PAOLO POLONI

... AUS ASMARA — FILMISCHE UND ANDERE NOTIZEN AUS ERITREA

FILMBRIEF

Wir sind nach Eritrea gekommen, um einen Film zu drehen, der von der Geschichte Eritreas und der italienischen Kolonialherrschaft handelt. Unser Blick ist ein historischer, ein rückwärtsgewandter, aber das Jetzt ist stärker als das Gestern und lenkt unseren Blick auf das, was die Leute hier beschäftigt, auf den eben erst zu Ende gegangenen Unabhängigkeitskrieg mit Äthiopien und auf den neuen Staat.

Während der Wahn der homogenen Ethnien überall Krieg erzeugt, entsteht hier ein Land voller ethnischer, religiöser und sprachlicher Gegensätze. Es gibt kein eritreisches Volk, es gibt eine eritreische Bevölkerung. Seine staatliche Identität stützt Eritrea auf ein halbes Jahrhundert italienische Kolonialherrschaft (1890-1941) und zehn Jahre britische Miltärverwaltung. Eritrea ist ein koloniales Produkt, wie alle Staaten in Afrika.

Eritrea ist heute das, was Sarajewo und Bosnien einmal waren, ein Völkergemisch. Ein Nebeneinander und Verschmelzen von Kulturen und Religionen. In den Dörfern und Städten stehen Moscheen neben koptischen Kirchen, und es scheint zu funktionieren.

Eine Utopie? Es fällt schwer, daran zu glauben; so rasch erklären abgeklärte Europäer keinen Staat mehr zum Land ihrer Wunschträume.

Asmara, die Hauptstadt Eritreas, erinnert an eine kleine, süditalienische Provinzstadt. Ihre urbane Struktur und Architektur ist die einer im liktorischen Stil erbauten Stadt der dreissiger Jahre. Ihr Erscheinungsbild ist geprägt von dem, was man verkürzt faschistische Architektur nennt, einem Gemisch aus Elementen der Moderne und neoklassizistischem Kitsch, und es fällt schwer, sich einzugestehen, daß man einiges davon schön findet.

In den vielen Bars entlang des palmengesäumten Corsos, die noch Vittoria, Impero oder Alba heißen, gibt es Cappucino, und in den Restaurants fragt der Kellner, was wir als Primo und was als Secondo essen möchten. Der Corso, die Hauptstraße Asmaras, hieß unter faschistischer Herrschaft „viale Mussolini“, während dem Kaiserreich Haile Selassies „Emperor Road“, unter dem sozialistischen Mengistu „Revolution Avenue“ und heißt nun im neuen Staat „Freedom Street“.

An der Fassade des größten Kinos Asmaras, dem „Cinema Ethiopia“, steht ein Gerüst. Arbeiter entfernen die meterhohen Neonlettern von „Ethiopia“. Die Lettern werden auf einen FIAT-Kleinlastwagen geladen, und ich stelle mir vor, wie die Verantwortlichen mit den Buchstaben Anagramme bilden, um sie wiederzuverwenden.

Die Kinos von Asmara sind riesige Filmpaläste mit Platz für 2000 bis 3000 Leute. In den Foyers, alle mit Bars aus Glas, Spiegeln und Metall sowie geschwungenen Kassahäuschen, hängen vergilbte Filmplakate italienischer Produktionen aus den sechziger Jahren, als die italienische Kolonie noch groß war. In Italien gibt es solche majestätischen Kinos nicht mehr, dort sind Supermärkte daraus geworden oder verschachtelte Pornovideokabinen.

In den Kinos von Asmara laufen vor allem arabisch gesprochene Melodramen aus Ägypten. Viele Eritreer verstehen Arabisch, die zweitwichtigste Landessprache nach Tigrinia. Ich konnte der Handlung dieser ägyptischen Soap operas gut folgen, handelte es sich dabei doch, kurioserweise, um französisch untertitelte Kopien aus dem Libanon, die wohl über abenteuerliche Kanäle den Weg bis hierher gefunden hatten.

