LARS HENRIK GASS

DER ERFUNDENE FILM — NOTIZEN ZUM SICHTBAREN

ESSAY

„Alles Sichtbare haftet am Unsichtbaren - Das Hörbare am Unhörbaren - Das Fühlbare am Unfühlbaren. Vielleicht das Denkbare am Undenkbaren

- Novalis

Kurzfristige Einladung als Vertretung zu einem Symposium über Max Ophüls; es folgt ein Vortrag über maschinelle Effekte in Liebelei (1933). In der sich anschließenden Diskussion entstehen Probleme mit der Vermittlung einer Verschiebung im Erkenntnisinteresse, nämlich nicht mehr begriffliche Einheiten, Stil, Dinge und andere Klassifikationen vorauszusetzen, sondern über „Sichtbarkeiten“, über „Bedingungen der Wahrnehmung“ und ihren „Gebrauch“ zu verhandeln. Äußerste Konsequenz der Einsicht in beobachtungsabhängige Realitäten ist das Abräumen der Metaphern und das Aufbrechen der Einheiten. Es erscheinen vollkommen veränderte Phänomene, sobald von den Bedingungen der Wahrnehmung, ästhetischer Kommunikation, Dauer der Lektüre und Sichtbarkeiten anstelle von Dingen und Formen oder von physiologischen Effekten anstelle von Seinsweisen gesprochen wird. Auch das sogenannte „Analogische“ des Bildes ist eine Kategorie des Denkens und nicht die Rückseite des Spiegels, der Komposition oder des Materials. Während der Vorbereitung hat sich mir die Frage gestellt, ob nicht Anlaß besteht, von der Geschichtlichkeit singulärer ästhetischer Phänomene und singulärer Imaginationsleistungen anstelle von allgemeinen und überzeitlichen Klassifikationen zu sprechen. Allgemeine Unterscheidungen zwischen Photographie, Film, Theater, Malerei, Literatur usw. werden somit im Gebrauch ästhetischer Mittel relativiert. Ich habe auf einmal meine gesamten Archivrecherchen weggepackt; ich wollte den Film erfinden und nicht „beweisen“, vom Ereignis eines einzelnen, nicht von der Referenz des einen sprechen. Der Bruch mit der „Wissenschaft“ findet statt, wo man aufhört, an das Wiedererkennen zu appellieren; denn die „Wissenschaft“ wurde errichtet, damit Gemeinsinn und Gebrauch der Erscheinungen gewahrt bleiben.

In Mack Sennetts Boxerslapstick The Knockout (1914) ist durch das Boxen das Theater als eine Urszenerie des Kinos präsent. In diesem Film wird der Konflikt zwischen zwei Maschinen der Sichtbarkeit deutlich. Der Boxring schien im Kino erst einmal nur in der Form des Szenischen, als Bühne vorstellbar. Der Kampf findet in einem Theater statt, in dem Szene und Zuschauerraum durch die imaginäre Grenze eines ästhetischen Gesetzes getrennt sind, zum einen in der Blickordnung des Theaters (Saal - Proszenium - Bühne) und zum anderen durch Angleichung des Kameraausschnittes an diese Ordnung (Annäherung der Achsen von Bühnenportal und Kader). Aber das K.o. für das Szenische im Kino ist bereits die Reversibilität von Zuschauern und Beschauten mit dem 180-Grad-Umschnitt in den Saal, sind die Inversionen und Verkettungen zwischen den Sehinstanzen, die sich im Kino noch durch die gesamte Geschichte des Stummfilms ziehen. Der variable Ausschnitt des Films machte nämlich nicht die Pluralität von Szenen innerhalb eines Rahmens möglich, sondern einen Bereich virtueller Sichtbarkeit jenseits des aktuellen Raum- und Zeitrahmens. Das frühe Kino bezieht einen großen Teil seiner Komik aus dem Spiel mit den neu entdeckten kinematographischen Möglichkeiten. Bei Sennett dirigiert etwa der Hauptdarsteller Roscoe „Fatty“ Arbuckle beim Umkleiden den beweglichen Kameraausschnitt wie einen Paravent vor dem Publikum. Die Virtualität des Kinematographen kommt in den Film als Bedrohung durch die Bad Guys und durch Verfolgungsjagden. Einer hat auf den Sieg Arbuckles gewettet und droht ihm während des Kampfes mit der Pistole, in den Ausschnitt hineinfuchtelnd, bis er dann selbst den Ring besteigt und in einer chaotischen Verfolgungsjagd sukzessive der gesamte Raum szenischer Repräsentation zusammenbricht. Die Verfolgungsjagd ist eine kinematographische Erfindung, ein tendenziell endloses Abspulen der Sichtbarkeiten (in den Ringfilmen des frühen Kinos eine tatsächliche Endlosschleife), da unablässig nichtszenische Orte in Beschleunigungen be- und entvölkert werden. Die besondere Affinität zwischen Boxen und Kino muß wohl in der virtuellen Dezentrierung der Szene und der Unverhältnismäßigkeit des Geschehens liegen. Schon die ersten Filme in den Guckkästen der Jahrmärkte zeigten Boxkämpfe, und Sergej Eisenstein holte - bevor er zum Film kam - den Boxring ins Theater. Selbst Bertolt Brecht fand - bevor er mit der Verfremdungstheorie erneut in die Theaterillusion einer kritischen Distanz verfiel - in den Boxstadien eine Faszination des Schauspiels wieder, die das bürgerliche Theater mit der Institutionalisierung des Szenischen verloren hatte. Im frühen Kino war - und ähnliches gilt für die Filme von Andy Warhol - mit der Entdeckung einer Frontalität des Sichtbaren der Raum einer virtuellen Interaktion des Theaters tatsächlich sehr viel präsenter als dort selbst.

Auch in Sennetts Film ist die Disproportion der Körper mehr als die Groteske einer Music hall; Arbuckle und Charlie Chaplin (hier noch in einer Nebenrolle) repräsentieren unterschiedlich kinematographisch deformierbare Körper, verschiedene Trägheitsmomente (wie auch Laurel und Hardy). Biegsamkeit und Schnelligkeit trugen im Kino den Sieg über das Schwerfällige und Monströse davon. Chaplin war der letzte Dinosaurier des Kinos, der zugleich Star sein konnte; denn mit dem Auftritt der Stars und ihrer Inszenierung starben die monströsen Körper dahin. Federico Fellini hat eine eigene kinematographische Mythologie geschaffen: das Monströse und Mechanische, das zu Kleine und zu Große. Bei ihm ist das Kino der einzige Ort, wo eine Wiederkunft der Träume möglich ist und ein hypothetisches Leben nicht die Träume hintergeht. Vielleicht waren die größten Lieben von Casanova die Riesin des Jahrmarktes und die mechanische Puppe. In den Filmen von Robert Bresson ist das Gefängnis eine Metapher für den Kinematographien; dort steckt man tiefer in der Sichtbarkeit - gewaltsamer vielleicht - als in anderen Künsten. Gleichzeitig, mit dem Ende der Staffeleikunst, rückte auch in der modernen Kunst der Affekt des Sichtbaren näher als die Betrachtung. Als Immanuel Kant in der Kritik der Urteilskraft mit der Analytik des Erhabenen das lediglich Schöne überschritt, entdeckte er das „Kolossalische“ oder Unvorstellbare, womit er zugleich Zweifel an der Kraft der Vernunft erweckte.

