Der armenische Dokumentarfilmer Artavadz Peleshian hat bisher neun Kurzfilme vorzuweisen2 und mißt sich in Wort und Bild vor allem mit der russischen Avantgarde der 20er Jahre. Der Beginn (1967), Die Jahreszeiten (1975) und Wir (1969) zählen zu den großartigsten Werken des Dokumentarfilms der letzten zwanzig Jahre.
Der 1938 im armenischen Leninakan geborene Peleshian war einfacher Arbeiter, später Bauzeichner und Konstruktionsingenieur und hatte erst ein Buch über Film gelesen, als er sich 1963 entschloß, nach Moskau zu gehen, um an der Fakultät für Dokumentarfilm-Regie des WGIK (Allunions-Institut für Kinematographie der UdSSR) zu studieren. Im vierten Studienjahr drehte er Der Beginn, eine Montageübung aus Wochenschaumaterial, die ihn auf einen Schlag berühmt machte und die Grundlage für sein späteres Werk bildete. Das Übermaß an Montage - ein Charakteristikum von Peleshians Filmen - wurde ihm in Der Beginn noch „verziehen“, da es durch die Aufgabenstellung gerechtfertigt werden konnte. Zu diesem Zeitpunkt ahnte noch niemand, daß hier eine eigenständige Montagetheorie im Entstehen war, die sich in dezidierter Distanz zu Sergej M. Eisenstein und Dziga Vertov zu behaupten versuchte. Mit seinen späteren Werken stieß er wegen seiner unkonventionellen Art der Montage auf herbe Kritik. Und erst nach langem Hin und Her durfte er seine Montagetheorie in der Filmzeitschrift Voprosy Kinoiskusstva der Öffentlichkeit darlegen. Bis zu Glasnost/Perestroika wurden seine Filme im Ausland nur spärlich rezipiert. So richtig entdeckt wird er eigentlich erst seit wenigen Jahren. Heute gilt er als der wichtigste armenische Filmemacher neben Sergeij Paradshanow.3
Peleshians Filme kommen ohne Worte und Dialoge aus, sie leben allein von der visuellen Ausdruckskraft der Bilder und des Tons, dem mehr musikalischen denn dramaturgischen Rhythmus und der Montage als zentralem Gestaltungselement. Trotzdem bleibt er durch und durch dem Dokumentarischen verhaftet und stört sich an Bezeichnungen wie „Filmkünstler“ oder „Filmpoet“, da er diese mit Konditoren vergleicht, die anstelle von Brot lediglich Torten backen, also Nachtisch, Überfluß und nicht das Eigentliche, das zum Leben Essentielle.4
Thematik
Peleshians Filme dokumentieren auf sehr eigenwillige Weise die Geschichte des armenischen Volkes in seinem Kampf ums nackte Überleben, um Selbstbehauptung gegen die unwirtliche Natur und imperiale Völker (vor allem in Wir und Die Jahreszeiten). Die Suche nach dem Wesen eines Volkes, das erst seit wenigen Jahrzehnten eine eigene Heimat und einen Staat hat, bildet den konkreten Ausgangspunkt einer visuellen Recherche, die gleichzeitig aber auch wegfuhrt vom Individuellen, Nationalen hin zu den allgemeinsten Fragen über das Verhältnis Mensch - Natur.5 Sein Hauptaugenmerk gilt dabei dem Zwischenbereich in all seinen Facetten: zwischen Berg und Tal (Die Jahreszeiten), zwischen Himmel und Erde (Unser Jahrhundert, 1982/91), zwischen Natur und Zivilisation (Die Bewohner, 1970), zwischen Geschichte und Gegenwart (Wir), zwischen Anfang und Ende (Der Beginn). Zwischen diesen Polen dominiert vor allem eines: Bewegung und Wiederholung. Wie in formaler Hinsicht seine Filme von einem scheinbaren Übermaß an Montage zeugen, so ist bezüglich der Bildmotive ein hohes Maß an Bewegung und Geschwindigkeit charakteristisch für sein Werk.
