischen Erzählform wiederzufinden, die alles ausdrücken kann, ohne die Welt zu zerstückeln, den Sinn zu enthüllen, der hinter den Wesen und den Dingen liegt, ohne die natürliche Einheit zu zerstören.“26

Tanners Filme stehen insofern in Bazins Tradition, als sie die Zusammenhänge „bewahren“ - die Abläufe also nicht zerschnippeln wie das traditionelle Erzählkino, sondern sie zeigen und begreifbar machen. Wesentlich stärker als Bazin grenzt sich Tanner jedoch von einem Abbildrealismus ab: „Die Position der Kamera ist nicht der Blick eines der Protagonisten, sondern es ist dein Blick.“27 Der ausdrückliche Verweis auf die Anwesenheit eines Autors, der den filmischen Blick bestimmt, erinnert an die frühen Filme Tanners, in denen viel Mühe darauf verwandt wurde, den Zuschauern die Kameraführung bewußtzumachen und eine Identifikation mit den Figuren im Film zu erschweren.

Die Distanzierungstechniken seiner frühen Filme hat er nach Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000 zwar aufgegeben - aber „die Distanz ist geblieben“28. Durch den Standort der Kamera und die Plansequenzen wahrt Tanner einen leichten Abstand zur Handlung, selbst in den erotischen Szenen von Une flamme dans mon cœur und bei dem Überfall auf Paul in Dans la ville blanche. So vermeidet Tanner eine aufdringliche oder voyeuristische Haltung den Figuren gegenüber. Die Distanz des filmischen Blicks ermöglicht den Zuschauern, sich selbst eine Meinung von den Geschehnissen auf der Leinwand zu bilden.

Dennoch ist Tanners Einstellung alles andere als gleichgültig: Im Prozeß des Filmemachens nähert sich Tanner allmählich über das unabhängige Begleiten und Betrachten den Personen und Orten.

Tanners späten Filmen sind „dokumentarische“ Qualitäten und „Natürlichkeit“ zugesprochen worden.29 Wenn er in No man’s land Kühe auf einer Weide filmt oder in Dans la ville blanche minutenlang einen Vorhang, der vom Wind bewegt wird, dann setzt er damit jedoch nicht ausschnitthaft dokumentarische gegen fiktionale Szenen, sondern zeigt insgesamt, daß ihm die „tatsächlichen Erscheinungen“30 wichtiger geworden sind.

Der von Tanner sehr geschätzte Filmemacher Robert Bresson hat geschrieben, seine Arbeiten gälten der „sichtbaren Rede der Körper, der Gegenstände, der Häuser, der Straßen, der Bäume, der Felder“.31 Tanners Filme fordern die Zuschauer auf, eine „Entdeckungsreise in die Bilder“32 anzutreten. Sie werden von Gesten, Dingen oder Situationen überrascht, die ihnen bekannt Vorkommen. Paul kämpft in Dans la ville blanche beim Einwickeln seiner Super-8- Filme mit dem Packpapier und stöhnt schließlich: „Ich lern es nie. Dieses Scheißpapier!“ Tanners Reisefilme sind durchlässig für Augenblicke, die an alltägliche Erfahrungen der Zuschauer anknüpfen und bei ihnen ein „Wieder- Entdecken“33 auslösen.

Bilder einer Einstellung

In den Bildern der Reisefilme hegt so etwas wie eine Antwort auf den Sinnverlust nach dem Ende des Diskurses und auf die Bilder des Fernsehens. Wie der Regisseur Paul in La vallée fantôme kann und will Tanner nicht von den sauber konstruierten Geschichten ausgehen. Den glatten Medienbildern stellt er seine dichten Beschreibungen von Landschaften, Städten, Körpern und Gesten entgegen. Tanner braucht die Menschen und Orte, um seine filmische Sprache zu finden. Er versteht sich als einen „Filmemacher des Ortes“34, der „nichts machen“ kann, wenn er nicht einen Bezug zu seinem Dekor gefunden hat.35 Selbst bei Aufnahmen in Räumen spielt häufig der Blick nach draußen, aus dem Fenster oder durch die Tür, eine wichtige Rolle. In einem Gespräch mit Christian Dimitriu sagte er: „Wenn ich mich eines Tages dazu entschließen sollte, nur noch Filme innerhalb von vier Wänden zu machen, dann wäre mir der Ort nicht mehr so wichtig. Wenn man dabei auch noch aus dem Fenster gucken könnte.“36

Tanners Innenaufnahmen lassen seine Lust daran erkennen, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen, indem sie gleichzeitig den Raum und dessen Umgebung zeigen. In den Reisefilmen finden sich zahlreiche Beispiele für Innenansichten, die sich nach außen wenden. Paul sieht sich in Dans la ville blanche ein Fußballspiel im Fernseher einer Kneipe an. Die Kamera filmt die Besucher der Bar von hinten und teilt so ihre Sicht auf den Fernseher. Dieser ist in der Mitte des Raumes zwischen zwei geöffneten Türen angebracht, die den Blick auf die Straße freigeben. Tanner zeigt in dieser Einstellung drei verschiedene Bildebenen: das Fernsehbild, die Leute in der Bar und die Türöffnungen, die wirken wie zwei von der Dunkelheit der Bar eingerahmte, aber äußerst lebendige Bilder, in denen Autos und Straßenbahnen vorbeifahren.