Das Theater kannte nur zwei Blicke im strengen Sinn, den der darstellenden Personen und den des Zuschauers; der Film kennt darüber hinaus noch den der Kamera, eine dem Blick vorgeschaltete Intentionalität und einen durch Ausschnitthaftigkeit und Dauer des filmischen Apparates bedingten virtuellen oder gesichtslosen Blick, der einen Raum der Sichtbarkeit/Hörbarkeit etabliert und durchkreuzt. Die Sichtbarkeit ist gesichtslos, und man wird ihr kein Gesicht geben können; man ist in die Gesichtslosigkeit eingelassen, ihrem Blick ausgeliefert. Das Blickdiagramm ist einer unablässigen Verschiebung, einem fortdauernden Ungleichgewicht ausgesetzt, wodurch eine Unterscheidung und Identifizierung von Blicken gegenstandslos wird. Das Rätsel der Sichtbarkeit im Kino beruht auf dieser Unentscheidbarkeit, nicht aber auf einem Alternieren der Blickinstanz. Das Problem der Sichtbarkeit hat Philosophie, Phänomenologie, Psychoanalyse und Filmtheorie gleichermaßen beschäftigt, weil der Film ans Denken erinnert. Das Off, das mediale Exit des Films, wurde zur anthropologischen Beunruhigung durch einen Raum, der weiter als die Empirie und tiefer als das Historische war.

Das Kino brachte in diesem gestaltlosen Raum ein Kabinett filmischer Monster hervor, weil man den Horror durch eine Partialität des Blickes und eine Disproportion der Körper ebenso faszinierend wie erschreckend fand. Die Monster wüteten im Raum des Sichtbaren durch ihre Übergröße und Immaterialität, durch eine Gestaltlosigkeit, die einzig das Kino erzeugen konnte. Aber sie wurden schließlich doch eingerahmt und fixiert. Das war die Tragik des Ungeheuers King Kong (King Kong, 1933), stellvertretend für alle anderen Ungeheuerlichkeiten des Kinos: im Wolkenkratzerwald der Großstadt verlor es den Vorteil der Überproportion, und am Schluß verschwindet es als Partikel in der Stadtkulisse. Alles nahm seinen Lauf, weil es sich in eine zu kleine Frau verliebte. Es muß lange schon im Dschungel des Sichtbaren gehaust haben, bevor der Ton ins Kino kam und der blondierte Star, der es vor die Kamera köderte. Mit dem Kino gab es auf einmal eine Art Unangemessenheit von Betrachtung gegenüber den Erscheinungen auf der Leinwand und eine Unverhältnismäßigkeit der Ausmaße. Die Beunruhigung über die Begrenzung des Blicks ist so alt wie die Institution, die sie hervorrief. Vielleicht konnte deshalb Edgar Wallace, dem Drehbuch assistierend, mit dem Untier nichts anfangen; er wollte daraus den romantischen Helden eines Kriminalstücks machen. Dagegen konnten Merian C. Cooper, dem Auftraggeber, der Dschungel nicht undurchdringlich und die Urviecher nicht immens genug sein. Den Affen ließ er entgegen realistischen Maßstäben in den Größenverhältnissen variieren. Die Bildwirkung kalkuliert auch der Initiator der Expedition im Film, als er an Bord schon einmal probehalber das Frauenopfer vor der unbekannten Ungeheuerlichkeit den Schrecken mimen läßt. Und nicht zufällig hat Cooper einen ursprünglichen Entwurf geändert und einen Regisseur auf Entdeckungsreise geschickt. Einem Ondit zufolge ist das Kong von Gong abgeleitet. Ein großer Teil des Schreckens wird im Film durch Unsichtbarkeit, durch eine in die Hörweh eingesickerte virtuelle Sichtbarkeit hervorgerufen. Der Gong, mit dem die Eingeborenen das Tier herbeirufen, ist die akustische Transformation in den Bereich hinter der Mauer, jenseits des Offensichtlichen. Damit schreibt der Film sich in eine Wunschgeschichte des Kinos selbst ein, nämlich hinter die Mauer zu sehen, die Begrenzung des Blicks überschreiten zu dürfen. Aber der Blick in die traurigen Tropen des Kinos wird einzig von den Zivilisierten begehrt; sie sind es, die sehen - und wissen - wollen. Und schon kommt ihnen das Unbewußte als feindliches Ding entgegen, das sie bändigen und erlegen müssen. Die Foto- und Filmapparate kommen in den Film wie Waffen. Wenn „es“ da sei, so heißt es im Film, so lasse es sich auch photographieren.

Die Monster des Kinos sind Stellvertreter der Angst vor einem objektlosen Blick. Sie mußten aus dem gestaltlosen Raum hervorgezerrt und auf dem Altar der Leinwand als habhaft gewordene Dinge geopfert werden. Die Wiederkehr des struggle for life im Kino konditionierte den Blick auf Fakten statt aufs schaulustige Versinken in den Bildern. Das Verbrechen des Monsters King Kong ist vor allem der Diebstahl des Schauobjektes Frau. Der Kampf, den die Männer im Film führen, gilt dieser narzißtischen Kränkung. Der Sexualneid verfolgt das Tier in die Tiefe eines kinematographischen Raumes, macht es sichtbar, kreuzigt es auf der Bühne als Schauobjekt und richtet es schließlich durch die Überproportion der aufgerichteten Großstadt, durch erigierte Rationalität. Traurigkeit des Ungeheuers: keinen Ausweg mehr in die Unsichtbarkeit, ins Nicht-Wissen zu haben. Der Film partizipiert damit an einem Stück Naturbeherrschung, das stattfand, als die analogischen Medien und der Historismus anfingen, „wahre“ Bilder und Fakten zu sammeln. Daraus ging der Nachrichtenterrorismus der „Information“ und des „Dokuments“ hervor, den heute das Fernsehen auf den immobilisierten und phlegmatisierten Körper ausübt. Bilder und Fakten haben die virtuellen Welten des Sichtbaren und Sagbaren verdrängt. Darüber droht man leicht in einen ikonoklastischen Moralismus zu verfallen.