Der Beginn, seine virtuose Diplomarbeit am WGIK, hat den 50. Jahrestag der Oktoberrevolution zum Inhalt. Peleshian montiert in einer rasenden Kadenz vor allem Wochenschaumaterial zu einem neuen Sinngefüge, das die konstruktive wie auch die destruktive Kraft der Massen thematisiert. Die Menschen rennen ununterbrochen, alles ist in turbulenter Bewegung (die Grenze zum Slapstick wird gestreift), die Montage ist schlicht atemberaubend. Der Beginn gehört zu den schnellsten und bewegtesten Filmen der Filmgeschichte überhaupt. Zudem wird Der Beginn im Rahmen der Diskussion um den Found-Footage-Film - einen zentralen Ansatz im aktuellen ästhetischen Diskurs der heutigen „Avantgarde“ - mit immer größerem Interesse rezipiert.
Die Bewohner visualisiert den Exodus par excellence. Auf ein unsichtbares Zeichen hin rüstet sich die gesamte Tierwelt für den Aufbruch. Schwäne erheben sich mit steifen Flügeln, ungelenk und majestätisch zugleich, Hunderte von kuriosen Beinen staksen (in Großaufnahme) auf die Kamera zu, Vogelschwärme fliegen in einer Bewegung zum großen Wegzug auf - in rhythmischer Wiederholung geschnitten, perfekt „choreographiert“ und mit sanften Klängen unterlegt. Doch das langsame Erwachen der Natur nach dem langen Schlaf kippt schlagartig in Angst um. Ein nervöses Geflatter und unruhiges Stampfen münden zusehends in eine wilde, panische Fluchtbewegung der gesamten Tierwelt durch alle Kontinente. Die Natur erzittert vor der tödlichsten aller Bedrohungen, der Zivilisation. Zumindest die peitschenden Schüsse und die Fallgruben weisen darauf hin. Die rasende Bewegung wandelt sich in einen einzigen wilden Aufschrei der Natur, eine rettende Arche Noah ist nirgendwo in Sicht. Die unsichtbare Bedrohung stampft vom Horizont heran, und die Fluchtbewegung erstirbt - zu wehmütigen Trauergesängen - allmählich. Die Tiere fügen sich ihrem Schicksal, der Gefangenschaft. Doch gleichzeitig beginnt die Bewegung von neuem, die Anfangssequenz wird wiederholt, nun aber immer wieder durchbrochen von Bildern von Tieren in Gefangenschaft. Die Bewohner ist ein musikalisches Filmgedicht mit einer zyklischen Grundstruktur über das Phänomen der Bewegung schlechthin: „Cette impulsion mystérieuse à l’origine du mouvement, ce n’est pas l’homme et encore moins Dieu, mais tout simplement la vie. Celle de la matière, du cosmos.“6
Man könnte Die Bewohner in einer „subtextuellen“ Lesart auch zur Geschichte des armenischen Volkes in Beziehung setzen. Die rettende Arche Noah, die von den „Bewohnern“ nicht gefunden wird, soll ja der biblischen Auslegung gemäß am Berg Ararat, der in der heutigen Türkei liegt, gelandet sein. Dieser Berg gehörte früher einmal den Armenierinnen, und sie waren es, die 1915/1916 von den Türken massakriert und zum Exodus gezwungen wurden. 1,5 Millionen Armenierinnen wurden dabei umgebracht, Hunderttausende kamen auf der Flucht um. Der tödliche Feind taucht im Film nur kurz auf und ist mehr hör- als sichtbar, visualisiert als abstraktes, fast schon kosmisches Monster. Der erneute Aufbruch am Schluß des Films entspräche in dieser Lesart der großen Rückkehrbewegung der Vertriebenen. Wie auch immer man Die Bewohner verstehen will, es ist ohne Zweifel eine Ode an die Bewegung in all ihren Erscheinungsformen und ein Montage-Kabinettstück dazu, von dem auch die einschlägig bekannten Tierweltdokumentalisten noch einiges hätten lernen können.7
