DORIS SENN

GENTE DI MARE (BRUNO MOLL)

SELECTION CINEMA

„Se vuoi conoscere l’anima di un marinaio, devi imparare a interrogarlo. Ti risponderà parole di vita.“ Eben dieser „anima di un marinaio“ („Seemannsseele“) ist Bruno Moll in seinem Film nachgegangen, indem er Seeleute befragt hat, die ihren Lebensabend in einem eigens für sie geschaffenen Altersheim in Camogli an der ligurischen Küste verbringen.

Wie ein in den Hafen eingelaufenes Schiff thront die „Casa di riposo per la gente di mare“ über der malerischen Meeresbucht. Das so den Bewohnern des Altersheims vermittelte Gefühl des „Noch-an-Bord-Seins“ wird verstärkt durch das hörbare Tuten des Schiffshorns, den Blick auf den Schiffsmast vor der Terrassentür, das nächtliche Licht des nahen Leuchtturms und die immer wieder ins Bild gerückte Sicht auf die blaue Weite. Der Blick vom Haus auf das offene Meer erlaubt den Seeleuten, sich weiterhin ihrem Lebenselement verbunden zu fühlen, und uns, die Faszination ihres Fernwehs wenigstens ansatzweise nachzuvollziehen.

Vom Kapitän zum Schiffsmaat, vom Musiker zum Koch, vom Funker zum Heizer sind alle Stufen der Mannschaftshierarchie, die ihre Gültigkeit in abgeschwächter Form auch auf diesem abgetakelten „Altersschiff“ behalten hat, vertreten. So unterschiedlich die Aufgaben und Erfahrungen der Seeleute, ihre Motivationen, das Leben auf See zu verbringen, auch waren, die lebenslange Fahrt auf den Weltmeeren, die wiederkehrende Konfrontation mit der (Todes-) Angst und die Einsamkeit auf See haben sie zu einem eigenen Völkchen werden lassen.

Ihre seemannseigene Melancholie hat sie ein besonderes Verhältnis zur Poesie entwickeln lassen, sei es, daß sie Gedichte auswendig wiedergeben können, sei es, daß sie selbst ihre Lebenserfahrung in Verse fassen in Verehrung der geheimnisvollen Geliebten jüngerer Jahre oder der einzig ihnen gebliebenen „Lebensgefährtin“, des Meeres. In ihren mit Seemannsgarn durchwirkten Rückblenden scheinen ganz selbstverständlich die klangvollen Namen exotischer Länder und ferner Hafenstädte auf. Philosophisch muten ihre Äußerungen an, wenn sie Bilanz ziehen, schwankend zwischen trivialen Lebensweisheiten und komplexen kosmologischen Konstrukten, zwischen resigniertem Ekel über die Wiederholung des Immergleichen und verhaltener Hoffnung auf ein göttliches Prinzip, das vielleicht doch noch alles zum Besseren wenden wird.

Ihren Erinnerungen an Liebesabenteuer und Meeresstürme, an die Kreuzfahrten-Grandeur vergangener Zeiten setzt Moll den nüchternen Alltag im Altersheim gegenüber. Die Essensglocke, das wöchentliche Totospiel, Gespräche mit der Sozialarbeiterin, die ritualisierte Kaffeezubereitung und das Schäkern mit den weiblichen Angestellten prägen nun den Tagesablauf der Seeleute. Ausschnitte aus Rossinis „Barbier von Sevilla“ begleiten das Tageswerk der Angestellten, die für das Wohl der Insassen verantwortlich sind. Über die prosaische Gegenwart legt der Film den Zauber des Vergangenen, verstärkt durch die wehmütige Musik Ben Jegers, deren Akkordeonklänge - an Nino Rota erinnernd - den Bildern das Augenzwinkernd - Nostalgische Fellinis verleihen (historische Aufnahmen vom Auslaufen des Überseedampfers „Rex“ als implizite Hommage an Amarcord).

Anklänge an Daniel Schmids II bacio di Tosca sind unvermeidlich: Wie dort halten altgewordene Menschen Rückschau auf ein ungewöhnliches Leben, dominiert der Schatz an Erinnerungen, berührt der Kontrast zwischen der vergangenen Jugend und dem nun zerbrechlich gewordenen Alter; der Glanz früherer Jahre ist nur noch ferne Erinnerung. Der italienische Hang zum Philosophieren dringt allerdings in Gente di mare stärker durch. Die in Camogli vor Anker gegangenen Seebären veranschaulichen mit ihren „parole di vita“ auf ihre Weise die Metaphern vom Meer der Zeit und der Reise des Lebens.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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