Man setzt sich unweigerlich ins Unrecht, wenn man Desinteresse am „Politischen“ bekundet, das doch nichts anderes ist als eine Aktualisierung der Fakten. Die „Wahrheit des Faktischen“ und nicht seine Auslegung ist dafür verantwortlich, daß alles ist, wie es „ist“. Die richtigen Bilder und Wörter wären vielleicht die falschen oder fehlenden. Es besteht im Dialog wenig Aussicht auf Verständigung, wenn einer die Art des Denkens wichtiger findet als die Fakten des Gemeinsinns, der mir sagt, man müsse doch begreifen, doch sehen, was „offensichtlich“ und „tatsächlich“ ist, und könne sich allenfalls irren, da man nicht etwas, sondern anders sieht und nicht zwischen „Meinungen“ wählen will, die „recht“ haben. Die Angst vor dem Objektlosen ist Angst vor der Macht des Unverhältnismäßigen oder dem „Unwirklichen“, dem nicht jedermann Offensichtlichen und Tatsächlichen. Wäre das denn die Angst vor den Auswegen? Die „Fakten“ sind der Wunsch nach Stillstellung. Und der Politiker beruhigt mich über das Leben nicht durch das, was er sagt (denn wenn er überhaupt „etwas“ sagt und nicht nur nichts, so gibt das eher Grund zur Beunruhigung), sondern durch seine Anwesenheit selbst, indem diese einen „Platz“ einnimmt oder füllt, der sonst als „leer“ empfunden werden könnte (es ist nicht sehr banal, wenn man denkt, daß er deswegen vorzugsweise „beleibt“ ist); oder ist es vielmehr so, daß man die „Leere“ fürchtet, weil er „da“ ist, weil er, wie er sagt, mich „stellvertritt“? Star und Kandidat sind Ahnen der Götzen, die den Blick an die Warenwelt ketten. Die Leere ist die Angst vor dem Chaos, den formlosen oder „falschen“ Bewegungen und dem Gestaltlosen, das Gestalt annehmen und Platz einnehmen muß, damit es entweder als Feind oder Stellvertreter identifiziert und eine Ordnung hergestellt werden kann. Deshalb gibt der Kandidat mir die Illusion seiner „Wahl“ oder Ersetzbarkeit; doch ich wähle unter Gleichen, indem ich Kandidaten wähle. Der Kandidat ist das domestizierte Monster, der Diktator das entfesselte, und die Nachrichtensendung hat die Rolle der B-Pictures übernommen. Es ist heutzutage kein großes Vergnügen, ins Kino zu gehen; schlimmer aber ist, wieder herauszukommen.

Abends mit Freunden in der Glotze Arnold Schwarzenegger als Terminator angeschaut. Wir wollten uns unterhalten lassen, mußten aber, weil wir die Veranstaltung nicht sonderlich originell fanden, dauernd reden, um Spaß zu haben. Hinterher dachte ich, der Film nehme den Horror vor etwas Ungeheuerlichem, indem er es als eine Angelegenheit von Individuen und vernünftigem Umgang mit Technik begreift, ihn zu beseitigen, und die Apokalypse im Atomzeitalter nochmals als Kampf von Titanen oder individualisierten Monstern zu lösen. Am Ende wäre es nur langweilig gewesen, wenn einem nicht die Idee gedämmert hätte, da walte eine Anthropologie, die auch Bomben wirft.

Der Horror verliert in den Filmen von Bresson seinen phantastischen Gegenstand. Er setzt noch vor der Angst ein und ist durch keine Maßnahme mehr auslöschbar. Jedes Bild ist eine Wunde, die vom Sichtbaren als Spur zurückgelassen wurde. Das Bild ist die Passage eines Ereignisses, das die Sichtbarkeiten als Effekt zurücklassen. Bresson hat deshalb niemals aufgehört, eine Frontalität der Darstellung und eine Verselbständigung des Bildes zum Guckkasten zu verhindern. Fortwährend erscheinen Bewegungen aus dem Raum hinter der Kamera, werden Körper angeschnitten, wird die Geschlossenheit der Räume aufgehoben durch Vermeidung rechter Winkel, durch Treppen, Fenster und Türen, die sich auf ein Außerhalb des Bildes öffnen, einen Bereich diffusen Wissens. Das Bild wird aufgebrochen, damit sich in ihm nichts verfestigt. Es gibt kaum Kamerabewegungen, weil die Sichtbarkeiten das Bild streifen, es durchziehen sollen. Wie in den Romanen Dostojewskis entfällt die Beschreibung eines Milieus durch eine übergeordnete Instanz oder eine literarische Autorität. Der Blick wird arretiert; man kann dem Bild nicht ausweichen, es nicht „abgrasen“ - wie Paul Klee gesagt hätte -, um ihm Fülle zu geben. So lastet das Unsichtbare um so drückender; es ist ungeheuer nah. Manchmal ist man schon vom Bild erfaßt, bevor man erfaßt, was passiert. Bresson konnte noch weiter gehen als die Malerei mit der Taktilität. Man schaut kaum noch auf ein Bild, weniger noch in einen Raum; das Bild schaut heraus. Die Strategie einer affektiven Taktilität zeigt sich in den frühen Filmen vor allem durch eine Ästhetik der Affektspuren. In Les dames du Bois du Boulogne (1944/45) sieht man durch die Tür einen verschwindenden Lichtstreif auf Helenes Gesicht - da Jean die Wohnung verläßt - und hört im Dunkeln das Einschnappen des Schlosses. Nur die Tränen auf den Wangen der verlassenen Frau bleiben von der Nacht zurück. In Une femme douce (1968/69) ist die Geschwindigkeit der das Bild durcheilenden Ereignisspur bis an die Grenze der Wahrnehmbarkeit beschleunigt, wenn die Sanfte sich vom Balkon stürzt. Jede der Einstellungen hat sie soeben verlassen und in ihnen den Leuchtschweif einer zu schnellen Intensität hinterlassen, einen fallenden Tisch, ein herabwehendes Tuch. Das Ereignis ist schneller als Gegenwart und Augenblick. Man versteht Bressons Vorbehalte gegen körperliche Expressivität. Es gehe, sagt er, nicht um eine Bewegung des Ausdrucks von innen nach außen, vielmehr um den Eindruck, die Impression. Er wolle seine Geschichten ohne Ornament, ohne den Zusatz der Erzählung zeigen. Er will in ihnen eine funktionale Linie finden, Ereignisse, nicht Dinge.

Vielleicht gibt es im Kino zwei Arten, Bilder zu machen: indem man entweder von der anderen Seite der Leinwand ausgeht oder aber von der Vorführkabine. Die Mehrheit im Kino bilden die Illusionisten und Zauberkünstler, denen das Bild Raum einer Darstellung ist, während die Minderheit der Projektionisten weiß und zeigt, daß sie nach vorne schickt, was im Saal aus der Tiefe des Spiegels zu kommen scheint (Godard, Bresson, Greenaway, Kren, Emigholz, Duras, Schwarze u.a.).

Vortrag an einem Symposium über Photographie und Film. Ein Exponent der Photo-Philologie (Spezialität: photographische Genres) greift mich an, so dürfe man nicht über das Thema sprechen, das, wie ich fand, weder „Gegenstände“ noch „Dokumente“ kenne. Es schien, als habe man ihm liebgewonnene Objekte entwenden wollen.

