„Collage-Technik ist die systematische Ausbeutung des zufälligen oder künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene - und der Funken Poesie, welcher bei der Annäherung dieser Realitäten überspringt.“
- Max Ernst
Einfache und naheliegende, verlockende und irritierende Fragen sind hier nicht leicht abzuwägen. Ist es nicht das nobelste Anliegen des Surrealismus, sich auf die Seite der Verführungen zu schlagen? Erfordert nicht dieses Thema eine Behandlung, die sich ihrem Gegenstand dezidierter anzugleichen hat, als diskursive Rationalität üblicherweise zuläßt? Zwar verfehlt jede Geste posierender, vermeintlich kongenialer, in Wahrheit bloß lächerlicher und unterwürfiger imitatio ihren Gegenstand, ist nichts peinlicher als kritikloses Nachbeten eines bereits Erschöpften. Dennoch: über Surrealismus ist nicht zu handeln wie über irgendein Thema, zielt er doch auf eine Umschichtung bisherigen Denkens. Auch wenn - aus der Sicht des hyperhektischen Kulturbetriebs der Gegenwart - gerade der Surrealismus durch sein geschärftes Bewußtsein für die Brüche zwischen Sprache, Denken und der Ordnung von „Welt“ der beliebigen Verwertung, beiläufigen Dekontextualisierung und Recodierung aller verfügbaren Zeichen und Symbole vehementer vorgearbeitet hat, als seinen Programmatiken zugänglich, seinen Zielsetzungen heb sein konnte, so beansprucht der Surrealismus doch immer noch eine wesentlich andere Instanz, Insistenz mit Störkraft zu sein. Als Instanz der Deregulierung hält er ein gegen den Diskurs der Macht und die semiotische Zentralisierung reaktualisierbares Potential von Sinn-Entzug offen - und dies paradoxerweise gerade wegen der ethischen Behauptung ästhetischer Amoralität, die in dieser Form nicht in die übliche moderne Denkfigur der Identität von Ästhetik und Ethik paßt. Als Insistenz einer geheimnisvollen und bedrohlichen Natur bietet der Surrealismus immer wieder Gesichtspunkte dar, nach denen etablierte Diskurse aufgebrochen werden können. Modisch ausgedrückt: Ihm eignet ein Dekonstruktivismus avant la lettre.
Der Surrealismus insistiert auf der Konvulsion, dem Dunkeln, der Wiederkehr des nichtinstrumentalisierbaren Mehrwerts im Verdrängten, nicht bloß des Verdrängten. Sein Sinnanspruch richtet sich auf die wie immer vorläufige, prinzipiell verborgene Bedeutsamkeit des Kontingenten. Surrealistische Insistenz beinhaltet die unauflösliche und zugleich unerschöpflich produktive Krise aller symbolischen Bewältigung des Wirklichkeitsproblems. Der Einklang mit „Welt“ ist nur möglich durch Intensität der Krise, kritische Intensität. Er schreibt keineswegs die Subversion der Aufklärung und eine schwarze Romantik fort, obwohl er deren später in der Rockkultur grassierende Vulgarisierungen selbst herausgefordert hat, da er auch die massenkulturellen Mystifikationen und die Partialisierungen des Edlen zum Vitalismus der Konvulsionen und zum unbegrenzt unverschämten, exzessiven Begehren rechnet. Der Surrealismus ist eine Bewegung, die sich um einen eigenen Stil bemüht, und zugleich deren Theorie, die er inmitten der Bilder durch kommentierende Bezüge zu auch theoretisch angestrengten Denkfiguren mittels Montagen zu einer kohärenten poetologischen Topographie verdichtet. Der Surrealismus ist ein prominent bleibendes Beispiel für die selbstbezügliche Entwicklung poetischer Praxis als kritische Reflexion.
Surrealistischer Film: Momentaufnahmen
Wie bekannt und immer wieder notiert, hatten die Surrealisten ein emphatisch positives Verhältnis zum technischen Bild, zur Massen- und Reproduktionskultur. Sie mochten sich zwar nicht mit banaler Moralität und platter Ideologie gemein machen, setzten aber immer auf die entgrenzende Poesie des Bildes, unersättlichen Imaginationshunger, die féerie intérieure überschießender Bildhaftigkeit und die Subtexte erotischer Metaphorik im exzessiven Verlangen nach einem Ausbruch aus der Sprache kontrollierender Vernunft. Photographie und Film, Annonce und Preisschild, Warenästhetik und Schaufensterpuppen, Kleinanzeigen und Werbesprüche - das gesamte Arsenal moderner kommerzieller Rhetorik fand seitens der Surrealisten eine systematische Beachtung. Dinge erschienen ihnen immer auch als Metaphern. Irregularitäten der Syntax, nicht die Semantik bestimmen den surrealistischen Stil, seine figurative Ausdruckskraft und ideelle Konzeption. Sie leiten sich her vom Bruch mit dem kartesianischen Ideal der Ein-Eindeutigkeit. Sprache gilt den Surrealisten als Kraft zur Verführung und ist prinzipiell außerstande, Ideen adäquat, claire et distincte, abzubilden. Sie ist nicht Kalkül, sondern das Vermögen des Irregulären und Künstlichen, das nur in der Autonomie der Bilder Brücken zur objektiven Welt schlagen kann: als artifizielle Konstruktion, nicht als propositionale Adäquation. Deshalb, auch darauf ist immer wieder hingewiesen worden, ist die surrealistische Poesie in genau dem Maße eine künstlerische Erkenntnisform, wie sie durch eine irregularitätssuchende Moral bestimmt ist. Erkennen intendiert Überschuß und Devianz durch aufs äußerste zugespitzte Wahrnehmung und Sensualität. Sie hält, im Selbstempfinden einer gefährdeten Anthropologie, größtmögliche Distanz zu normgeleiteten Symbolerwartungen.