Wir hingegen handelt ganz offensichtlich vom eben erwähnten Genozid (dem ersten Völkermord im 20. Jahrhundert), von der Vertreibung und von der ersten größeren Rückkehrbewegung der Armenierinnen (1946/47), die aus der Türkei vertrieben wurden und in der heutigen armenischen Republik eine neue Heimat fanden. Wir handelt demnach von der Bewegung eines ganzen Volkes und seiner ebenso bewegten Geschichte - jedoch vermehrt noch thematisiert er die Gefühlsbewegungen eines ganzen Volkes: Hoffnung, Angst, Glück, Schmerz, Freude und Trauer, das emotionale und soziale „Kardiogramm der (armenischen) Volksseele und des Nationalcharakters“8
Die Jahreszeiten erzählt in schlichten, ergreifenden Bildern vom unvorstellbar beschwerlichen Leben der Bauern und ihrer Tiere in den armenischen Bergen, von ihrer gegenseitigen Abhängigkeit, ihrer stoischen Unterwerfung unter die übermächtige Natur im Jahreszeitenzyklus. Das Leitmotiv des Schäfers, der in einem Kampf auf Leben und Tod ein Schaf aus dem reißenden Fluß zu retten versucht, gerinnt durch mehrfache Wiederholung und Zeitlupeneinstellungen zu einem allgemeingültigen Bild des „ewigen Ringens“ mit der Natur, in der Ambivalenz von gnadenlosem Kampf und gleichzeitiger Harmonie, Abstoßung und Einbettung. In der Schlußeinstellung friert Peleshian das Bild ein, der Ausgang des Kampfs bleibt offen, da es ein sich stetig wiederholender, in die Zeitlosigkeit perpetuierter ist. Der simpelste kinematographische Trick läßt einen hoffnungsvollen Schwebezustand in eine tragischheroische „Ikone“ kippen. In Die Jahreszeiten sind Stürzen, Rutschen und Fallen die tragenden Bewegungsmotive im zyklischen Verlauf der Jahreszeiten. Einzigen Rückhalt im tosenden Kampf mit den Elementen der Natur bildet die Eingebundenheit in die Dorfgemeinschaft. Das wird gegen Ende des Films überdeutlich in einer - quasi rekapitulierenden - Parallelmontage der Hauptmotive „Heirat im Dorf“ und „Rettung der Schafe“ (im reißenden Fluß/am Berghang), die durch den lakonischen Zwischentitel „Das ist deine Heimat“ eine unheimlich definitive Bedeutung erhält.
In Unser Jahrhundert dokumentiert Peleshian die Geschichte des Fliegens und der Eroberung des Weltraums. Umrahmt von pulsierenden kosmischen Bewegungen und den Herzschlägen eines Neugeborenen, findet der tragischburleske Countdown statt. Peleshian dehnt die letzten 30 Sekunden vor dem Start einer Raumfähre zu einem 30 Minuten langen Bilderreigen, der das Phänomen durch unzählige Einschübe und endlose Rückblenden aus unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchtet. Die intendierte kritische Reflexion über den Fortschritt „gleitet“ jedoch stets wieder an der Faszination am Gegenstand ab und gerät dabei (ungewollt) selbst ins Schlingern. Der ikonographischen Tradition des Ikarus-Motivs folgend, vollzieht sich das Drama im Sog der Gravitation zwischen Erde und Himmel, zwischen befreiendem Aufschwung und vernichtendem Absturz, den größtmöglichen räumlichen Bewegungen, bei denen das Individuum als reine Utopie auf der Strecke bleibt9: Polarisation als Leitelement, das Dazwischen als konkreter Ort der epischen Reflexion.