Während eines Gesprächs zwischen Paul und Dara in La vallée fantôme in einem New Yorker Hotelzimmer fährt die Kamera zwischen den beiden hin und her, an zwei Fenstern vorbei, und zeigt dabei immer wieder den Blick auf die Hochhäuser von Brooklyn: Diese Aussichten betonen die ausschnitthafte Art der Bilder einer Einstellung. Sie machen auf den filmischen Blick selbst aufmerksam. Die Fensterblicke in den Reisefilmen Tanners haben den Charakter von Augen, die aufgeschlagen werden und Fremdes wie Vertrautes entdecken. Die filmischen Blicke Alain Tanners haben nie verlernt, über Menschen und Orte zu staunen.

Martin Schaub, „Travelling seitwärts“, in: Werner Petermann/Ralph Thoms (Hg.), Kino-Fronten: 20 Jahre 68 und das Kino, München 1988, S. 129.

Alain Tanner, zit. nach Schaub, „Travelling...“ (wie Anm. 1), S. 119.

Vgl. Marli Feldvoß, „Gespräch mit Alain Tanner“, in: epd Film (Juli 1989), S. 13.

Christian Dimitriu, Alain Fanner, Paris 1985, S. 70.

Vgl. Norbert Grob, Wenders: Die frühen Filme, West-Berlin 1984, S. 161.

Alain Tanner, zit. nach Schaub, „Travelling...“ (wie Anm. 1), S. 119.

Alain Tanner, zit. nach Dimitriu, „Tanner“ (wie Anm. 4), S. 84.

Den Hinweis auf Tanners weites Verständnis von „décor“ habe ich bei Christian Dimitriu gefunden. Vgl. Dimitriu, „Tanner“ (wie Anm. 4), S. 84.

Alain Tanner, zit. nach Jim Leach, A possible cinema, N. J. und London 1984, S. 167.

Antoine de Baecque, „Le cinéma voyagé: Entretien avec Alain Tanner“, in: Cahiers du cinéma 455/456 (1992), S. 113.

Vgl. Jean Baudrillard, „Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen“, in: Jean Baudrillard, Kool Killer, Berlin 1978, S. 26.

Tanner zieht selbst diesen Vergleich in dem Interview mit Fosco Dubini und Klaus Gronenborn, „No man’s land“, in: Zelluloid 20/21 (Köln, Dezember 1984), S. 22.

Michael Tarantino, „Alain Tanner: After Jonah“, in: Sight and Sound (Winter 1978/79), S. 42. Gefunden bei Leach, „A possible cinema“ (wie Anm. 9), S. 181.

Mit Ausnahme von Une flamme dans mon cceur und Le journal de Lady M. war Jean-Paul Mugel Toningenieur bei allen Filmen Tanners, die er ab Dans la ville blanche drehte.

Bruno Chibane/Georges Heck/Nicolas Geiger, „Rencontre“, in: Bruno Chibane (Hg.), Un esprit libre...: Alain Tanner, Strassburg 1993, S. 17.

Dimitriu, „Tanner“ (wie Anm. 4), S. 73.

Vgl. Leach, „A possible cinema“ (wie Anm. 9), S. 119.

Sigrid Weigel, „Die nahe Fremde“, in: Thomas Koebner und Gerhart Pickerodt (Hg.), Die andere Welt: Studien zum Exotismus, Frankfurt am Main 1987, S. 190.

Weigel, „Die nahe Fremde“ (wie Anm. 18), S. 192.

Martin Schaub, „die eigenen Angelegenheiten“, in: Schweizerisches Filmzentrum (Hg.), Vergangenheit und Gegenwart des Schweizer Films (1896-1987): Eine kritische Wertung, Zürich 1987, S. 113.

Vgl. Martin Schlappner, „La vallée fantôme“, in: Zoom 2 (21. 1.1988), S. 31.

de Baecque, „Le cinéma voyagé...“ (wie Anm. 10), S. 112.

Tanner im Gespräch mit de Baecque, „Le cinéma voyagé...“ (wie Anm. 10), S. 113.

Siegfried Kracauer, Theorie des Films, Frankfurt am Main 1975, S. 109. Gefunden bei Grob, „Wenders...“ (wie Anm. 5), S. 8.

André Bazin, Was ist Kino?, Köln 1975, S. 25.

Bazin, „Was ist Kino?“ (wie Anm. 25), S. 43.

21 27 Alain Tanner, zit. nach Dimitriu, „Tanner“ (wie Anm. 4), S. 106.

Alain Tanner, zit. nach Dimitriu, „fanner“ (wie Anm. 4), S. 110.

Corinne Scheiben, „Die Fahrt im Kreis: Allegorie der Entfremdung“, in: Cinema: Fahren and Bleiben 1 (1979), S. 61. Die Zitate beziehen sich auf Messidor.

Alain Tanner, zit. nach Schaub, „Travelling...“ (wie Anm. I), S. 119.

Robert Bresson, Noten zum Kinematographien, München 1980, S. 13.

Grob, „Wenders...“ (wie Anm. 5), S. 85.

Vgl. John Berger, „Every time we say good-bye“, in: Das Magazin (Beilage des Tages-Anzeigers) 31 (1991), S. 21.

Alain Tanner, zit. nach Dimitriu, „Tanner“ (wie Anm. 4), S. 108

Mark IHunyadi und Jean Perret, „Hier und anderswo: Gespräch mit Michel Soutter und Alain Tanner“, in: Cinema 32: Territorien (Basel/Frankfurt am Main 1986), S. 13.

Alain Tanner, zit. nach Dimitriu, „Tanner“ (wie Anm. 4), S. 108.

Ulrich Wendt
geb. 1962, lebt in Hamburg als freier Schriftsteller, Musiker und Filmemacher.
(Stand: 2019)
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