Die innere Nähe zum technischen Bild und zur Ästhetik der sequentiellen „Feerien“, zu Photographie und Kinematographie, gilt es im Zusammenhang zu erinnern, wenn über Bedeutung und Beispielhaftigkeiten des surrealistischen Films berichtet werden soll. Natur muß im surrealistischen Film und an seinen Randzonen weit über Motivaspekte hinaus bedacht werden als Frage nach der Natur des surrealistischen Films wie nach der surrealen Natur des Films überhaupt. Es besteht für unser Thema eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen der allgemeinen surrealistischen Wertschätzung von Kinematographie, poetischer Denk-Programmatik und sequentieller Medienpraxis. Was zählt im Verlauf der 20er Jahre, von der Entwicklung der Programmatik in den frühen Schriften Aragons, seinen und Bretons Manifesten bis, am Vorabend von Volksfront und politischer Instrumentalisierung der poetischen Praktiken um 1930, zum surrealistischen Film? Die Kennzeichnung ist später für alles mögliche benutzt worden: Von den Enfants du paradis bis zu den Beatles und Frank Zappa steht „Surrealität“ für das „Träumerische“, Visionen, A-Logik, gefällige Buntheit, Überraschung und Nichtkalkulierbares, konnotiert mit unbezwingbarem Individualismus und überschäumender Kreativität. Von der écriture automatique in den Anfangsjahren bis zu den wesentlich undogmatischeren und heterogeneren Exzessen des Wunderbaren und Geheimnisvollen der entwickelten Praktiken reicht das Feld begrifflicher Nuancierungsangebote. Viele Beispiele sind durch andere Konzeptionen geprägt, durch Dadaismus und den abstrakten Film, Impressionismus, Jean Renoir, René Clair, Jean Epstein, bei dem Luis Bunuel das Handwerk erlernte, und cinéma pur. Diese Einflüsse machen sich auch bemerkbar in den vier Filmen von Man Ray, Le retour - la raison (1922), Emak Bakia (1926), L'étoile de mer (1928) und Les mystères du Chateau de Dés (1929) und in Fernand Légers Ballet mécanique (1924), das in seiner Formensprache ebenso krypto-surrealistisch wie in seiner realistischen Intention der Avantgardekunst und deren Suche nach Autonomie der künstlerischen Mittel im Stile des „reinen Kinos“ entgegengesetzt war. Léger nannte die durch filmische Inszenierung visualisierten Werte von bisher nicht gesehenen Gegenstandsteilen „neuen Realismus“.
Allgemein gilt als erster surrealistischer Film der von Germaine Dulac nach einem Szenario Antonin Artauds gedrehte La coquille et le clergyman (1927), obwohl sich Artaud bereits an der Uraufführung lautstark von seiner Mitarbeit distanzierte. Zwar arbeitete er wie Robert Desnos und Philippe Soupault weiterhin als Drehbuchautor und Darsteller an verschiedenen Filmen mit, zwar projektierten auch André Breton, Benjamin Péret und Louis Aragon allerdings nicht realisierte Filme, zwar gab es wie in andere Medien so auch in die Kinematographie zahlreiche Einstrahlungen konzeptueller Interessen und alltäglicher Aktivitäten. Man Rays Le retour - la raison etwa ist durch erpresserische Ankündigung und strategische Intervention Tristan Tzaras als improvisierte Spontan-Montage regelrecht erzwungen worden. Aber allzu vieles blieb, gemessen an der programmatischen Lancierung neuer, träumerischsubversiver Bewußtseinszustände, Stückwerk, antizipierendes Anspielen auf Offenes, so daß mehr gestische Andeutungen und internes Referenzmaterial als für das Publikum vordemonstrierte Umschichtungen des Imaginären entstanden. Wer vermochte es damals als programmatisch bedeutsam anzusehen, daß in Luis Bunuels L’age d’or von 1930 Max Ernst einen Hauptmann spielte, Man Ray und Marcel Duchamp in Entracte (1924) von René Clair unter den Augen Erik Saties auf dem Dach des Théâtre des Champs-Elysées in einer kurzen Episode Schachspieler mimten, in einem Film, der trotz der maßgeblichen Prägung durch Drehbuchautor Francis Picabia und trotz eindrücklichen Zeitmanipulationen nicht im engeren Sinne als surrealistisches Werk angesehen werden kann? Dieselbe Frage gilt auch für Anémic cinéma (1925/26) von Marcel Duchamp, Man Ray und Marc Allégret. Hier geht es um die mögliche Raumillusion rotierender Scheiben und die erotische Transformation des Spiralzeichens durch sprachliche Anspielungen, wobei die Motive des durch Katastrophen und Konvulsionen erzwungenen Stillstandes der Zeit und die Inversion des Augen-Blickes an den Reibungsflächen von Poesie und Philosophie der Geschichte als genuin surrealistische Obsessionen angesprochen werden können, die thematisch analog und ausführlich bei Alberto Giacometti wiederauftauchen (vgl. Schindler 1993). Stofflich ähnlich gelagerte, auf die Sprache assoziativen Träumens ausgerichtete Filme der inzwischen vom Impressionismus zum cinéma pur konvertierten Germaine Dulac - Etude ciné- graphique sur une arabesque (1927), Disque 927 (1929) - benutzen ebenfalls ein sequentielles Bilderdenken, das sich nicht als instrumentelle Anwendung der kinematographischen Codes auf soziale und ideologische Inhalte versteht, sondern als selbstreferentielle Untersuchung der filmischen Sprache (langue) durch ihre Ausdrucksformen (paroles). Eine surrealistische Klammer dieser Filme zwischen Dadaismus und cinéma pur kann man in der Entwicklung einer visuellen Sprache erblicken, die auf den medial bestimmten sequentiellen Filmrhythmus jenseits von Tatsachenlogik, Realismus und dokumentarischer Schilderung zielt. Solches allerdings ist von Filmhistorikern und -kritikern dem damaligen Avantgardefilm schon früh kritisch vorgehalten worden: Formalismus ohne gedankliche Tiefe, Ästhetizismus ohne sozialkritischen Impuls, selbstgenügsamer Ornamentalismus ohne visuelle Denotationskraft. Zuweilen wird die später so drastische, triviale Kommerzialisierbarkeit surrealistischer Bildkonfiguration schon an Jean Cocteaus Le sang d’un poète (1930) festgemacht und die revolutionäre Wendung/Transformation des avantgardistischen Kunstimpulses auf die Linie Hans Richter/Joris Ivens/Sergej Eisenstein verpflichtet, wobei man sich auf eine Reihe surrealistischer Gewährsleute stützen konnte - Robert Desnos, Louis Aragon, René Crevel, Pierre Naville -, die bereits um 1930 als strukturelle Krise einen selbstgenügsamen surrealistischen Kult um die künstlerische Expressivität ausmachten. In solchen Abwägungen bestimmt die begriffliche Festlegung, was „surrealistisch“ ist und was nicht.
Bleiben als eigentliche Paradigmen des surrealistischen Films, zugleich Standards der Rezeptionsgeschichte, Salvador Dalis/Luis Bunuels Un chien andalou (1928) und L’age d’or (1930). Spezialisiertere Filmgeschichten (z.B. Scheugl/Schmidt 1974: 870 ff.) erwähnen außerdem Impatience (1928) von Charles Dekeukeleire, Werke des von diesem beeinflußten Henri Storck sowie, als formalen Vorläufer, den allerdings nur in Beschreibungen überlieferten Streifen Vita futurista (1916) von Arnaldo Ginna. Alberto Cavalcanti pointiert innerhalb seiner Einteilung des französischen Avantgardefilmes - Impressionismus, cinéma pur, Surrealismus - als Hauptvertreter, des letzteren Man Ray und Luis Bunuel.