Daß dem Menschen die Kontrolle über die Bewegung in der Regel früher oder später entgleitet, führt zu einer Komik, die wir als Grundelement aus Slapstickfilmen kennen und die in Peleshians solidem Dokumentarismus zu kurzen Momenten der Befreiung, zu einem ephemeren Glücksgefühl führen und sich vor allem in Die Jahreszeiten mithin zu den großartigsten Einstellungen des Dokumentarfilms überhaupt aufschwingen: der tragische Kampf des Schäfers um sein Tier im reißenden Fluß, die gigantischen Heuballen, die von den Bauern zu Tale geschleift werden, sich jedoch plötzlich verselbständigen und unaufhaltsam wie Lawinen zu Tale rasen, und die Schäfer, die mit je einem Schaf auf dem Arm hintereinander sommers und winters einen unvorstellbar steilen und nicht endenden Abhang hinunterrutschen oder vielmehr -kollern.10 Endlos, zeitlos und auch ortsungebunden sind diese allgemeingültigen Bilder von menschlichen Grundsituationen, die von Peleshian emotional aufgeladen und monumental inszeniert werden, so daß man sie so schnell nicht wieder vergißt. Konsequenterweise verweigert er auch jegliche Auskunft darüber, wo genau er diese phantastischen Dokumente aufgenommen hat.11 Zeitlos und ortlos heißt soviel wie immer und überall, ohne örtliche Ein- und zeitliche Begrenzung. Der Zeitlosigkeit des Seins, oder besser der Unbeweglichkeit der Zeit, steht die Geschwindigkeit der Bewegung des Daseins gegenüber. Das ewige Ringen des Schäfers im Fluß wird zur sinnträchtigen Allegorie. Peleshian zeigt zudem mit einer besonderen Vorliebe das Immergleiche aus verschiedensten Blickwinkeln, indem er eine einzige dokumentarische Aufnahme nachträglich auf der optischen Bank (Bearbeitung beim Wiederabfilmen bzw. beim Bild-für-Bild-Kopieren) durch Veränderung der Bildausschnitte, Bildumkehr (seitenverkehrtes Kopieren) und Zeitlupe variiert. Die im Bild dokumentierte Bewegung wird durch die filmische Bewegung überhöht und monumentalisiert, wobei die Grundstruktur von Wiederholung und Variation das Empfinden der Zeitlosigkeit, der Ewigkeit und der Unveränderbarkeit von vorgegebenen Bedingungen des Daseins sinnfällig verdichtet.
Musikalität
Peleshian versteht seine Filme als „musikalische Filmkunst“. Dies nicht etwa nur, weil die Musik bzw. der Ton zentrale Gestaltungselemente darstellen, sondern weil er ein genuin musikalisches Bildverständnis pflegt. Die „bildliche Klangfarbe“ einer Szene ist ihm wichtiger als ihr faktischer Inhalt, die „musikalische Ausdruckskraft“ bedeutsamer als die „bildliche Ausdrucksstärke einer Szene“, die „Musik der Form“ wird zur Ultima res in der Materialwahl.12 Um eine maximale Expressivität im Ton zu erzielen, verzichtet er praktisch auf jeglichen Originalton. Bild und Ton verschmelzen zu einer organischen Einheit und werden dadurch auch austauschbar: „Bild und Ton sollten simultan eine einheitliche Gestalt, einen einheitlichen Gedanken, ein einheitliches emotionales Gespür ausdrücken.“13
Peleshian setzt Geräusche und Musik sehr sparsam und nur in Fragmenten ein, mit einem Gespür für feinsinnige dramatische Akzente. Des öfteren verwendet er die Musik in der Funktion der Darstellung und umgekehrt. So wird zum Beispiel in Wir die Anfangseinstellung eines verwahrlost wirkenden Mädchens, das frontal in die Kamera blickt, mit einem eindringlichen symphonischen Akkord unterlegt. Das Bild drückt Heimatlosigkeit, Verlorenheit und Trauer aus. In der Mitte des Films wiederholt sich dieses Leitmotiv, und in der Schlußeinstellung, einer Totale von Menschentrauben auf Balkonen, unterlegt er dem Bild denselben symphonischen Akkord, ohne die Einstellung des Mädchens zu wiederholen. Die Musik ersetzt die bildliche Darstellung, das Mädchen ist durch das musikalische Element in der Erinnerung der Zuschauerinnen ebenso anwesend wie der Zucker im Tee, der nicht mehr sichtbar ist.14 Die Schlußeinstellung von Wir führt die Leitelemente in einem lyrischen Finale zusammen. Die stoisch harrenden Menschen auf den Balkonen schauen zum symbolträchtigen Berg Ararat hin, der jenseits der Grenze in der Türkei liegt. Erst in dieser letzten Einstellung werden die Berge - in Wir als Leitmotiv von geologischen und gesellschaftlichen Eruptionen stets wiederkehrend eingesetzt - durch diesen einen fatalen Berg um eine tragische Dimension erweitert, und die Erinnerung an den Genozid wird durch den leitmotivischen symphonischen Akkord bzw. das ausgesparte Bild des Mädchens memoriert.15 Peleshian nennt dieses Verfahren eine „Montage ausgesparter Einstellungen“ oder, etwas abstrakter, eine „Montage von Bildern, die es nicht gibt“16 und die durch ihre Abwesenheit um so eindringlicher wirken.