Kunst ist längst nicht mehr positiver Gegenstand einer Ästhetik. Die Differenz dessen, was Kunst bezeichnet, ist weit weniger durch Form selbst als durch ihre Ausdifferenzierung und Kommunikation in sozialen Systemen definiert. Kann man das Ästhetische als eine „Sichtbarkeit“ reformulieren? Wie aber erscheint diese Äußerlichkeit - denn sie „ist“ nicht -, auf die durch Sprache jener helle Schatten des Sagbaren fällt, das Sichtbare, das jedes Sprechen stimuliert und in Wirklichkeit doch niemals als Gegenstand des Sprechens gelten kann? Eine Sichtbarkeit ist keine Form, kein Ensemble von Gegenständen und keine Darstellung oder ein Darstellbares; sie ist das Wahrgenommene, die Erscheinung im Gegensatz zu den Dingen, die „wirkliche“ Erscheinung im Gegensatz zur erfahrenen „Wirklichkeit“. Das Sichtbare ist weder auf die Dinge noch auf die Sinne reduzierbar, es ist nicht „tatsächlich“, sondern das, was ein Licht hervorbringt und unter bestimmten Bedingungen zur Erscheinung kommen kann, das Aufblitzen oder die bedingte Erscheinung: in einem Stilleben Paul Cézannes nicht der Apfel, sondern das Gemalte und in Olivier Messiaens Katalog der Vögel nicht der Vogel, sondern das Komponierte.

Im Werk Michel Foucaults bezeichnen Gefängnis und Klinik Orte der Sichtbarkeiten. Der Blick ist selbst eine Stelle in der Sichtbarkeit, eine abgeleitete Helligkeit in einem diffusen Außen, sagt Gilles Deleuze in seinem Buch über Foucault. So bezieht sich das Sichtbare zugleich virtuell auf andere Sinne, im Kino auf das Hörbare. Das „Bild“ ist ein Milieu in doppelter Bedeutung, als Sichtbarkeit und Einrahmung oder als Klischee und Ausschließung. Sichtbar macht man etwas durch einen Bruch, sagt Bresson.

In Jean-Marie Straubs und Daniele Huillets Film Cézanne (1989) ist das Verhältnis zwischen Sichtbarem und Sagbarem als ästhetisches Problem behandelt. Sowohl „photographische“ Komposition als auch Diktion des Textes zielen auf eine Strategie der Entstaltung. Straub/Huillet komponieren ein Bild im Gegensatz zu virulenten Bildklischees, im Wissen um alle bereits unmöglichen Bilder, niemals aber nach einer guten Gestalt oder Aussicht, in der Dinge hervorstehen. Das Bild ist eine mentale Option unter Ausschließung visueller Vergegenständlichungen, eine mögliche Öffnung des Sichtbaren durch - wie Cézanne und Klee sagten - das „objektive Bewußtsein des Chaos“. Es ist im Sinne Georg Simmels „Landschaft“, weil es seine Einheit durch eine mentale Ausschnitthaftigkeit erhält, und man kann diese Landschaft nirgends anders als durch diese Ausschnitthaftigkeit erfahren. Die physiologische Qualität der Bildkomposition ist die äußerste Indifferenz und Unbestimmtheit des Sichtbaren. Der Blick soll nicht in eine Aussicht schauen, in der ihm bekannte Formen oder Ansichten auftauchen, sondern die analoge Wiedergabe einer Landschaft, eine Wiese der Sichtbarkeit abgrasen. Die Dokumentation des Bildes ist im strengen Sinne kompositorisch; sie „konstruiert“ eine Gestaltlosigkeit. Die tableauhafte Betonung der Einstellung erfordert eine stark rhythmisierte Lektüre, wie in den Bildern Cézannes.

Man beginnt zu verstehen, warum Straub/Huillet dieses Pathos der „Einstellung“ vertreten: deren physiologischer Effekt soll das Aufwirbeln von Imagination in einer photographischen Lektüre möglich machen. Die Einstellung dokumentiert nämlich nichts Identisches - ein Ensemble von Eigennamen im Gegenteil, die „Dokumentation“ - das Photographische - soll das Identische gerade entstalten helfen, indem die Einstellung in allen Teilen als gleichwertig behandelt wird, indifferent in sich und different zu allen anderen. Deshalb versucht auch die Diktion von Cézannes Worten aus den Gesprächen mit Joachim Gasquet, die im übrigen nicht als authentisch behauptet und ebenfalls dokumentiert werden (durch Daniele Huillet mit französischem Akzent), die Eigennamen und Substantive in einem indifferenten Sprachfluß zu entstalten, den Sinn in einer Melodie zu öffnen. Niemals soll der Text zum Kommentar oder sollen die Bilder zu seinen Illustrationen werden. Beide Äußerlichkeiten - zwei unversöhnliche Schattenreiche - verharren in ihrer Unvereinbarkeit, um durch Kollision einen Imaginationsraum freizusetzen. Die Reproduktion einer Landschaftsphotographie dagegen setzte kaum das Vibrieren der kinematographischen Dauer frei, die hier ein photographischer Kader besitzt, der sich einem Tableau annähert. Die Photographien im Film, die Cézanne bei der Arbeit zeigen, dokumentieren nicht eine Landschaft, sie dokumentieren die Abgeschlossenheit und zeitliche Entrückung des künstlerischen Prozesses. Cézannes Worte und ihre Diktion schreiben in den Film die Bedingungen - nicht die Gebrauchsanweisung - ein, unter denen er gelesen werden kann, die Strategie seiner Komposition. Der Unterschied zwischen „Verfremdungstheorie“ und dieser Strategie ist ein Unterschied ums Ganze, weil Straub/Huillet tatsächlich nach der Positivität einer Einstellung, nach der imaginären Bewegung eines physiologischen Effekts suchen, der bei ihnen durch Dissoziation kompositorischer Linien erreicht wird (Bild, Musik, Sprache, Ton). Das Verfahren ist nicht einmal gestisch; vielmehr werden die Bedingungen einer Lektüre überhaupt medial neu positioniert. Der Film klärt die Konfusion zwischen zweierlei Äußerlichkeit, öffnet sie durch Dissoziation und Entstaltung und ermöglicht dadurch ihre parallele Lektüre. Es genügt nicht, Dinge und Verhältnisse zu kritisieren, man muß die Bedingungen schaffen, unter denen sie als Produkt von Vergegenständlichungen erscheinen. Es wäre falsch, hier von einer „Politik der Form“ zu sprechen, weil das Kino von Straub/Huillet weder Formen aufsucht noch inszeniert; vielmehr soll ein unvollendetes Projekt der klassischen Künste fortgesetzt werden durch Neudefinition von „Lesbarkeit“. Das Unternehmen ist dem Cezannes wahlverwandt: wie kann man diesseits der Dinge und Namen sehen; wie kann man sehen, was man nicht sehen kann, lesen, was man nicht lesen kann; oder wie kann man dem Gesetz entwischen?

