Die Insel ist definitionsgemäß ein von den Kontinenten getrenntes Land. Umgeben von schützenden Wassermassen, ist sie eine abseits gelegene geographische Einheit. Sie ist das Anderswo, zu dem man nur gelangt, wenn man das Hindernis überwindet, das ihr Inseldasein begründet. Das Anderswo, das andere Land, ein Ort des Exils und der (Zu-)Flucht, wo die Phantasmen und Träume wohnen. Die Insel ist ebenso imaginiertes Land wie mit Vermessungsmarken durchsetzter Boden. Sie versteht es, unnahbar zu sein und eine ihrer Unnahbarkeit entsprechende Anziehungskraft auszuüben. Je ferner sie ist, desto heftiger der Wunsch, sich aufzumachen und dort Fuß zu fassen.
Das Gelingen des ersten langen Films von Martin Schaub resultiert aus dem Vorhaben, sich zugleich sowohl auf realistischer wie auch imaginierter Ebene einer Alp anzunähern, die im Schoß des Säntismassivs, jenes trutzigen Schutzberges des Kantons Appenzell-Innerrhoden, liegt. Auf der realistischen Ebene ist es ein ethnographisches Interesse, das die Annäherung bestimmt. Schaub versteht es, die alltäglichen Arbeiten wahrzunehmen und darzustellen. Der Tagesablauf ist von scharf umrissenen, notwendigen Tätigkeiten bestimmt. Die Versorgung der Tiere und die Käseherstellung wären aber nur anekdotenhafte Begebenheiten, wenn es dem
Regisseur nicht gelänge, die Choreographie der Bewegungen der Bauern in ihrer stimmigen Dauer wiederzugeben. Sie werden dadurch als rituelle Handlungen vorgeführt und drücken Gewißheit in einer Welt aus, deren Fortgang gewährt wird durch die Wiederholung der Gesten, die für das materielle und psychische Gleichgewicht der Beteiligten unerläßlich sind. Da ist etwa die bemerkenswerte Szene, als der |unge Kuhhirt Steine einsammelt, die auf einer Weide verstreut sind. Die weit kadrierten Bilder geben die eigentlich mythische Dimension der unermüdlichen Arbeit des Menschen im Angesicht der Natur wieder. Ein wahrhaftiger Sisyphus, der seine endlose Mühsal mit Kraft und Entschlossenheit ausführt.
Indem nun dieser Ebene jene des Imaginären und Fiktiven beigefügt wird, überschreitet Die Insel auf eigentümliche Weise die engen Grenzen des Dokumentarischen. Das Fiktive tritt im Film im Rhythmus der Schritte von John Berger auf, dem englischen Schriftsteller, Kunstkritiker und Drehbuchautor, der sich in einem Dorf in den französischen Alpen niedergelassen hat. Dieser Mann steigt zur Alp auf und erzählt nach und nach die Geschichte von Marcel direkt in die Kamera. „Die Hände von Marcel waren schwielig, übersät von Rissen, an den Handgelenken geschwollen, aber gleichzeitig sehr warm, feinfühlig in einer Art, die ich nicht beschreiben kann. Sie tätigten soviele Dinge. Sie waren wie gewisse alte Wörter, die heute nicht mehr in Gebrauch sind...“ Der Erzähler läßt neben den realen Personen einen Abwesenden aufleben, denn Marcel ist tot. Er ist abwesend und dennoch völlig präsent durch die magische Art, mit der Berger ihn vergegenwärtigt. Umso mehr, als daß er englisch spricht. Man stelle sich den kühnen Griff von Schaub vor: Er führt auf einer Appenzeller Alp einheimische Bergbauern und einen Fremden, Englischsprachigen, der die Geschichte eines anderen, nicht mehr in dieser Welt weilenden Bauern erzählt, zusammen.
An diesem Begegnungspunkt entspringt der Film. Die Arbeit ist nichts ohne die Erinnerung, die Lebenden sind nichts ohne Geschichten, die Rituale nichts ohne Erzählungen. Die Insel ist ein Film, der einer filmeigenen Arithmetik folgt: eins plus eins gleich drei. Das Dritte... eine Insel der Harmonie und der Reflexion über eine in sich geschlossene Welt, die noch in Reichweite der Hand, der Stimme und der Erinnerung liegt. Es geht um die grundsätzlichen
Beziehungen zwischen dem Menschen und der Natur, zwischen der fortwährenden Arbeit und den Geschichten, welche die Freuden und Leiden wiedergeben.
Die Insel zeigt eine wirkliche Welt, die allmählich in der Legende erlöscht, am Rande des unberührten Sees gelegen, über den am Ende des Films das Boot des Erzählers langsam dahingleitet. Und Martin Schaub antwortet damit auf unsere Frage, warum er denn heute zum Teufel so einen Alpenfilm drehe. Die Insel zeichnet haarscharf die Berührungslinie zwischen dem Ende einer Welt und dem Beginn eines Mythos nach. Sie dient als Metapher für einen geheimnisvollen, aber realen Ort, wo einige Hauptwerke unserer Kultur ihren Impuls finden mögen, und seien es Erzählungen von Trauer und Schwermut. Die unbewegliche Wasseroberfläche dieses Bergsees wird zum Spiegel, dessen Schwelle Martin Schaub überschreitet. Denn das Kino, das ihn interessiert, hält sich nicht am Schein auf, sondern dringt auf die andere Seite des Spiegels vor, dahin, wo die Welten der Lebenden und die der Toten sich seit jeher berühren.