Selbstverständlich erscheint mir die Präsenz von Kung-Fu-Produktionen aus Hongkong - sie sind überall -, weniger selbstverständlich die Präsenz von mir unbekannten, sehr mysteriösen amerikanischen C- und D-Movies- Produktionen, oft mit schwarzen Filmhelden, gedreht an austauschbaren, anonymen Schauplätzen, mediokre Action-Ware, bestimmt für irgendwelche Sub- und Sub-Submärkte der Dritten Welt. Und im Freiluftkino in Massaua, der Hafenstadt Eritreas, schauen wir uns einen indischen Western an, der anscheinend irgendwo im Himalaya gedreht worden ist, mit indischen Schauspielern als Cowboys, in Jeans und farbig karierten Hemden, mit Halstuch und Pistolengurt, und in Hindi gesprochen.

Nun, es gibt offensichtlich Filmmärkte, die nicht von den Majors dominiert sind und die über Vertriebskanäle beliefert werden, von denen wir Europäer keine Ahnung haben.

Die Zelluloidstreifen sind von brüchiger Qualität, die Projektoren uralte, ölige, schwarze Ungetüme mit Kohlenbogenlampen, die fortlaufend ausgewechselt werden müssen; ich lese: „Officine Meccaniche Prevost, Milano 1937“. Meistens geht etwas schief bei der Projektion, der Film reißt häufig oder der Ton fällt aus, und wenn auch der Film auf Hindi gesprochen ist, das niemand versteht, geht ein einziger Aufschrei durch das Publikum: „Voce! Voce!“ schreien die Leute, und man wähnt sich im Pfarreikino von Frosinone.

Ich stelle mir eine Kinovorstellung um 1938 vor: In Europa wird bald der Krieg beginnen, aber hier ist es ruhig, Europa ist weit weg. In Asmara leben über 50 000 Italiener. - Sie sehen die gleichen Filme wie die Daheimgebliebenen, denn auch die Siedler und Soldaten in der Fremde müssen verwöhnt werden. Das Abendprogramm bestand aus Spielfilm und Wochenschau. Die italienischen Wochenschauen wurden vom Istituto Luce, einer faschistischen Kreation, produziert.

In Eritrea und Äthiopien waren eigene Wochenschauequipen stationiert, zwölf Kameramänner und drei Regisseure, mit eigenen Filmlabors, mobilen Projektionseinrichtungen auf Lastwagen und einer speziellen Flugverbindung, um das Material schnellstmöglich nach Italien zu transportieren. Die italienische Invasion Äthiopiens wurde ausführlichst dokumentiert: Die Kameraleute stiegen in die Flugzeuge, filmten die Bombenabwürfe und heroisierten den ungleichen Kampf zwischen den technisch überlegenen Italienern und den Afrikanern und glorifizierten die zivilisatorische Mission des faschistischen Italiens gegenüber den afrikanischen Barbaren.

In den Jahren 1930 bis 1940 wurden über 100 Wochenschauen und unzählige abendfüllende Dokumentarfilme in Eritrea und Äthiopien gedreht, darunter II cammino degli eroi von Corrado D’Errico, der 1937 am Filmfestival von Venedig zusammen mit Triumph des Willens von Leni Riefenstahl mit dem Pokal der Partito Nazionale Fascista ausgezeichnet wurde.

Ennio Flaiano, Drehbuchautor und Schriftsteller, der am Äthiopien-Feldzug teilgenommen hatte, erzählt, wie die Equipen des Istituto Luce den Uberfall italienischer Truppen auf ein äthiopisches Dorf filmen wollten. Als sie und die Infanteristen dort eintrafen, fanden sie im Dorf schon die Küchenbrigaden vor, die gerade Pasta kochten. Die Filmequipe war wütend, die Küche mußte verschwinden und der Überfall wurde für die Wochenschau nachinszeniert.

Die Wochenschauen inszenierten Krieg für ein daheimgebliebenes Publikum. Noch nie war bis zu diesem Zeitpunkt ein Krieg so gut dokumentiert worden wie dieser. Es war eine Premiere, eine Hauptprobe für alle späteren Kriegsinszenierungen, eine Vorwegnahme der amerikanischen CNN-Berichterstattung vom Golfkrieg.