Was im Kino passiert, bevor man „etwas versteht“, ist dem vergleichbar, was Kinder von der Musik erfahren, deren Texte und Techniken sie noch nicht verstehen. Überhaupt ist die Rationalisierung und Spezialisierung des Verstehens dubios, wenn über einen Film „nicht verstanden“ verfügt wird, anstatt zu fragen, was mit einem passiert ist. Wer „versteht“ und warum? Das „Wissen“ ist die Rache der Spezialisten. Der erfundene Film hingegen ist der sarkastische Trost des Denkens gegen die Philologisierung der Erscheinungen.

Berichtet wird, Ludwig Wittgenstein habe sich, erschöpft von seinen Ausführungen an den Nachmittagen, abends zur Entspannung - die er einmal mit einem Duschbad verglichen habe - in Kinos zurückgezogen, deren Besuch seinen Studenten untersagt war, dort aber stets durchaus angespannt in der ersten Reihe gesessen - was man sich durch seine Sehschwäche erklärte, die er nicht zu korrigieren bereit war -, meist ein mitgebrachtes Brot verzehrt und, ihrer Kunstlosigkeit wegen, vor allem amerikanischen Filme, vorzugsweise Musicals mit Ginger Rogers und Fred Astaire, geschätzt. Wahrscheinlich wäre der heimliche Kintoppbesucher, dessen literarische Vorliebe übrigens amerikanischen Detektivromanen galt, um nichts bereit gewesen, sich über einen dieser Filme in der Ernsthaftigkeit zu äußern, die er sich und anderen in seinen Seminaren abverlangte, selbst wenn er gelegentlich dem Kino Denkbeispiele entlehnte, wie in den Philosophischen Bemerkungen: Die „Gegenwart“ sei nicht das Bild des Filmstreifens - im Sinne einer physikalischen Zeit -, „das gerade jetzt im Objektiv der Laterne steht, im Gegensatz zu den Bildern vor und nach diesem, die noch nicht oder schon früher dort waren; sondern das Bild auf der Leinwand, das mit Unrecht gegenwärtig genannt wurde, weil gegenwärtig“ hier nicht zum Unterschied von vergangen und zukünftig gebraucht wird. Es ist also ein bedeutungsloses Beiwort.“ Vielleicht fand Wittgenstein im Kino jene „wirkliche“ Erfahrung wieder, die ein metaphysischer Gebrauch der Sprache mit Metaphern verdunkelte, eine gegenwartslose Dauer der Wahrnehmung ohne Vergangenheit und Zukunft. Es ist, als habe der vom Sprechen erschöpfte Philosoph abends jene Wahrnehmung aufgesucht, die er nachmittags mühsam zu vermitteln unternommen hatte. Derjenige, der ins Kino geht, scheint ein anderer als derjenige zu sein, der spricht.

Gespräch mit Daniele Huillet und Jean-Marie Straub für eine Tageszeitung. Eine Komplizität - Ranküne der Eckensteher -, die sich im Umgang mit diesen Rigoristen einstellt, läßt uns zum Zweck der Werbung für ihren Film Zusammenkommen (in der Tat aber haben sie einflußreichere Unterstützer als mich). Beiderseitige Unlust an einer Gesprächssituation, deren Rollenverteilung dadurch festgelegt ist, daß sie den Mehrwert der Attraktion liefern müssen und ich ihn herauskitzeln soll; wir sprechen darüber, wie man die „Propaganda“ und die Phrasen vermeiden kann. Die Redaktion hat die Passage herausgenommen, der Text habe dort „keine Fahrt“ gehabt (richtig: wir hatten keine Segel gesetzt).

In Wien Kurt Kren im Café Jelinek getroffen. Er saß hinter einer doppelten Frittatensuppe und sagte nein, er sei zum Filmemachen zu müde, aber er schaue noch gelegentlich an, was die anderen unter „experimentell“ verstehen. Seine uneitle Einsilbigkeit beschämte mich, weil ihm das Wissen, dem ich nachlaufe, nichts bedeutet.

Den Filmphilologen bedeutet „Cinéphilie“ nur das Wissen, das man heraus- und hineinschleppt, wenn man ins Kino geht, die Stars, Genres, Namen, Zahlen usw., den Filmliebhabern hingegen nur die Vergötterung, die sie vor den Altären der Leiber und Bilder aufführen. Ist aber Cinéphilie nicht das Nach-Leben des Kinos, was andauert, wenn man nicht sieht, was einen ansieht, bevor man ein Wissen davon hat - was, wie Jean Louis Schefer sagt, unsere Kindheit „betrachtet“ hat? Diese éducation sentimentale war oft die Sozialisation des nicht nur filmischen Lebens. Vielleicht bleibt man im Kino stets jenes Kind, von dem Serge Daney behauptete, es lasse sich immer noch einmal „kidnappen“. Man behält Erinnerungen an Filme nicht wie an Geschichten, die erzählt werden können, sondern wie an ein Leben, das man stets heimlich „daneben“ geführt hat. Das Kino ist Teil einer vollendeten Zukunft, des Archivs eines experimentellen Ichs, das Gedächtnis eines Ungedachten. Happy-End und Auflösung sollen diese Welt sanft entführen, eine Scheidung zwischen uns vorbereiten, den Trennungsschmerz lindern helfen. „Oh, douleur, ai-je rêvé ma vie?“

Das Kino spricht nicht. Darüber war man sich zur Zeit des Stummfilms sehr viel klarer als heute. Eine eigene Geschichte hat und ist das Bemühen, es zum Sprechen zu bringen, das immer auch ein Kampf um Anerkennung und Seriosität des Kinos war. Historisch fällt die Entdeckung und die Domestizierung des Kinos durch das Sprechen des Wissens, den Kanon der Philologie, kultureller Institutionen und der Liebhaberei mit seiner sozialen Bedeutungslosigkeit zusammen. Man hätte also über das Kino sprechen können als diskursiven Gegenstand des Wahren, als materiellen Gegenstand der Rettung oder als ideellen Gegenstand einer Melancholie, als Wissenschaftler, Archivar oder Amateur. Man trifft immer auch eine Wahl des Sprechens. Die „falsche“ Wahl, die nicht zwingend eine dieser Alternativen enthalten mag, wird allgemein sehr übelgenommen. Was aber hätte man vom Kino wissen wollen? Und wer darf wie sprechen? Anläßlich einer Veranstaltung, zu der „führende“ Filmkritiker eingeladen waren, wurde die Frage zur Diskussion gestellt, worin „Sinn“ und „Perspektiven“ der Filmkritik bestehen. Wahrscheinlich haben die Spezialisten schließlich den Sinn und sein Publikum gefunden; sie werden dafür bezahlt.

