Inmitten der gegenwärtigen Schweizer Spielfilmproduktion ist der vierte Spielfilm, bei dem die 1953 in Lyon geborene - und seit 1982 mit dem Produzenten Robert Boner verheiratete - Schauspielerin nun schon Regie geführt hat, ein Ereignis. War noch der vorausgegangene Zanzibar (1989) sowohl thematisch wie formal unübersehbar eine Auseinandersetzung mit dem großen Lehrmeister Godard, so scheint die Regisseurin hier zum ganz eigenen Stil und Ausdruck gefunden zu haben. Unmittelbarkeit und Distanz, Spontaneität und Genauigkeit verbinden sich zu einer Geschichte, die von jener Offenheit erscheint, wie wir sie mit dem Leben assoziieren. Dabei besäße sie ein erkleckliches melodramatisches Potential, das auszuschöpfen sich der Film jedoch beharrlich weigert. Denn die Hauptperson, die kleine Violette, ein pummeliges, etwas ungeschicktes, vielleicht zehn-, elfjähriges Mädchen mit strahlenden Augen, hat einen unheilbaren Gehirntumor. Der Film insistiert einerseits auf einer vergleichsweise ausführlichen Darstellung der medizinischen Diagnose, öffnet sich zugleich der Schönheit der Scanner-Aufnahmen und weiß anderseits der Versenkung des Kinds im schwarzen Schlund des Computertomographen den Anflug einer Todesahnung zu geben.
Mit ihrem Vater ist Violette unterwegs zur Mutter, die von ihrem Mann getrennt lebt und als Schauspielerin ein Engagement in Mailand hat. „Le petit Prince a dit“ lautet das Lied, das die beiden mit Hingabe zusammen im Auto singen auf einer Fahrt, die zu einer Reise der Verwandlungen werden wird. Daß die beiden dabei in neue Bereiche vorstoßen werden, wissen wir von dem Moment in den Bergen an, da sich der Blick wie in elysäische Gefilde in ein lichterfülltes südliches Tal öffnet. Auf einem
Berg an der Grenze, über die der Vater in früheren, „revolutionären“ Zeiten einst einen Freund gebracht hatte, erlebt Violette die Begegnung mit sich selbst. Während sie im hohen Gras entschlummert, scheint die Zeit wie stillzustehen; rings um sie her atmet in Pascal Martis Bildern das Leben, rufen Vögel, summen Insekten, reiben sich Gräser im Wind, dann steigt ein kalter Nebelschweif hoch, und in einem magischen Moment setzt sich ein Schmetterling auf die Schläfe des Mädchens, das daliegt wie eine Tote und doch gehalten ist vom Leben, bis es ihn, aufwachend, sachte wegwischt. Später wird sie ihrem Vater erzählen, wie der Schmetterling aus ihrem schmerzenden Kopf gekommen sei und ihn ganz leicht gemacht habe.
Es ist eine Meisterleistung der Regisseurin, wie sie ihre Figuren in den Alltag zurückkehren und dennoch diese Verzauberung fortwirken läßt. Dabei ist die Krisis noch nicht erreicht. Sie kommt, nach einem für Violette verstörenden Probenbesuch bei der Mutter, beim Frühstück auf einer Hotelterrasse am Meer. Violette mampft genießerisch ein süßes Gebäck, nachdenklich beobachtet vom schweigenden Vater, bis sie plötzlich, wie ertappt, aufhört. In einer Verlegenheitsreaktion fängt sie an, mit dem Löffel auf den Tisch zu trommeln, immer heftiger, und stürzt unversehens vom Stuhl. Da beginnt der Vater, ihr ihre Diagnose zu erklären, indem er auf einer Serviette zeichnet. Aber noch ihre erste Frage, wann sie sterben werde, versucht er beschwichtigend abzubiegen, bis er sein Kind endlich ernst nehmen kann. Und nun ereignet sich, in einem intensiven, ergreifenden Augenblick, der allmähliche Übergang von der quasi-wissenschaftlichen Erläuterung in die persönliche Betroffenheit, bis ihn Schmerz und Verzweiflung übermannen und nur noch sein Schluchzen und das starke Rauschen des Meers zu hören sind.
Der Film ist damit nicht zu Ende. In analytisch-präzisem Gestus werden nun auf spannungsvolle Weise familiäre Dynamik und Strategien zur Ausschließung des Fremden erhellt, die das Kind inszeniert, um die Familie wieder zusammen zu sehen, und die die Geliebte des Vaters mit voller Wucht treffen. Zuletzt darf Violette einschlafen. Behutsam wird das Bild ihres Gesichts ins Weiß aufgeblendet, ihren nahenden Tod andeutend und zugleich jene „lueur blanche“ evozierend, die sie auf dem Berg gesehen und von der sie zu ihrem Vater gesprochen hat.