Die Hauptfilme bestanden auch in Eritrea aus den neuesten italienischen Produktionen aus Cinecittà, den von Mussolini gewollten und von seinem Sohn Vittorio geleiteten neuen Filmstudios: Ein Liebesfilm mit dem jungen Vittorio De Sica etwa oder ein in den italienischen Kolonien spielender Spielfilm, wie II grande Appello von Mario Camerini oder Luciano Serra pilota mit Amadeo Nazzari nach einem Drehbuch von Roberto Rossellini. Überhaupt, das koloniale Abenteuer in Äthiopien hat viele Kulturschaffende begeistert, nicht nur den futuristischen Kriegsmaschinerieverehrer Marinetti oder den alternden Patrioten D’Annunzio, sondern auch Filmemacher wie Mario Camerini, Mario Soldati, Goffredo Alessandrini, Guido Brignone, Carmine Gallone. Sogar Fellini wurde von Vittorio Mussolini persönlich nach Libyen geschickt, um als Drehbuchautor in einem obskuren Wüstenepos, I predoni del Sahara, eingesetzt zu werden. Der Film blieb aber unvollendet, weil die ganze Filmequipe vor dem Vorrücken der englischen Truppen des Marschalls Montgomery notfallmäßig nach Italien in Sicherheit gebracht werden mußte.

All diese Regisseure, die zum Teil für üble propagandistische und rassistische Filme verantwortlich waren, konnten nach dem Krieg nahtlos weiter arbeiten, so wie alles in Italien, die Administration, die Kultur und die Politik, nahtlos weiterging.

Es gibt Kinos in Eritrea, aber es werden keine Filme gedreht. Es gibt Wichtigeres zu tun, Dringenderes. Aber ein Volk ohne Gedächtnis ist ein Volk ohne Geschichte. Der Unabhängigkeitskrieg ist von den Eritreern sehr genau dokumentiert worden - auf Video VHS.

In den provisorischen Studios von ERRI-TV, dem eritreischen Fernsehen, herrscht eine konzentrierte, intensive Atmosphäre. Ein kanadisches Videokollektiv unterrichtet junge Leute in Studiotechnik und Kameraarbeit. ERRI- TV sendet - im Moment dreimal in der Woche - Dokumente zum Unabhängigkeitskrieg (Der Kampf um Massaua, Der Kampf um Asmara), viel Musik und auch ägyptische Spielfilme. Vor den wenigen Fernsehapparaten in der Stadt - in den Bars, Hotels und Läden - bilden sich Menschengruppen. In den Dörfern möchte das eritreische Fernsehen Apparate verteilen. Fernsehen wird hier noch für eine lange Zeit eine gemeinschaftliche Aktivität bleiben.

Ich schaue mir Bilder vom Unabhängigkeitskrieg an, welche die Kameraleute der Eritreischen Befreiungsfront gedreht haben. Sie bewegten sich an vorderster Linie, und noch nie habe ich solche Bilder von einem Krieg gesehen: Ich sehe nicht Kriegsmaschinen, ich sehe Menschen, und ich entdecke einen vergessenen Krieg. Die Leute, die mir die Videos zeigen, sind die gleichen, die sie gemacht haben. Hier machen diese Kriegsbilder Sinn, sie handeln von Menschen, die ich in den Straßen Asmaras und Massauas treffe, ich sehe die Luftangriffe der Äthiopier und erkenne Orte, wo Tote liegen, und Gebäude, die jetzt zerstört sind.

Zurück in Zürich, schaue ich mir die gleichen Bilder wieder an, weil ich sie in meinen Film einbauen möchte, aber hier haben sie ihre Kraft verloren, alles verkommt zu einem visuellen Einheitsbrei. Die Leute, denen ich die Videos zeige, reagieren unwirsch: Wo das sei? Das hätten sie doch schon hundertmal gesehen, kommentieren sie, es könne ebenso in Bosnien, in Georgien oder Liberia sein. Der alltägliche Zynismus hat mich wieder. Ich war so stolz auf diese Bilder, voller Bewunderung für die Leute, die sie gemacht haben, aber hier sind sie verkommen zu gesichts- und geschichtslosem News-Material.

Am Fernsehen laufen Bilder aus Moskau, wieder Kriegsbilder von CNN, in ihrem saloppen Anspruch, Realität zu vermitteln, wo sie doch Realität konstruieren. Ich mag nicht mehr hinsehen, sie vermitteln nicht Wirklichkeit, sie zerstören die Wahrnehmung der Wirklichkeit.

Paolo Poloni
Geboren 1954 in Luzern. Studium der Romanistik und Philosophie in Zürich und Paris. Seit 1989 Filmschaffender in Zürich.
(Stand: 2019)
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