Klee malte Landschaften, die der Blick in verschiedener Weise „abgrasen“ muß. Auch eine Photographie schreite ich zunächst nicht grundsätzlich anders ab als eine Bild-Wiese Klees. Eine Sichtbarkeit ist „eßbar“, könnte man sagen. Das ist mit dem Kino vorbei; denn wurde ich nicht schon tausendunddreimal von einem Film verspeist? Man wird von dem Film „gesehen“, der einen fasziniert; aber geschieht dies nicht auch mit Photographien und anderen Bildern? Umkehrung der Kritik durch „Ikonophagie“: Ich werde „gegessen“ in dem Maße, wie ich fasziniert bin. Das „Bild“ ist nicht das Abbild von etwas, vielmehr bin ich es, der zu seinem Abbild werden muß, damit es zum Bild werden kann. Die Realisten glauben so sehr an „etwas“, daß sie im „stillgestellten“ Bild ihre „Freiheit“ wiederzufinden glauben, die der Film ihnen nahm; sie vergessen, daß bereits die Photographie ihre eigene Bewegung hat und die Wahl der Bewegung immer schon für das Sehen getroffen wurde. Nur der Gemeinsinn, nur das Klischee und die „Wahrheit“ des Dokuments stellen still und verletzen nicht. Mit der Sichtbarkeit des Werks aber, einer Bewegung, die mich „betrifft“, unterhalte ich eine Beziehung „körperloser“ Gewaltsamkeit.

Filmen begegnet man manchmal wie Menschen; beim Wiedersehen kann es zu Überraschungen kommen. Zuweilen auch ist derselbe ein anderer Film. Man versucht, diese Schwankungen gemeinhin auszublenden. Im Gegensatz zu dem Dozenten, der Roberto Rossellinis Viaggio in Italia (1954) vorstellt und ein Problem damit hat, den Film „realistisch“ zu nennen, aber es anscheinend gerne möchte, bemerke ich nun die Schwierigkeit, sich auf den Neo-Phantasmagorismus Rossellinis einzulassen. Man ist derart auf den Realismus im Kino fixiert, daß man das Moment von Realitätsauslöschung übersieht (und ablehnt), das der Film mit einem veranstaltet. Man hat beim Sprechen über das Kino so lange am Realismus festgehalten, weil man den Mächten des Falschen und der eigenen Faszination mißtraute. Rossellini machte Wahrnehmungsbilder, in denen privilegierte und phantasmagorisch hervorgehobene Elemente erscheinen. Nicht zufällig wird die Verabschiedung des neorealismo über einen Bruch in der Erzähltradition angezeigt: Ingrid Bergman heißt „Joyce“ und der - verstorbene - Onkel „Homer“. Das lyrische Ich der Frau kollidiert mit den Empfindungen vor Ort, und die Beobachtungshaltung der Fremden wehrt einen Gegenblick ab. Die Bergman bewegt sich in einem mentalen Raum und in der Angst vor dem fremden Körper. Bereits in Germania anno zero (1947) handelte es sich um die Irrealisierung der Wahrnehmung in einer Art negativen Sozialisation, da es nicht mehr um Akkumulation von Wissen geht, sondern um eine schuldhafte Vereinzelung im gesellschaftlichen Zusammenhang. Die Körperzeit eines autistischen Individuums beginnt in der Suspension von Handlung die eschatologische Zeit des traumatisierten Kollektivs abzulösen.

Der Ethnologe Marcel Mauss besann sich in einem New Yorker Krankenhaus einmal, wo er in Frankreich bereits den Gang der Krankenschwestern gesehen hatte, und er entdeckte, daß es in amerikanischen Filmen gewesen war. Mauss berichtet darüber in einem Text über Techniken des Körpers. Eine kinematographische Körpergeschichte stellte so ziemlich alles auf den Kopf, was in Filmgeschichten zur Geschichte des Films geschrieben steht. Man kann das etwas schematisch am Beispiel von Herbert Schwarzes Film Das bleibt, das kommt nie wieder (1989-92) erläutern, der die traditionelle Unterscheidung zwischen Dokument und Fiktion aufhebt. Die Geschichte des Kinos und die Geschichte Deutschlands scheinen sich in der Biographie der Mutter des Regisseurs exemplarisch zu berühren. Der Film ist zunächst einmal eine kinematographische Untersuchung, die der eigenen Verstrickung in Erfahrungsmuster nachgeht, die keineswegs politisch oder historisch abgrenzbar sind. Es wird ein kulturgeschichtlicher Raum „Deutschland“ durchlaufen, und dort werden Indizien für gesellschaftlich bestimmte Distanzverhältnisse im Verkehr der Körper und in einer romantischen Bildvorstellung aufgesucht. Schwarze entdeckt von Caspar David Friedrich (der so etwas wie den melancholischen, 1848 politisch gescheiterten Beobachter in die Malerei gebracht hat: niemals ist der Betrachter im Bild) über Veit Harlan bis hin zu Werbefilmen eine optisch distanzierte Wahrnehmung und thematische Verbindungen; es entstehen Landschaften unter Ausschluß des Körpers. Es gibt da eine Verdrängungsleistung, die sich gegen den Körper als Objekt von Erfahrung richtet und die man in Malerei, Sprache, Musik und Kino verfolgen kann. Eine thematische Reihe bildet das Problem der Kontakterfahrung im Film. Die Mutter formuliert ihre Widerstände gegen körperliche Nähe und ihren Wunsch, lieber als Mann geboren worden zu sein. Der Film zeigt an dieser Stelle Dokumentaraufnahmen von Bundeswehrmanövern, in denen Männer Formen eines ganz anderen Körperverkehrs durchexerzieren, aber auch Angebote einer möglichen Auslöschung des eigenen Körpers in einer Gruppe. Die scheinbar uneinheitlichen Materialien des Films machen transparent, wie und warum das Bedürfnis nach Körpernähe mit Gesellschaft zu tun hat. Die fiktionalen Elemente des Films (Spielfilme aus der Jugend der Mutter - Filme des Nationalsozialismus) erhalten eine dokumentarische Qualität, denn es läßt sich ihnen ein bestimmtes Verhältnis der Körper zueinander bzw. eine bestimmte Haltung zum Körper überhaupt entnehmen, andererseits erhalten die sogenannten privaten oder dokumentarischen Elemente eine fiktionale Qualität, da in ihnen Körper nicht als natürliche, sondern als gesellschaftlich inszenierte erscheinen. Am Schluß wird man bemerken, daß die eigenen Widerstände gegen den Film Teil seines Themas waren.

