ALEXANDRA SCHNEIDER

WHO CHOOSES WHAT STORY TO TELL? — UBER DEN FILM HISTORY & MEMORY VON REA TAJ IRI

ESSAY

History & Memory (USA 1991) von Rea Tajiri1 ist ein dokumentarisches Videoessay, das in seiner Narration und Bildsprache verschiedene dokumentarische Gattungen in sich vereinigt und in Beziehung zum Experimentalfilm steht. History & Memory ist fragmentarisch und arbeitet zu einem großen Teil mit schon bestehendem Bildmaterial.

Der Kurator des Whitney Museums2, Paul Arthur, hat für den unabhängigen US-amerikanischen Film der achtziger Jahre festgestellt, daß „die nachrückende Generation der Avantgarde tendenziell längere, eher narrativ orientierte Filme macht, die oft eine feministische Perspektive einnehmen“3. Er beobachtet zudem eine Wiederentdeckung der Geschichte (Geschichte als privates Unterfangen, als Netz aus persönlicher und kollektiver Erinnerung sowie unmittelbarer Beobachtung) in diesen Filmen, und zwar insofern, als persönliche Erfahrung, bedingt durch eine gesellschaftlich geteilte Vergangenheit, dargestellt wird. Subjektivität wird als gegenseitige Durchdringung von öffentlichem und privatem Leben neu definiert. Der Widerstand gegen eine rein reflexive Bewältigung des filmischen Materials, die Thematisierung der Medien(sättigung), das Mobilisieren von Schwachstellen der ideologischen Konstrukte und Mythen in den Hollywoodgenres und endlich die Verwendung von gefundenem Material zur Füllung von Lücken und zur Neukombination sind weitere Momente, die ihm auffallen. Viele der jüngeren Produktionen zeichnen sich durch gegenseitige Vermischung dokumentarischer und experimenteller formaler Erfahrungen aus.4

Wir werden sehen, daß viele der genannten Chrakteristika auch auf History & Memory zutreffen. History & Memory ist von der Thematik und von der Vorgehensweise her kein Einzelwerk. In den USA werden jährlich Dutzende solcher Produktionen realisiert, nur wenige finden aber den Weg zu einem Publikum jenseits des Atlantiks. Als Dokumentarfilm gelesen, versteht sich History & Memory nicht als Fenster zur Realität, sondern als Repräsentation von Vorgefundenem. Tajiri thematisiert sich selbst als Sinnproduzentin des filmischen Diskurses, indem sie sich sprachlich und in Form von Zwischentiteln einbringt. Nach Bill Nichols Einteilung von Dokumentarfilmen nach Methoden gehört dieser Film einer vierten, eigenständigen Tradition an.5 Bei dieser Methode sind Filmemacherinnen immer partizipierende Zeugen und damit Gestalterinnen von Sinn und nicht, wie in anderen Traditionen, allwissende, neutrale Reporterinnen von „wahren“ Dingen. Die epistemologischen und ästhetischen Annahmen am Ausgangspunkt dieser Art Filme werden dadurch komplexer. Vom Thema her gehört History & Memory zu den Filmen, die sich mit einem ideologiekritischen und undogmatischen Blick der Lückenhaftigkeit von Geschichtsschreibung widmen. Es wird versucht, Geschichte nicht als etwas Monolithisches zu begreifen, sondern Wege zu zeigen, um Vergangenheit dialektisch zu rekonstruieren.

„Die Suche nach einem immer abwesenden Bild und der Wunsch, ein Bild zu schaffen“

Thema von Tajiris Video ist die Internierung von 110 000 Amerikanerinnen japanischer Herkunft während des Zweiten Weltkrieges. Tajiri sucht nach der kollektiven und der individuellen Geschichte und Geschichtsschreibung. Sie untersucht den Gehalt der Einschreibung dieser historischen Begebenheit ins mediale amerikanische Gedächtnis.

1991 jährte sich der Überfall der kaiserlichen japanischen Armee auf Pearl Harbor zum fünfzigsten Mal. In den US-amerikanischen Medien wurde der Erinnerung an den Kriegsausbruch große Aufmerksamkeit zuteil, es wurde vor allem der Kriegsopfer auf seiten der Vereinigten Staaten gedacht. Die Schockwirkung, die Frage der Voraussehbarkeit des Überfalls und der Begriff der „sneak attack“ wurden speziell thematisiert. Das Los der japanischstämmigen Bevölkerung in den USA, für die der Kriegsausbruch ebenfalls einen tiefgreifenden Einschnitt darstellte, war kein Thema. In den USA sind Feindseligkeiten gegenüber Japanerinnen und Japanern sowie gegen US-Bürger- Innen japanischer Herkunft selbst heute keine Seltenheit. Die wirtschaftspolitischen Divergenzen, die Effizienz und die Aggressivität der japanischen Exportindustrie, aber auch japanische Kritik6 wecken jedesmal wieder die alten antijapanischen Emotionen und fördern die öffentlich geäußerte Abneigung gegen alles, was „Jap“ ist.