Natur und Film - das sind nicht mehr assoziierte ikonographische Felder, sondern für den Surrealismus entscheidende Korrespondenzbereiche. Film als Konstruktion wirklicher Gefühle und wirklichen Lebens, Traum aus „Fleisch und Blut“ (Kyrou 1963: 12), wird zur poetisch erfahrbaren Metapher für eine allgemein menschliche, zur Intensität aufgerufene Natur des Menschen. Die formalen Experimente, die im Surrealismus ein artifizielles und bewußtes Selbstverhältnis des Menschen kennzeichnen, formen die poetologischen Techniken in Literatur, Philosophie, Malerei, Film. Sie sind eingebunden in ein zeittypisches Verständnis von Kunst als Arbeit mit technischen Medien und techno-imaginären Metaphern (Maschine, Automatismus, technisch objetivierte Bewußtseinssimulationen, Ausreizung visueller Schocks). Als symbolische Natur des Menschen wie als natürliche Bedingung seiner Symbolfähigkeit, mithin als Sprache, erscheint die Strukturhomologie von Literatur und Film, Sprach-Schreiben und Bilderschreiben gänzlich durch die Reihen „Linearität/Sukzession“ und „Licht/Gestus/Sequenz“ bestimmt. Einen internen Übergang von „Natur im Film“ zu „Natur als Film“ und „Film als Natur“ zu vermuten, ist trotz Beweisnotstand nicht ganz abwegig. Er kann charakterisiert werden als Aneignung der Wirklichkeitsimplikationen der surrealistischen Imagination.
Natur im surrealistischen Film: Szenen, Szenographie, Beispielgebungen
Un chien andalou endet mit dem Epilog „Im Frühling“: Mann und Frau sind in eine Dünenlandschaft eingegraben. Sie sitzen wie in Becketts EndspielTonnen, bewegungslos, offensichtlich tot, am Ende ihrer Geschichte. Sie sind erstarrte Teile der Landschaft, einer universalen nature morte, den Dingen gleichgeworden, in denen sie immer wieder die Bedeutung des Lebens als Einbruch des Unfaßlichen erfahren haben. Sie bleiben selber als allegorische Totenmasken erstorbener Vitalität zurück. Die Still-Stellung der Wünsche zum Sinnbild erscheint als entropische Lähmung ihres Handlungsraums. Geschichte greift auf ihre apokalyptische Erstarrung vor, erscheint nicht als Überwindung, sondern lediglich als Element der Naturgeschichte. Tote und Lebende sind Doppelgänger und sie sind wie Doppelgänger.
Unmittelbar vor dem Epilog wandert das erneut und wiederholt vereinigte Liebespaar, das in vielerlei zeitlichen Verschiebungen, Doppelungen und, teils libidinösen, teils destruktiven Konstellationen durch die Erzählung geführt wird, dem Meeresufer entlang. Die Frau ist aus dem Raum getreten, dem Horror des Eingeschlossenseins entflohen, sie hat sich vom Bildbann einer Verwandlungsreihe - Insekt an der Wand-Totenkopf/Vergrößerung-Mann ohne Mund-Mann mit ihrem verschwundenen Achselhaar als Schnurrbart - gelöst, führt den zunächst sperrigen Liebhaber mit heftig werbenden, dann besänftigenden Gesten ins Offene. Am Strand, in einer Morastzone des Ufers, liegen wie abgestreifte Identitäten Kleider und Dinge, die im Film leitmotivisch und dingmagisch immer wieder auftreten: Hemd, Gürtel, Kästchen. Die Frau reicht dem Mann die beschmutzten Kleider. In der Geste, mit der dieser die Dinge fallen läßt, entledigt sich die Erzählung ein letztes Mal ihrer Bedeutungen, die der Gestalt der nunmehr zerfallenen und nicht mehr nutzbaren Gegenstände untrennbar innewohnen. Der Ort der Relikte und Ablagerungen, die metaphorisch für die entropisch-apokalyptische Bedingung von Natur und metonymisch für die Konstellation der Gegenstände stehen, die hier ihre finale Geltung als neue Ordnung erhalten, scheint durch die Menschen überwunden, die doch als Zeitkranke und durch Vervielfachungen ihrer Bilder Getriebene immer wieder vom vernichtenden Raum des Gleichzeitigen, des Nicht-vergehen- und Nicht-werden-Könnens, gebannt werden. Im naturgeschichtlichen Chaos der Entwertungen erhalten sie eine neue Kraft, die einzig von ihren Illusionsfähigkeiten abhängt. Als zerfallende entäußern Menschen wie Dinge die sie bestimmende Nutzlosigkeit. Als entwertete bezeugen sie die vitale Topographie der Naturgeschichte, in welche Zerfallendes eingeht und auf die das Universum der Technik und der Artefakte immer schon vorausweist. Die Profanierung der Gegenstände fällt, mindestens dem filmischen Blick, mit der naturgeschichtlichen Sakralisierung des Dinglichen zusammen. Verhöhnung geht in Versöhnung über: Gleichheit als finaler Bestand des Gelebt-Habenden. Am Ende seiner Geschichte entledigt sich der Mensch der Dinge, die sich unbezwingbar ihre eigene Topographie bewahren - geduldige Zeugen, maßlose Ankläger kraft eines leidenschaftlichen Idifferentialismus. Zurück bleibt die geronnene Form der Handlungen als Spiegel eines Entzugs der Bewegungsmöglichkeit.
Die Bedeutungen der Dinge, der Menschen, des Films haben nicht mit Chronologie zu tun. Rückwärts wie vorwärts wirken die Gegenstände sich aus. Das durchschnittene Auge, Skandal des wolkenumflorten Mondes, markiert auch bereits die Irrwege psychoanalytischer Symbolismen, die durch anspielendes Zeigen gebrochen werden. So wie sich die Musik Wagners und der Tango abrupt abwechseln, so erscheinen die Figuren im Raum: gleichzeitig und quer zur linearen, auf Unumkehrbarkeit verpflichteten Zeit. Unbestimmtheit der Figuren hinsichtlich ihres Geschlechts; kompromißlose Nachbarschaft von Leben und Tod, vermittelt durch die Selbstvergessenheit des Subjekts, das sich gänzlich den Reizen und Figuren der Ekstase wie des Phantasmatischen überschreibt. Die abgeschnittene Hand, Tod auf der Straße, die Wiederkehr des Kästchens. Un chien andalou ist gekennzeichnet durch Mehrfachbelichtungen des Metaphorischen und durch stringente Strukturierung der filmischen Codes. Vor der Episode mit Insekt/Totenkopf/Achselhaar/ Hinaustreten und vor dem entropischen Epilog verwandeln sich Bücher in Revolver. Der Mann erschießt sich als Alter ego, Vaterautorität und Rivale zugleich. Im Endlostraum des erstarrenden Lebens sinkt der Erschossene in einem Park zu Boden, ertastet eine Statue, die noch eine lebendige nackte Frau ist und im Moment seines Todes schon verschwindet; Männer kommen, der Tote wird, eher beiläufig und achtlos, weggetragen.