Distanzmontage
Peleshians Interesse gilt dem, was sich zwischen weit auseinanderliegenden Polen abspielt, Berg und Tal, Himmel und Erde, Natur und Zivilisation. Es erstaunt daher wenig, daß seine spezifische Kunst im Formbereich ebenfalls im Dazwischen liegt, in der Kunst der Montage, der räumlich-zeitlichen Organisation filmischen Materials, dem, was im „Kine“17, in der kleinsten filmischen Einheit (zwischen zwei Einzelbildern), geschieht, oder wie sich im größeren Rahmen zwischen zwei Einstellungen oder Sequenzen durch diese „kleine visuelle Monstrosität“18 Sinn konstituiert.
Seine Montagetheorie, die heute bereits im Rang einer klassischen Theorie steht, baut streng auf dem Prinzip der Polarität auf, daher nennt er sie Distanzmontage. Er hat seine Theorie in dezidierter Abgrenzung zu den Montagetheorien der 20er Jahre entwickelt. Diese legten das Hauptaugenmerk auf die signifikante Differenz von unmittelbar benachbarten Einstellungen - die „Montagenaht“19 bei Eisenstein, das „Intervall“20 bei Vertov. Im Gegensatz vor allem zu Eisenstein, der zwei verschiedene Einstellungen durch die Parallelmontage (oder Attraktionsmontage) in eine direkte Beziehung setzt und so eindeutige Assoziationen und Interpretationen ermöglicht21, stellt Peleshian zwischen zwei bedeutsamen Leiteinstellungen eine möglichst große Distanz her, indem er die Montage aufgliedert, d.h. eine Reihe von Sequenzen mit differentem Inhalt dazwischenschiebt. Die Interaktion der Leitmotive findet nur über die zahlreichen Kettenglieder hinweg statt - Sinn entwickelt sich etappenweise durch das Auftauchen der Leitmotive in verschiedensten Kontexten.
So wird das Leitmotiv des armenischen Berges, in Wir als ruhender und explodierender „Übervater“, zu verschiedensten Sequenzen bzw. Montageblöcken - meist in kurzen crosscuttings - in Beziehung gesetzt: zum heimatlosen Mädchen, zur großen Beerdigung, zu den virilen Armen, die Steine aufheben (ein anderes Leitmotiv), zur demonstrierenden Masse, zur kirchlichen Berg-Prozession und zur Rückkehr der Vertriebenen. Genauso werden die akustischen Hauptelemente (Stöhnen, Schreien und Chorgesang) zu verschiedenen Themen in Beziehung gesetzt. Durch diese Montage der Kontexte wird das eigentliche Thema, das im Leitmotiv lediglich in kondensierter Form dargestellt ist, entwickelt und vertieft. Der Berg wird zum Absoluten, das mit allen Facetten des Lebens und der Geschichte der Armenierinnen auf Gedeih und Verderb verwoben ist. Am deutlichsten zeigt sich das an den leitmotivischen Händen, die sich - stets in Großaufnahmen - Richtung Berg strecken (ob sie nun den Sarg tragen oder Steine aufheben und gegen den Himmel stemmen): eine eindeutige Geste der Anbetung und Vergötterung. Die Mittel der filmischen Visualisierung dieser schicksalshaften Parallelität und Interdependenz sind kurz geschnittene Parallelmontagen mit parallelen Schwenks und Zooms. So wird der explodierende Berg zum Repräsentanten der getöteten Menschen in der Beerdigungsszene, und umgekehrt repräsentiert die Beerdigung auch die Explosion des Berges.
Bei Peleshian bringt im Prinzip keine Einstellung einen bestimmten, eindeutigen Gedanken zum Ausdruck, er strebt lediglich ein emotionales Bedeutungsfeld an, das sich im Verlauf des Films immer mehr verdichtet. Die Montagearbeit findet hauptsächlich im Kopf der Zuschauerinnen statt, weswegen Peleshian auch behaupten kann, er halte seine Filme für unmontiert bzw. er hebe die Montage mittels der Montage auf.22 Die Filmstruktur in seinen Filmen verläuft nicht in linearen Ketten, sondern in Kreisen und Zyklen, die sich blockförmig verzahnen. Seine Montagetechnik der Distanz „hebt nichts heraus und deklariert nichts“23. Peleshian läßt die Bedeutung der einzelnen Einstellungen sehr oft offen, indem er sie nicht zu leicht dechiffrierbaren Sequenzen montiert, so daß die Zuschauerinnen vorerst im Unklaren sind, welche emotionalen Werte die Bilder genau ausdrücken: Freuden- oder Schmerzenstränen, Prozession oder Exodus, Rückkehr oder Vertreibung, Sturzflug oder Absturz, Fluchtbewegung oder Freudentaumel, Resignation oder Besinnlichkeit. Peleshian ist ein Meister der Ambivalenz des Ausdrucks.