Aus einer kinematographischen Körpergeschichte könnte man sich nicht mehr fein raushalten, wie auch die Filme von Heinz Emigholz demonstrieren. Emigholz macht Kino als Radar-Denken; das Gehirn aber ist der Film. Seine Weigerung, den analogen Wirklichkeitsbezug aufzugeben, ist ein melancholischer Konstruktivismus, dem das Dokument Requisit eines Körperbezugs bleibt, der aber kein Paradies und kein Refugium in der Versenkung der Lektüre findet. Jede Versenkung ist bereits durch Überlagerungen und Lektüren verstellt. In dem Film Der 7.ynische Körper (1986/90) vernetzen Personen physiologische Spannungsverhältnisse von Photographien mit der eigenen Körperbefindlichkeit. Die Körper werden psycho-physiologischen Verfallszeiten ausgesetzt. Wo der sowjetische Konstruktivismus das Kollektiv mit neuen Produktionsmitteln verschalten wollte, läßt Emigholz atomisierte Körper in einer physischen Zeiterfahrung durcheinanderstolpern. Ziel der Konstruktion ist die Konzentration eines physischeren Geistes oder eines mentaleren Körpers: das Stück mehr Sinnlichkeit, das der Herrschaft des Geistes abgerungen wurde. So erklärt sich auch die Transparenz des Lichtes bei Emigholz, eine scheinbar sonnenlose Helligkeit: in den Bildern durchdringen Zeit und Raum sich in Oberflächenspiegelungen, nicht in räumlichen und zeitlichen Verhältnissen. Wer guckt, ist in einem Universum ohne Schatten und Gegenwart das geringste Problem. Diese Form einer vertikalen Montage hatte vielleicht Eisenstein in dem Text über Raumfilm anvisiert: eine freie Variabilität des Rahmens und eine Komposition von der Bildtiefe bis in den Projektionsraum. Die Welt dreht sich nicht mehr um die Zuschauer; die Gedanken bewegen sich wie Astronauten in der Welt. Die Bewegungen entwerfen einen schwerelosen Menschen, dessen Sinnen nichts mehr schief erschiene außer Verhältnissen, in denen das Wort „gerade“ einen Platz hat.

Emigholz hatte längst bemerkt, daß man im Kino einen Bruch zwischen den Dingen und dem Sehen darstellen kann. Seine frühen Filme zeigen Gleichzeitigkeiten von Räumen und deren Kombinationsmöglichkeiten. Die ersten heißen Schenec-Tady (1972-75), was nach einem indianischen Idiom so etwas wie eine schöne Aussicht verspricht. Man schaut aber nicht in eine Landschaft, die Landschaft schaut in den Kopf. Filmtechnik dient nicht mehr der Nachahmung eines Blicks, der herumschwenkt und souverän über das Wann, Wie und Wo entscheidet. Die Naturidylle wird als Blicksofa demontiert, und das Neben- und Hintereinander der Raumeinheiten werden durchdekliniert, daß einem Wirklichkeit zu entfahren scheint. Eine Landschaft multipliziert sich technisch ohne das Ich als Schauplatz. Da wackelt der Blick und nicht der Wald, wenn die Dinge aufeinanderrücken und der Raum entgegenkommt. Durch Auf- und Abblenden und durch Einzelbildschaltungen wird vorgeführt, welch künstliche Angelegenheiten bereits das Establishing - der Augenaufschlag des Films - und ein Panorama sind. Denn vor ihrer Wahrnehmbarkeit sind die Dinge ein bestimmtes Verhältnis von Grau- und Farbwerten, und ein Schwenk sammelt die Dinge, die doch immer gleichzeitig und getrennt vorliegen, wie Stückware ein, um sie in den Köpfen lagern zu können. Emigholz benutzt Technik nicht als Trick, vielmehr als Mittel gegen den Trick der Logik, Sichtbarkeit mit Ordnungsstrukturen zu überformen. Er läßt das Einzelbild intakt, um zu zeigen, daß Dauer nicht in Zeitpunkte zerlegbar ist, ohne zu verschwinden, und daß ein Wald nur die unendliche Möglichkeit ist, ihn zu sehen. Film ist keine Sprache, sondern ein Instrumentarium zur Dekomposition von Wirklichkeiten. Der Schock, der einen ereilt, besteht in einer Überdosis unvermittelter Bilder, die man nicht mehr verarbeiten kann, die auf einmal näher sind als die Wahrnehmung und schneller als die Gegenwart. Man stellt fest, daß selbst die geringste Wirklichkeitserfahrung an eine Zeitausdehnung gebunden ist, in der das Denken die Dinge auseinanderhält. Entgegen einem eingeübten Gemeinplatz ist abstrakt nicht das Gegenteil von konkret; denn noch die unmittelbarste Wahrnehmung muß sich an ihren selbstgesetzten Koordinaten entlanghangeln, will sie nicht den Überblick verlieren. Es bedurfte der größten Abstraktion, der Wahrnehmung jene Unmittelbarkeit herzustellen, die sie für sich reklamiert; denn das Chaos der Wirklichkeit kann man überhaupt nur mittels Abstraktion aushalten.

In jedem Ruck, den man wahrnimmt, zerren die Bilder an den Ketten anthropologischer Trägheit. Diese Landschaften nimmt man nicht als Ansichtskarten mit nach Hause. Emigholz macht eine Art umgekehrten Kubismus; der nämlich hatte einmal die Utopie, ein Ding in einer endlichen Anzahl von Perspektiven gleichzeitig darstellen zu können. Es geht aber nicht um Vervielfachung der Perspektiven auf die Dinge, sondern um deren Öffnung. Die Dinge sind und bleiben scheinhaft; da kann man die Bilder drehen und wenden, wie man will. Diesseits von Perspektive und Beobachtung ist auch im Kino nichts zu haben. Wenn man aber Wahrnehmung mit einem Unbewußten selber zu bebildern versuchte, so wäre womöglich etwas über eine Realität zu erfahren, die sich vom Blick nicht an die Leine nehmen läßt und auch sonst nicht aufs Wort hört. Denn wie Wahrnehmung im Kino gemeinhin auf Denkarbeit angewiesen ist, darf dort gar nicht erst bewußt werden. In einem Timelag fallen Sehen und Denken weitgehend auseinander: Man muß das Denken nicht aufs Sehen verwenden, hat aber Zeit, über das Sehen zu denken; die Zeit wird als Raum der Erscheinungen wahrnehmbar. Die Dinge werden bis an die Schwelle ihrer Sichtbarkeit geführt, zu ihrer Öffnung als Lichtwerte, ihrem Aufblitzen, wo nicht mehr entscheidbar ist, ob in einer Endlosschleife die von Dingen befreite Sichtbarkeit vor dem Blick defiliert oder der Blick an ihr entlangschleift. Martin Heidegger, der in den Feldweggesprächen Überlegungen über das Denken anstellte, bemerkte in paradoxer Form, das Denken schaue - im Gegensatz zur Wahrnehmung - nicht in einen Horizont, aus dem ihm Dinge entgegenstünden; denn man kommt nicht zu Gedanken, die Gedanken kommen zu einem. Schenec-Tady heißt der Ort, wo das Kino die Wartehalle der Gelassenen ist und der Film die Nüchternheit des Denkens.