Die kinematographischen, filmpoetischen Übergänge sind bildlogisch motiviert, formal durch gestaltpsychologische Fokussierungen und Verbindungen ermöglicht. Strukturell handelt es sich um ein Denken in Form der Substitution einer Eigensprache der Dinge. Sie meinen nichts, sondern sind bloß. Gegenständlichkeit entsteht allein innerhalb der semiotischen Logik und der sequentiellen frames. Ameisen werden zu Achselhaar; das durch Zoom vergrößerte Insekt erscheint zuletzt als Totenschädel. Die Kamera dringt in die Tiefe, wird aber auch photographisch benutzt als Registrierapparat vorab berechneter Bilder. Der surrealistische Film ist noch ganz auf Surrealität im syntagmatischen Bereich der komponierten Sequenzen fixiert, setzt, trotz peripherer Versuche von Man Ray, noch nicht die Zufälligkeit im Gebrauch des Apparates selbst frei. Die Gegenstände kommen auf getrennte, durch die sequentielle Bewegung hintereinander angeschlossene Ebenen zu liegen. Photographierte Tatbestände roher Natur, menschliche Gestalten gehen aus der Wortwörtlichkeit des Kamerablicks hervor. Leidenschaften und Allegorien zerfallen metonymisch durch die Anordnung des Sequentiellen: Bedeutung klebt sozusagen physisch an den Dingen, welche die von ihnen wegführenden Bedeutungserwartungen zerstören. Der nature morte, die als Ausdruck historischer Skepsis gelesen werden kann, als Landschaft entwerteter Dinge, Ruinen wie im postmodernen Film eines Andrej Tarkowski, korrespondiert amoralische Erregung, wobei das Ekstatische im Allergewöhnlichsten durchbricht. Metonymie wird nicht allein filmtechnisch definiert, sondern inhaltlich: Die Obsession des Bösen erzeugt Effekte als rezeptive Irritation durch Montage. Mit dem Fortgang der Erzählung, die auch als Sammlung von physischen Bedeutungen, also Dingen, verstanden werden kann, werden die Konstellationen immer komplexer, weil sich weder Supra-Zeichen identifizieren noch Sinn-Synthesen unmittelbar herstellen lassen.
Man muß die Bewegung, die ein Zeigen der sich ereignenden Dinge ist, ganz einfach mitvollziehen. Alles wird zur, erscheint als Naturgeschichte. Natur realisiert sich in Sprüngen, skandalös. Der Schock ist das Artikulationsmedium der Natur. Deshalb ist der Film in der Weise (wie/als) Natur, wie er den Schock technisch einrichtet, um Natur, sich selbst, sein Verfahren, seinen Gegenstand, die Magie der in Lichtspur sich einschreibenden Welt zu zeigen. Zeit wird konstituiert durch die Grenzen der skandalisierenden Schocks, nach außen gesprochen: durch Schrecken, nach innen gesprochen: durch Intensität. Das wird unterstützt durch die zwischengeblendeten Erläuterungstafeln: „es war einmal“, „im Frühling“, „gegen 3 Uhr morgens“, „8 Jahre später“, „16 Jahre früher“. Der Film schreitet voran, indem die Zeit in die Zukunft zurückkehrt. Wer ist wer? Ich ist ein anderer? Mindestens ist Natur als im Film erscheinende so zu verstehen, daß die Dinge in ihrer Eigensprache sich mit naturgeschichtlicher Macht der Stofflichkeit und Logik von Material und Medium einschreiben.
Un chien andalou und L’age d’or verhalten sich kontrapunktisch zueinander. Endet Un chien andalou trotz der entropischen Landschaft des Epilogs als allegorische Kulturtopographie, so beginnt L’age d’or mit der Skorpionenepisode als Naturgeschichte. Sie prägt den gesamten ersten Teil des Filmes, der in der Wüste spielt. Geht die Bewegung von Un chien andalou von innen nach außen als Ausbruch aus der Klaustrophobie der Räume (Environnements von Seele und Körper), so kehren die Protagonisten von L’age d’or, ohne in ihrer sprengenden, rohen Leidenschaft gezähmt zu werden, in die kultivierte, gebaute Zivilisation Roms zurück. Bestimmend bleibt, leitmotivisch wie topologisch, die Leidenschaftlichkeit des Aufbegehrens als Widersprüchlichkeit, Vielschichtigkeit, Differenzkraft innerer wie äußerer Natur.
Es gibt ausreichende Beschreibungen von Stoff, Inhalt, Bedeutung und Begleitumständen der ersten Vorführungen dieses Films (vgl. Scheugl/Schmidt 1974: 122 ff.; Toeplitz 1977: 353 f.; Reihe Film „Luis Bunuel“ 1975: 64 ff.). Ich konzentriere mich im folgenden selektiv auf die topographische Zuordnung des filmischen Materials zu weiteren Klassifikationsbereichen. Der Kampf der Skorpione beispielsweise verwendet die Form des naturgeschichtlichen Lehrfilmes. Natur ist hier noch nicht bedeutsam festgelegt, wohl gerade weil die Assoziationen im nachhinein sich genötigt sehen, der amoralischen Vitalität dieses Kampfes Eindeutigkeit zuzuschreiben. L’age d’or lebt nicht allein von einem poetisch subjektivierten naturgeschichtlichen Sehen, sondern von genau dem magisch mit Verwandlungskraft aufgeladenen Blick, mit dem in der Erfahrung unbezwingbarer Anziehung das Liebespaar sich immer wieder quer zu sozialen Konventionen und den Legitimationscodes der erotischen Passion, als Brennpunkt aufbrechender, sprengender Vitalität erfährt. Eros wird archaisch-antik verstanden: er ist von den Konventionen nicht tangierbar, weil er radikale Affinitäten von Furor und Umwälzungsenergie in Natur und Geist, Leidenschaften und Bekenntnissen gleichermaßen aufspürt. Daß Natur und Geist zuweilen als eins erscheinen, verdankt sich der Korrespondenzkraft des Erotischen. Die finale Hymne ans Verbrechen propagiert