Einmal mehr zeigt sich seine Vorliebe für das Zwischenreich, das Schwebende, das nicht eindeutig Codierte, die offene Form, den nicht in sich geschlossenen Text. Ein eindeutiger Sinn läßt sich nur schwer und allenfalls erst im nachhinein in der „Postmontage“ im Kopf der Zuschauerinnen ausmachen. Assoziatives Verknüpfen und intuitives Erfassen durch Imagination bilden den Schlüssel zum Verständnis der Filme Peleshians. Daher könnte man seine Distanzmontage auch als „lyrische Montage“ bezeichnen.
Found Footage
Peleshian kann auch als Vertreter des Kompilationsfilms und des „fiktionalisierenden Dokumentarfilms“24 angesehen werden, da er inszeniertes und „gefundenes“ Archivmaterial durchmischt und in einen neuen Kontext setzt, dessen Sinnkonstruktion erst durch die Montage ersichtlich wird. Es muß jedoch gleich eingeschränkt werden, daß er nur gerade in Der Beginn und Wir ein spezifisches Interesse an Archivmaterial und den damit verbundenen ästhetischen Fragen hat. In Der Beginn wird das Archivmaterial aus Wochenschauen aus dem ursprünglichen Zusammenhang herausgerissen, dekontextualisiert, umgedeutet und subjektiviert - oder eben fiktionalisiert - und so einer neuen Sinnkonstruktion zugänglich gemacht. Die historischen Bilder aus der Revolutionszeit werden ausschließlich unter dem Aspekt der ihnen inhärenten realen und emotionalen Bewegungsmotive ausgesucht, um den neuen Sinnkontext - kreative und destruktive Massenbewegungen - zu veranschaulichen.
Wir hingegen nützt das kollektive Celluloid-Gedächtnis aus, das durch den Rekurs auf das historisch gewichtige und allseits bekannte Archivmaterial über die Rückkehrwelle der Vertriebenen reaktiviert wird: Wieder-Erinnerung durch Re-Präsentation. Die dazwischengeschnittenen Kriegsszenen aus dem Ersten Weltkrieg hingegen repräsentieren metaphorisch den Genozid, da er keinen Zugriff auf die türkischen Dokumente über den Völkermord hatte.25 Die durch das Archivmaterial aufgewühlten Erinnerungen stellen in Wir den idealen Nährboden dar, „den Lehm, aus dem die Skulptur geformt werden soll“26. Die Skulptur ist nichts anderes als die neu arrangierte filmische Wirklichkeit, die, verwoben mit „subjektiver Beschwörung und poetischer Ambiguität“27, zu Peleshians „letzten“ Fragen über das Dasein hinführt. In diesem Sinn sind seine musikalisch-lyrischen Dokumentarfilme auch typische Essayfilme, indem sie „einen neuen, überpersönlichen, räumlich umfassenden und zeitlich unbegrenzten Zusammenhang“28 darstellen.
Peleshian, der von sich selbst mit entschuldigendem Unterton behauptet, er sei „dazu verurteilt, einmalig zu sein“29, möchte alle Grenzen sprengen und in Gebiete vorstoßen, „hinter denen unsere Vorstellungen, unsere Raum- und Zeitgesetze bereits nicht mehr anwendbar sind“30. Wie lange wir Irdischen seinen filmischen Bewegungen noch folgen können, scheint nur noch eine Frage der Zeit. Danach darf sich der Dokumentarfilmer Peleshian zweifelsohne zum Kreis der unverstandenen und weitherum geschmähten Avantgardisten zählen. Doch ob er sich bei seinem transgredienten Projekt ein bißchen zuviel vorgenommen oder aber gar das falsche Medium gewählt hat, wird die Zukunft weisen.
Mit Dank für die Mitarbeit an Carine Bachmann.