ANDRES JANSER

L’OMBRE (CLAUDE GORETTA)

SELECTION CINEMA

Die Redaktion der liberalen Zeitung Le quotidien, die wiederholt über fremdenfeindliche Aktivitäten berichtet, wird zunehmend zum Ziel von offenen und verdeckten Drohungen. Guillaume, ein unauffälliger Dokumentalist, der sich bislang als Zudiener im Schatten des Star-Journalisten Lavigne wohl fühlte, beginnt auf eigene Faust den neofaschistischen Verbindungen nachzuforschen: „Un jour on n’a plus le choix.“ Kurz darauf gerät seine geruhsam gewordene Ehe, die er immer vorgeschoben hat, um sich nicht exponieren zu müssen, in eine Krise, als er erfährt, daß seine Frau ausgerechnet mit dem Lebemann Lavigne ein Verhältnis hat.

Mit deutlichen aktuellen Bezügen zeigt Claude Goretta in L’ombre, wie schon in früheren Filmen, einen durchschnittlichen Menschen, einen, der beginnt, Verantwortung wahrzunehmen und der schließlich an diesem Versuch, über sich hinauszuwachsen, scheitert. Die Verwicklungen des Privaten und des Politischen treiben die Geschichte voran, werden in ihrer Glaubwürdigkeit aber hintertrieben durch konstruiert wirkende Zufälle: nach einem emotionalen Zusammentreffen mit seiner Frau im Hotel, in das Guillaume gezogen ist, nachdem er ihren Seitensprung entdeckt hat, läuft er verwirrt auf die Straße und wird beinahe überfahren, wie sich herausstellt, von einem ehemaligen Schulkameraden. Dieser wiederum entpuppt sich als Blumenhändler, in dessen Gärtnerei kurz darauf Ramier auftaucht, der distinguierte Führer der Neofaschisten. Das ermöglicht es dem Dokumentalisten, sich Ramier als Blumenbote zu nähern und sein Vertrauen zu gewinnen.

Als persönlicher Gegner Lavignes kann Guillaume Ramiers Gruppierung beitreten und sie von innen studieren. Der riskante Weg des Doppelagenten, den er damit beschreitet, birgt ungewohnt viel Action, aber wenig Verunsicherungen oder Einsichten in Zusammenhänge. Das pessimistische Ende deutet internationale Verbindungen von Ramier und Korruption auf höchster politischer Ebene an, ohne konkret zu werden. So erscheint der Politkrimi auf eine psychologische Studie von Einzelkämpfern gegen dunkle Mächte reduziert, deren Figuren so sind, wie man sie sich vorstellt, mit wenig Tiefe und vager Motivation, trotz hervorragenden Darstellerinnen.

Andres Janser
geb. 1961, Filmwissenschafter, Kunsthistoriker, Ausstellungsgestalter in Zürich, schreibt über Film und Architektur.
(Stand: 2019)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]