keinen Positivismus des Bösen, keinen Kult der Kriminalität, ist noch nicht einmal christliche Blasphemie, sondern Ausdruck der unverbrüchlichen Energie-Einheit „Geist-Natur“, die alle moralische Zensur freier moralischer Selbstwahl zurückweist. Subjektivität zentriert ihre Leidenschaft in einer ebenso verzweifelten wie bedingungslosen, um ihre Haltlosigkeit wissenden und dennoch alternativlosen Gier nach authentischer Erfahrung. Das goldene Zeitalter steht quer zur Geschichte menschlicher Selbstentzweiung, weil im göttlichen Vermögen des Eros das Menschliche vom Numinosen noch nicht getrennt ist. Innerhalb kulturgeschichtlicher Rubrizierungen entspricht die Topographie von L’age d’or am ehesten den Sittengemälden des holländischen 17. Jahrhunderts, wenn auch die Zustimmung noch zum Häßlichsten nicht von Nächstenliebe, sondern von einer den irdischen Tod transzendierenden Kraft der Leidenschaften genährt ist. Das Differential der Leidenschaft innerhalb naturgeschichtlicher Indifferenz ist die bestimmende Form. Die später zu Skeletten versteinerten kirchlichen Würdenträger erscheinen wie die sich verfallenden Skorpione. Tableau vivant und nature morte verschmelzen. Einige der in der Einöde vegetierenden Männer sind behindert, verkrüppelt, können sich nur schwer bewegen, fallen hin. Wenn die „Majorkaner“ kommen, sieht ihre Kolonne aus wie ein Heer von Ameisen, die einen Stein erklimmen. Der sich freibrechende Trieb wird motivlich in die Rubriken Magma/Lava/Schönheit des Drecks eingereiht. Der abzuführende Liebende, der sich in Raserei verzehrt, geht aggressiv auf Tiere los. Sein brünstiges Gebrüll steht in scharfem Kontrast zur syntaktischen Glossolalie des pathetischen Redners, der einzig schon Erkanntes, das Gestein, erklärt. Zur Gründung der Stadt liegt auf einem altarhaft präsentierten Quader das erste Stück Mörtel wie ein Stück Kot. Dann folgt ein kulturgeschichtlicher Lehrfilm: eine Reise durch Rom. Vorbeiziehende Häuser, Paläste, Gemäuer, Fluß der Straßen, Eindruck des Ärmlichen. Der Mann zertritt eine Geige, ein Blick durchdringt ein Schaufenster und fixiert Plakate. Im Zimmer der Frau liegt eine Kuh auf dem Bett. Aus einem Spiegel weht der Wind. Noch das Außergewöhnlichste verzaubert sich im Reich der entfesselten Sehnsüchte und sinnlichen Imaginationsrasereien zum Selbstverständlichen. Eros als Lebenskraft ist ein Kosmos, der außerhalb seiner selbst keiner Ordnung bedarf. Deshalb geht der Vitalismus residualspezifisch immer wieder aus Schmutz, Dreck und Abfall hervor. Die von ihm selbstgesetzte Ordnung des Erotischen integriert die durch diese ausgeschiedenen, sie ex negativo bestimmenden Monstrositäten, weshalb der religiöse Furor der Leidenschaften nicht nur moralfrei ist, sondern sich vorzüglich exzessivem Handeln erschließt.
Vage d’or ist, wie Deleuze trefflich beobachtete, in dem Maße realistisch, wie er Ursprungsgeschichte als Triebgrund der Gesellschaft anerkennt und durch Spiegelungen in ihren Wirkungsweisen freilegt. „Selbst wenn sie genau lokalisiert ist, bleibt die Ursprungswelt nicht in ihrem Rahmen, ist sie der Ort, an dem sich der ganze Film abspielt, das heißt die Welt, die sich in der Tiefenschicht des so eindringlich beschriebenen gesellschaftlichen Milieus enthüllt.“ (Deleuze 1989: 174) Maß setzend sind Abweichung und Unwahrscheinlichkeit, die mit jedem neuen filmischen frame, jeder kine in die gewählte narrative Struktur einbrechen können, weshalb die filmische Technik den produktiven Schock einer dynamisierten Naturvorstellung ins intensivierte Erleben entäußert und sich metonymisch selber zum Naturgeschehen macht. Moral erscheint als Verbrechen gegen innere Natur, Inbegriff der Leidenschaften. Sie muß, wie der Surrealismus geradezu rituell fordert, schonungslos destruiert werden. Das filmisch Sequentielle verstärkt sich als Kinematographie, die leidenschaftliche Rezeption fordert. Zahlreiche Zeugnisse über die Affinität von Kino und Traum belegen diesen Sachverhalt und die paradigmatische Schärfe, die ihr Bunuel schon früh abgesehen hat. Der choc als filmische Technik, Natur zu sehen, legt auch die soziale Amoralität als Triebkraft der Indifferenz frei. Das hat - hinter der Episode der Erschießung des Kindes - den damaligen Skandal provoziert, verstärkt durch weitere Substitutionen: Der Mann trägt das Kleid der Frau genau so, wie das Phantomatische, der besessene Blick, eine verweigerte Sprache spricht. Eros bricht (im Statuenpark gar wörtlich) aus den Versteinerungen hervor. Die dynamisierende Text-Subtext-Beziehung wird im musikalischen Register verstärkt. Die als Kitschfigur ausgereizte Common-sense-Überzeugung von der Macht der Musik entspricht einer kulturellen Codierung von Macht, welche das Zerbrechen der Herrschaft des Physischen durch die Metaphysik der Leidenschaften zum statischen Bild verfälscht und Idol, Allegorie, falsches Ideal bleibt. Ein komplexes Odipus-Zitat schließt sich an die Musikalität der Versteinerung an. Leidenschaft erfaßt den Dirigenten, der erblindet und geblendet den Saal verläßt und zum Liebhaber werden möchte, wohingegen der Leidenschaftliche sich als Dirigent inkorporiert und mit einer mimetisch bruchlos fortgesetzten Dirigier-Geste nicht den Konzertsaal, sondern das Bett aufsucht.