„Some residue of visual emotion which is of no use either to painter or to poet may still await the cinema“, schrieb Virginia Woolf 1926 in ihrem Essay über das Kino. Der Mythos überliefert, Orpheus habe Eurydike schließlich getrost anschauen können, als sein Leib zerstückelt war und der Geist sich in Körperlosigkeit vor dem Gesetz gerettet hatte. Mit dem Kino wurde Orpheus in jedem Zuschauer unblutig und doch nicht gewaltlos zerstückelt. Dort war auf einmal die Körperlosigkeit physischer und der Körper geistiger, das Dasein experimenteller als anderswo. Wenn die Rede vom Experimentellen im Kino einen Sinn macht, dann dort, wo ein Gebrauch von Technik einen neuen Menschen erfindet oder aber ihn, sagt Schefer, in einem „Schlachthaus“ vernichtet. Ein Monsterfilm, an den ich mich erinnere, stellt ein kinematographisches Experiment an: Ein Wissenschaftler transponiert mit einer Maschine, die er vor anderen Blicken versteckt, Körper durch Atomisierung von ihrem Platz und läßt sie an anderen Orten wieder auftauchen. Gegen die Helligkeit der arbeitenden Maschine muß er sich mit dunklen Gläsern schützen. Der Eigenversuch, nämlich seinen Platz mit dem einer Fliege zu vertauschen, mißlingt; die Fliege verschwindet mit seinem verkleinerten Kopf, er selbst trägt nun den vergrößerten Kopf der Fliege. Die Experimente des Kinos werden zwar im Schutz der Dunkelheit und der Vereinzelung durchgeführt, ich muß stillhalten und kann den eigenen Körper nicht in diese Welt hineinnehmen, aber ich verliere in ihr „den Kopf“. Der Zuschauer des Kinos ist ein kopfloses Wesen, ein Azephalus.

In Warhols Factory war Film kein Medium von Botschaften, er war das soziale Experiment mit einer neuen Technik. Das Experimentelle in der Kunst ist strategisch. Die Politik kommt nämlich nicht durch Abbildung in die Kunst. Politisch ist nicht so sehr die Form als deren virtueller sozialer Gestus. Man stellte Filme her, weil man sich untereinander kannte und gerade Geld zur Verfügung hatte. In den Filmen habe man den Umgang miteinander erproben wollen, sagte Warhol. Kunst hieß das einfach deshalb, weil Kunst ist, was Künstler zu tun pflegen, und solche zu sein war eine Lebensweise. Warhol, das ist die industrielle Synthese aus Jedermann und Genie, der Künstler als Tauschwert, den auszureizen eine Kunst ist. Mit der Bilderstürmerei der Avantgarden hatte Pop-art nichts gemein. Pop-art war die durch den Kunstbetrieb sich erhaltende Kunst, Kunst als soziales Medium. Und die lief nicht zum Kommerz über; sie begann ihn in die Wirkung einzuplanen. Das prophezeite Ende der Kunst blieb aus. Kunst drohte aber auf einmal ihre Gegenstände einzuziehen, Kunst ohne Objekt zu sein. Sie betrog die Gesellschaft um den Fortschritt und rebellierte durch Mitmachen.

Warhols Selbstinszenierungen überformten nicht Individualität durch Kunst; denn Pop-art war die Wiederkehr des Alltäglichen als realer Schein.

Die Wahrnehmung des Gleichen als Wiederholung war vor allem an ein verändertes Zeitbewußtsein gebunden. Betrachten wurde zum Vergleichen, da Trug- und Zeitbilder die alten Repräsentationen ablösten: „I don’t want it to be essentially the same - I want it to be exactly the same. Because the more you look at the same exact thing, the more the meaning goes away, and the better and emptier you feel.“ Ob in Warhols Bilderserien, den stundenlangen Einstellungen seiner Filme oder den endlosen Tonbandaufzeichnungen von Telefongesprächen - allein vierzehnhundert Stunden mit einer einzigen Gesprächspartnerin sollen vorhanden sein -, stets tritt Dauer als technisches Ereignis auf den Plan. Man beginnt zu verstehen, warum Geschichte als Darstellungsform abtritt. Das Andere der Technik ersetzt den Geschichtsschreiber als Hermeneuten. Warhol speicherte diese Dokumente als „Zeitkapseln“, in denen Technik aufbewahrt, was Augen und Ohren entgangen auf seine Lektüre wartet. Der Grenzwert wäre das Zusammenfallen von Leben, Reproduktion und Kunst, da das Leben die Kunst als unsichtbaren Schatten seiner Reproduktion nach sich zöge und in seiner Reproduktion schließlich verschwände, um zum Jenseits der Kunst zu werden. Mit dem Anwachsen der Zeitkapseln wird ihre mögliche Lektüre schlechthin gegenstandslos; man müßte ein Leben auf die Lektüre eines anderen verwenden. Warhol gab Tonbandaufzeichnungen, die er veröffentlichte, die Bezeichnung „Roman“ und als Titel den ersten, kleingeschriebenen Buchstaben des Alphabets. Aufzeichnungsgeräte haben der Psychoanalyse nicht die Tiefen der Seelen beschert, sie haben ihr die Schrift und die Materialität der Sprache offenbart, in denen das Ich sich verläuft. Warhol berichtet, mit dem Erwerb des ersten Tonbandgerätes habe sich sein Gefühlsleben erledigt und alle Innerlichkeit habe fortan das Gerät geschluckt.

Die Titel von Warhols Filmen bergen kein Geheimnis; mehr, als versprochen wird, wird auch nicht geboten. Sie sind Inhaltsangaben, wie die Etikette auf den Dosen der Campbell’s soup. So ißt man in Eat, küßt in Kiss und schläft in Sleep (alle 1963). Eisenstein war ohnehin der Ansicht, filmische Filme - Filme, die keine Geschichte erzählen - könne man in zwei Worten zusammenfassen. Das Nichts ist ein Etwas, das dauert; was erscheint, differenziert sich. Die massenhaft auftretenden schönen Körper wollen gesehen und als Blickfutter verzehrt werden. Es bedarf keiner Geschichten mehr, um sie vorzuzeigen. Aus Fetischen, den Vorwänden der Erzählungen, werden Körper ohne Vorwände. Die Lust am Schauen ist nicht der Sündenfall des Kinos. Warhol-Filme fangen über die Dauer ihrer Projektion hin an; sie haben nur Mitte. Mehr, als gerade passiert, braucht man nicht zu wissen. In diesem Kino gibt es keine Zuspätgekommenen. Es geht nicht um Sexualität, Sexualität geht um. Der Film hat und macht Lust an der Zerstörung von Geschlechterbildern. Dem Blick wird fortwährend entzogen, was er eben festlegen wollte. Im Gegensatz zum Sexfilm handelt es sich bei Warhol nie um einen geregelten Gebrauch von Geschlechtswerkzeugen. Wie in Witold Gombrowicz’ Roman Pornografia geschieht nichts als die Obsession am Zusehen. Kein kleines, immer gleiches Geheimnis der Erotik nährt die Phantasie. Alles bietet sich in voller Offenheit und ohne jede Finalität dar. Hätte er einen Sexfilm machen wollen, schreibt Warhol, so hätte er das Befruchten von Blütenpollen gezeigt. Der Sex im Kino ist das immer Gleiche, die Körper sind das stets Verschiedene. Warhols Filme machen aus ihnen Sensationen des Unmöglichen.

(Illustrationen: Peter Bäder)

Lars Henrik Gass
geb. 1965, studierte Philosophie, Literatur- und Theaterwissenschaft, schreibt über Film, Photographie, Literatur, lebt zur Zeit in Berlin.
(Stand: 2019)
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