Die Poetik des Sehens: zur kinematographischen Struktur des „Natürlichen“
Die Kinematographie hatte sich in der surrealistischen Epoche bereits von der naiven Schaulust zu einem Instrument der Erkenntnis gewandelt. Alles andere als zufällig entwickeln in derselben Zeit Philosophen, durchaus beeinflußt von der zeitgenössischen Kunst, eine strukturalistische Ästhetiktheorie, die in Prag in großer Nähe zur Avantgarde systematisiert worden ist. Dem Film wurde dabei die Aufgabe einer künstlerischen Untersuchung der Ausdrucksmittel des technischen Sehens zugewiesen. Die mediale Logik des Sequentiellen wies Eigenheiten auf, die es möglich machten, eine rohe Wirklichkeit in eine künstlerisch wertvolle umzuwandeln. Die Filmsprache liegt zwar den optischen Wahrnehmungsfähigkeiten der Menschen zugrunde, aber erst die Kinematographie schafft ein autonomes Reich, in dem die Wirklichkeit als Modell ästhetisch wahrgenommen wird. Möglich wird diese spezifisch künstlerische Erkenntnis durch eine Eigenschaft des Kinematographischen, durch die sie untrennbar mit der surrealistischen Poetologie verbunden ist: durch Entdeckungen, die darauf abzielen, jeden Automatismus aus den Zeichengliedern zu eliminieren, die zum Bereich der künstlerischen Ziele gehören (Lotman 1977: 29, 118). Ecriture automatique war die Gründungsmetapher des Surrealismus: eine die kontrollierende Subjektivität und die autoritative Entäußerung des idealistisch formenden künstlerischen Willens deregulierende Bewegung der Dinge - sich einschreibende Natur. Zu dieser écriture zählen auch Max Ernsts Frottagen der histoire naturelle. Aber da automatisches Schreiben nie auf die Herstellung geschlossener Codes zielte, sondern zur Schärfung des Metonymischen an den Bruchstellen zwischen Unvereinbarem beitragen wollte, konnte sich der registrierende psychische Automatismus der Selbstbeschreibung der mentalen Konstruktionen und Denkabläufe bedienen. Der poetologische Begriff der Ent-Automatisierung löst den subjektivitätsskeptischen Impuls der écriture automatique genau zu dem Zeitpunkt ab, da der Surrealismus eine eigene Symbolwelt hervorbrachte. Exakt in dieser Ära entstanden auch die großen surrealistischen Filme Dalis/Bunuels. In dem Ausmaß, wie die künstlerische Struktur Redundanz unterdrückt, rekurriert der Mehrwert der informationellen Codes und der nicht determinierten Signifikanten auf immer komplexer werdende strukturelle Gesetzmäßigkeiten, die durch die Vertrautheit mit Programm und Grundanliegen getragen sind. Der Skandal des Filmischen - nichts anderes sein zu können als der Schock der Technik, durch den Natur sich überhaupt erst zeige - belegt generell die Unmöglichkeit, Assoziativitäten im außerkünstlerischen Register abzurufen. Die syntagmatische Struktur des künstlerischen Films bedeutet eine Abfolge heterogener Elemente (Lotman 1977: 104 ff.), deren Bedeutsamkeit ein bloß zuschreibender psychologischer Assoziativismus nicht erfassen kann. Die von Pier Paolo Pasolini immer wieder umschriebene irritierende Doppelgesichtigkeit der filmischen Codes (äußerster Subjektivismus bis hin zur Ambivalenz unscharfen Träumens; äußerster Objektivismus bis hin zum kruden Naturalismus einer sich mechanisch einschreibenden Natur) führt im surrealistischen Film niemals zum Auszug des Subjekts aus der Kunst. Pasolini hat die Möglichkeiten der Beschreibung des Wirklichen von der Literatur auf den Film ausgedehnt und gerade ihm den vitalen Gestus zugeschrieben, welcher sich der Literatur naturgemäß durch die abstraktive Künstlichkeit der Schrift entziehe. Für Pasolini wird der Film zur ersten Sprache der Natur, zu einer „prima natura“ im Zeitalter des Techno-Imaginären. Dahinter steht die Auffassung von einer pantheistischen Transparenz des Lebens im Sinne eines energetischen Prinzips, das alles Lebendige, vom Stein bis zur Sprache, als sublimes Zeichen versteht. Daß Träume und Erinnerungen ebenso natürlich wie artifiziell sind, ist eine Grundthese des Surrealismus, mit welcher der Einsatz technischer Medien als symbolische Umwandlung der Traumspuren gerechtfertigt wird. Narrative Poesie und poetische Wirklichkeit verschränken sich in der metonymischen Montage des Realen. Die surrealistische Poetologie verschwört sich mit der verborgenen Kraft der Dinge. Die durch Frottage sichtbar werdende Natur ist dem vergleichbar, was die objets trouvés dem verzauberten Blick darbieten: eine durch das Wunderbare gestiftete Kraft der Verwandlung. Nichts anderes beabsichtigt die Feier der konvulsivischen Schönheit und die Tatsache, daß die surrealistische Tätigkeit keine des künstlerischen Suchens, sondern des immer schon sehenden Findens ist (Steinwachs 1971: 40 ff.). Die Manifestation des Selbst im künstlerischen Schaffen fällt zusammen mit dem sichtbar werdenden Text. Diese Kreatürlichkeit der Schrift ist in letzter Instanz eine naturgeschichtliche, weshalb alle Medien der Hervorbringung wirklichkeitsmächtiger Beschreibungen, beispielsweise durch, im und als Film, die zur Artifizialität gezwungene Natur des Menschen als die naturwüchsige technikgeschichtliche Extension seiner naturhistorischen Dispositionen belegen. Metaphorisch übersteigert läßt sich aus dieser Sicht gar behaupten, daß die Natur eine Erfindung der Technik sei. Der surrealistische Film schafft sich eine poetologische Technik als bewußt werdende Natur. Beispielsweise bezieht sich Max Ernst im Kontext seiner histoire naturelle 1925 auch auf Pascual Jordan und die Erkenntnisse der Mikrophysik, um seinen Zweifel an der Objektivität der Dinge zu stärken.
Natur und Film: Realismus versus Leidenschaft?
Der surrealistische Film beweist nicht nur Tauglichkeit und Programm der surrealistischen Poetik, sondern auch eine unauflösliche Verflochtenheit von innerer und äußerer Natur, sofern sie als imaginative Topologie sich entäußern, d.h. menschlichem Vorstellungsvermögen und seinem stofflichen Äquivalent, Wirklichkeit, einschreiben läßt. Nicht eine bloße Metaphorik, ein innerer Gehalt oder ein reines Vorstellungsbild ermöglicht eine solche Topologie, sondern kollektive Vergegenständlichungsbemühungen. Die Kinematographie ist ein ideales Experimentierfeld für ein Selbstempfinden, das menschliches Denken nicht durch den Gehalt des Symbolischen, sondern durch seine Funktionsweise - untergründige Affinitäten, Korrespondenzen, Deregulierung, Schockerfahrung - zu bestimmen trachtet. Insofern ist „Natur“ die Objektivation einer Topologie und durch Inszenierungen bestimmt. Auch Realismus, das haben Rudolf Arnheim und Siegfried Kracauer zu wenig gesehen, ist Sprache, artifizieller Projektionsraum. In dem Maße wie surrealistisches Denken durch den freien Fluß der Sprache (Bild, Text) sich den Mechanismen des Bewußtseins annähert, in dem Maße kann jedes Symbol als Einschreibung von Poesie in Natur verstanden werden. Analog zu Max Ernsts Frottagen aus seiner histoire naturelle prägt sich die Wirklichkeit ins lichtempfindliche Material ein. Natur ist nicht nur vorsignifikativ wirklich, sondern auch Charakterisierungsvermögen. Aber so wie die Erfahrung der Sprache sich dem Denken durch Objektivierung von Bedeutungen entzieht, sich keineswegs in ihren Ausdrücken realisiert - die innere Differenz des Denkens kommt in der Differenz von Sprache und Denken zum Bewußtsein als Differential, nicht als Ursprung oder Substanz -, so realisiert sich das bedeutend Wirkliche in den Gesten und Spuren des Traumes. Weit davon entfernt, psychoanalytisch zu funktionieren, setzt die Traumbewegung - Konvulsion des Unbekannten, Verwischungen, Ambivalenz, Mehrfachcodierung, Dekontextualisierung, Antizipation, Verzögerung, Manipulation der Zeitachsen - die Effekte des Denkens als relationales Bedeutungsmaterial frei. Deshalb sind Film und Kinematographie privilegierte Ausdrucksformen einer kognitiven Poetologie, zu deren Gegenstandsbereich Natur im Doppelsinne von innerer und äußerer Topographie gehört. Der surrealistische Film notiert eine Bewegung, der alles Denkbare zur Objektivation entgrenzter, desinstrumentalisierter Natur werden kann. Die Extremlandschaften in L’age d’or realisieren nicht allein die Gegenständlichkeit motivlich ausgezeichneter, als Übertragungsfigur sprechender Natur, sondern sind topologische Träger gestischer Bewegungen, sich einschreibende Handlungen. Insofern ist Natur im Surrealismus dynamisierte Leidenschaft und nature morte zugleich, aufgebrochene Allegorie und Verkörperung polykontextueller Erscheinungen. Aufgebrochene Allegorie meint: Verrückung der Ordnung durch Begierde und Leidenschaft, nature morte meint: Verlangsamung des Schreckens, suspendierte Signifikanz. Die artifizielle Topographie der Bewußtseinserfahrung bedarf der Momentaneität. Schock kann kein vitalistischer Rausch permanenter ästhetischer Ekstase sein, sondern bedingt kontinuierende Unterbräche des Schreckens, zeitweilige Anästhetisi rung der Reize. Einzig durch das Gewöhnliche entfaltet sich das Außergewöhnliche. Nur durch Verschiebung und Überlagerung der Zeitrhythmen wird die Mechanik des Denkens, als aufgebrochene, wahrnehmbar. Nicht anders monierte, wenn auch geschichtsphilosophisch auf eine absurde Synthese von Intensität und Bürokratie, Anarchie und Marxismus, Voluntarismus und Vernunft, Epiphanie und Heilsgeschichte, Avantgarde und Proletariat fixiert, Walter Benjamin am Surrealismus das Kontrollmoment einer Erhellung des Profanen gegen die Idolisierung der Räusche. Er vermeinte gar, darin ein höheres Sinnbild des im Alltag der Vernunft selber Zuarbeitenden erblicken zu können. Damit allerdings wiederholte Benjamin bloß die instrumentelle Wendung Bretons gegen den ursprünglichen autonomen Surrealismus im Namen zeitgeschichtlicher Parteigängerschaft, also: kurzfristiger Blickweisen. Das verkürzte Surrealismus als Formbewußtsein auf intentionale Äußerungen. Nature morte ist im Surrealismus aber allegorisches Tableau, das nicht mehr Sinnbilder zeigt, sondern Bildformen. Weshalb hier, erst recht am Filmischen, die technoide Verkürzung des Surrealismus auf écriture automatique eine Grenze hat: Dissonanzen und Metonymien, Unterbräche und Entzüge, die differentielle Bestimmung des Denkens, nicht die sensuelle Dynamisierung des vermeintlich Ungesteuerten charakterisieren das surrealistische Bewußtseinskonzept. Daran schließen die Kulturkämpfe der 20er Jahre an, besonders der zwischen Surrealismus und Konstruktivismus. Der Surrealismus war damals Objekt eines im Namen von kultureller Hygiene operierenden Säuberungsdiskurses. Bauhaus und de stijl kämpften zwar nicht ausdrücklich gegen die Entartungen in den dunklen Triebgründen, aber ihr Platonismus schloß den Surrealismus als monströse Konter-Position aus. Explizit kämpften dann die Abstrakt-Konkreten gegen die vorgeblich surrealistische Entartung des gesunden Volksempfindens. Auch am Kontrabann des Echos dunklen Verlangens bemißt sich, wenn auch defensiv und indirekt, die deregulierende Qualität des Träumens.
In seinem Vorwort zu Binswangers Traum und Existenz schreibt Michel Foucault, der dieser Arbeit bezeichnenderweise ein Zitat des „großen surrealistischen Außenseiters“ René Char voranstellt: „Durch das tiefe Eingetauchtsein im Unbewußten partizipiert die Seele - mehr als in ihrem freien bewußten Zustande - an jenem Miteingeflochtensein im Allgemeinen und an dem Durchdrungensein von allem Räumlichen und Zeitlichen, wie es dem Unbewußten überhaupt zukommt. Insoweit kann die Traumerfahrung ein Fernsehen sein, das sich auf die Horizonte der Welt richtet: dunkle Erkundung jenes Unbewußten, das von Leibniz bis Hartmann als verstummtes Echo - im Menschen - jener Welt begriffen worden ist, in die er gestellt ist“ (Binswanger/Foucault 1992: 42). Zeit und Subjekt „im Menschen“ sind kollektiv bedeutsam. Natur, so postulieren die Surrealisten, die nicht müde werden, dies als maßgeblichen ethischen Impuls ihrer Poesie herauszustreichen, ist die konstruktive Handlungsbühne, keine dem Menschen entgegengesetzte Stofflichkeit, erst recht keine ihm teleologisch zuarbeitende Kraft, kein instrumentierter Echoraum geordneter, zuweisender Proportionalität. Natur ist ihnen ein offenes, auf Zukunft bezogenes, dynamisierendes Umwälzungsgeschehen, allerdings nicht im Blochschen Sinne einer apriorisch von allem Bösen gereinigten Lichtnatur des sich kraft kategorialem Vorschuß prototypisch befreienden Menschen. Dagegen erinnert die surrealistische Konvulsion nicht allein Intensität, sondern auch Verstrickung in Schuld, Scheitern und Hinfälligkeit. Leben und Tod unterscheiden sich nicht diversiv, sondern sind korresponsiv im universalen naturgeschichtlichen Werden. Erinnerung und Traum wirken als Korrespondenzfiguren eines unterhalb der Intentionalität sich in der Dauer seines gelebten Vollzugs schärfenden Denkens. Im surrealistischen Film kommt eine ästhetisch beschriebene Logik des Denkens ebenso zum Ausdruck wie ein im Verhältnis von Ordnung und Irregularität, also nicht rein teleologisch konzipierter Naturbegriff. Zwar gibt es zahlreiche, der land art von Robert Smithson vergleichbare, entropische Naturdarstellungen in der surrealistischen Bildniskunst. Diese erzeugt aber keine Allegorien, sondern reflektiert die Konstruktionsprinzipien der nature morte. Das analytische Prinzip des Natur-Bösen, nicht allein das verdinglichter Rationalität sich entziehende Natur-Schöne, erweist sich darin problematisierend, daß die dynamische Vitalität der begriffenen als der poetisch vorgestellten Natur nicht auf polar sortierte Inhaltlichkeit oder einen durch ein platonisch reinigendes Schönheitspathos geleiteten manichäischen Dualismus reduziert werden kann.
Von der Kunstform der Natur zur Konvulsion des Schönen: wider einen kompensatorischen Ästhetikbegriff
Akzeptiert man, daß geistige Beschäftigungen sich nicht aus konventionalisierten Formen ab-, sondern aus vitalen Interessen herleiten, dann ist offensichtlich, daß Surrealismus nicht nur kein historisch sich erschöpfendes, ikonographisch rubrizierbares Thema ist, sondern über Stilfragen hinaus auch programmatisch, affirmativ und aktuell begriffen werden kann. Rezeptive Intentionalität und formale Substanzialität beteiligen sich dann aktiv am durch Surrealismus angestrebten Kulturwandel in dem Sinne, in dem der Surrealismus selbst sein Abenteuer definiert hat: als symbolisch vergegenständlichte, sich ihrer Wirksamkeiten durch leidenschaftliche Objektivierung ihres Ausdrucksmaterials - Sprache, Bilder, Emotionen - vergewissernde Selbsterkundung des Denkens, seiner Mechanik und Funktionen. Das transgressive Prinzip von durch Gesten und Automatismen entblößten Potentialitäten des menschlichen Geistes schärft die ästhetische Differenz zwischen geistiger Schöpfung und Organisation ihres Ausdrucksmaterials. Insoweit zählt die Funktionsweise des menschlichen Geistes zur histoire naturelle.
Spur und Gestus, Morphologie und Topologie des Geistes sind nicht von einer entmoralisierten Naturkonzeption zu trennen. Die mediale Reflexion dessen, was surrealistische Filmsprache bedeutet, zielt auf die tiefer liegende Problematik und Faszination, ob nicht die sequentielle Form und visuelle Narrativität des Filmischen, die Montage der Zeit durch Kinematographie als innerstes Prinzip des surrealistischen Geistes verstanden werden kann, der sich als natürliches Geschehen empfindet. Dann ginge es nicht mehr nur um Natur im surrealistischen Film - motivlich, ikonologisch, topologisch -, sondern um die für Surrealismus typische poetische Konstruktion von Natur als einem sich jedem Signifikanten einschreibenden Gestus des mentalen, visuellen, linguistischen Bedeutens. Die Metaphorik der histoire naturelle erwiese sich als Topologie natürlicher Bedeutungen - nicht indexikalisch als Anzeige, Ikon oder Signal, sondern als Bewegung, Energiefluß, Zeichen-Assoziativismus. „Natur“ ist schlicht unfähig, keine Bedeutungen zuzulassen. Insofern Abbruch der Kontinuität, Überraschung und universales Verweisen für Natur kennzeichnend sind, öffnet sie sich der Potentialität aller zukünftigen Bedeutungen. Natur erweist sich als Pantheismus ohne Teleologie, aber mit permanenter Verknotung von Heterogenem. Als Signifikanz von Natur erweist sich der Film, der die Bewegung des Geistes innerhalb der Erscheinungen montiert. Nicht allein in Poesie, Transgression und den Metonymien, sondern auch in der natura naturans der Zweckbestimmungen erfährt sich das Bewußtsein als natürliche Bewegung: Gestus, Spur, Inschrift.
Abschließend möchte ich auf eine seinem Wesen entsprechende Aktualisierung des surrealistischen Denkens hinweisen. Es zu stärken scheint mir - nach den konjunkturellen Zyklen des imitativen Verschleisses von Jackson Pollock über die arte informale bis zum Alltagsbedarf kryptoreligiöser Kunstvermittlung - ein mehr als gerechtfertigtes, ja dringliches Anliegen. In einer Zeit, in welcher die vom Surrealismus vorgeführte Geste des Apokalyptischen statistische Evidenz erhalten hat, in einer Epoche, in welcher das Theater der Grausamkeiten als Genozid wiederkehrt, in einer Kultur, in welcher die Kategorie des Wunderbaren sich durch den fundamentalistischen Skandal unausdenklich barbarisierender Gewalt blamiert, in einer Ära schließlich, in der die Unlenkbarkeit einer zerbrechenden Welt nicht nur von ermatteten Künstlern, sondern auch von verblendeten Wissenschaftlern durch die Behauptung kompensiert wird, die Natur sei aus sich heraus wunderbar ästhetisch, in jede Sichtweise gehe das Wunder einer ganzen Wirklichkeit ein, die „fraktale Welt“ bezeuge eine harmonikal geordnete Natur, deren Schönheit objektiv-ästhetisch nach Maßzahlen und Wohlklängen proportioniert sei - in einer solchen Welt voller unheiliger Allianzen zwischen fundamentalistischen Ästhetizismen, ermüdend herbeigesehnter Ordnung um jeden Preis und dem barbarischen Terror neuer Religions- und Kulturkriege scheint mir die Revokation der surrealistischen Subversion dringlicher denn je. Gegen die starre Regelordnung der Sinne und die präsumptiven Substitute teleologischen Denkens, selbst gegen die Letztansprüche des Nicht-Identischen und die Metaphysik des als Ordo gedachten Abschlusses aller Erfahrungen, entsagt der Surrealismus nicht allein jenem Moraldiktat, das sich in der Behauptung menschlicher Güte noch immer als deren Negation herausgestellt hat, sondern auch jedem objektivistisch auf harmonikalen Schein ordnungsontologisch verpflichteten Naturbegriff. Gegenwärtig nimmt besonders im naturwissenschaftlichen Denken ein reaktionärer Harmonikalismus einen immer größeren Platz ein: als bloße Wiederholung des Positivismus des 19. Jahrhunderts oder als eine weitere Kompensationsfigur in der Geschichte der kognitiven Ohnmacht? In der surrealistischen Beschwörung des Skandals als Denkprinzip von Natur Nicht-Identität, Schock, Momentaneität, Automatismus, Montage, Assoziativismus des Wunderbaren, Zufälligkeit, Kontingenz - erblicke ich heute wieder eine der seltenen radikalen Denkfiguren von Freiheit. Die surrealistische Zersetzung symmetrie-mythologisch gesetzter Ordnungsharmonie zeigt, daß die histoire naturelle des menschlichen Geistes sich nicht vor, jenseits oder außerhalb der Gesten, Intuitionen und Improvisationen entwickeltster Sinnesvermögen abspielt.