In History & Memory geht Tajiri von einem Bild aus, welches sie seit ihrer Kindheit in ihrer eigenen Erinnerung mit sich herumträgt: Eine junge Japanerin steht auf sandigem Wüstenboden. In ihren Händen hält sie eine Feldflasche, mit der sie Wasser auffängt. Der Film legt die Idee nahe, daß es sich dabei um Tajiris Mutter handelt. Während des ganzen Filmes bleibt offen, ob das für den Film inszenierte Bild auf eine reale Begebenheit zurückzuführen ist oder ob dieses Bild nur in Tajiris Phantasie existiert. Von diesem Bild geht die Rekonstruktion, das „Rewriting“ der Familiengeschichte und der Geschichte der japanischamerikanischen Menschen in der Zeit nach Pearl Harbor aus. Mit Hilfe von diversen Bildmaterialien versucht die Autorin, die Leerstellen in der Erinnerung ihrer Mutter, die auf Fragen der Tochter nach ihrer Vergangenheit nicht antworten will oder kann, zu füllen.

Zu Beginn wird von einem Streit zwischen Rea Tajiris Eltern erzählt. 1961, am zwanzigsten Jahrestag von Pearl Harbor, streiten sie über einen angeblich unerklärlichen Alptraum ihrer dreijährigen Tochter. Dabei erfahren wir von der Internierung von 110 000 Japanamerikanerinnen, die nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor ihre Häuser verlassen und in ein Internierungslager umgesiedelt wurden. Anschließend beginnt eine weibliche Stimme (Rea Tajiri) in erster Person von diesem Bild zu erzählen, das sich, ausgehend von diesem Traum, in ihrer Erinnerung festgeschrieben hat: das Bild ihrer Mutter, die im Freien stehend eine Feldflasche mit Wasser füllt. Es folgen Standphotographien aus Hollywoodfilmen. Rea Tajiri erzählt von ihrer Schwester, die die Gewohnheit hatte, eine Schachtel mit sich herumzutragen, die Familienfotos und Bilder von Filmstars enthielt. Rea fiel auf, daß es ausschließlich weiße Filmstars waren.

Soweit der Prolog. Er stellt Thematik und. Methode vor. Was für eine Geschichte steckt hinter dem Bild dieser Frau mit der Wasserflasche in der Wüste? Was sind diese Internment Camps? Was bedeuten diese Bilder, von denen Tajiri sagt, daß sie ihr „Leben beeinflußten“? Wieder erscheint das Bild der Frau in der Wüste. Diesmal sind nur die Hände sichtbar. Eine Männerstimme spricht davon, daß es keine Erinnerungen mehr gebe. Damit wird eine weitere Thematik eingeführt, die im Verlaufe des Films eine zentrale Rolle spielt: die verweigerte Erinnerung der japanischamerikanischen „Elterngeneration“. Tajiri und ihre Generation bringen immer wieder zur Sprache, daß ihre Eltern und Großeltern auf die Frage, was mit ihnen während des Zweiten Weltkriegs passiert sei, mit Schweigen antworteten.7

Am Anfang dieses Zeitabschnitts steht der Angiff auf Pearl Harbor, der den Kriegseintritt der USA zur Folge hatte.8 In History & Memory wird dies mit einem Ausschnitt aus From Here to Eternity (Fred Zinnemann, USA 1953), einem Hollywoodfilm, der die Ereignisse von Pearl Harbor zum Thema macht, und japanischen Wochenschauen markiert.

Im Film folgt darauf eine Photographie von Tajiris Vater in der Armeeuniform der Vereinigten Staaten, und im Lauftext wird erzählt, wie das Haus seiner Familie gestohlen wurde.9

Als nächstes wird der Kriegspropagandafilm Japanese Relocation (Department of War Information, USA 1942) über die Umsiedlung der japanischamerikanischen Bevölkerung eingespielt. Ein Beamter der US-Regierung rechtfertigt darin die Internierung, da die Westküste mit dem Angriff auf Pearl Harbor zu einer „potentiellen Gefechtszone“ geworden sei und damit die dort lebende Bevölkerung japanischer Herkunft zu einer Gefahr für die innere Sicherheit. Es folgt eine Nummer aus dem Musical Yankee Doodle Dandy (1942).10 In einem theatralischen Massenaufzug ziehen typisierte Vertreter der Bevölkerung der USA in den Krieg. Sie singen ein Lied der Kampfbereitschaft und der Einigkeit. Die musikalische Leichtigkeit steht dabei in einem krassen Gegensatz zur besungenen Kriegsbereitschaft. Eine weitere Szene aus Yankee Doodle Dandy zeigt den steptanzenden, fahnenschwingenden, uniformierten James Cagney (in der Rolle eines Musicalartisten) inmitten einer in Stars and Stripes gehaltenen Tänzerinnengruppe. Diese Szene wird durch die Einblendung des Textes, daß 1942 die gesamte Familie Tajiri interniert worden sei, konterkariert. Ton und Bild laufen auseinander, ein Armeefilm kommt ins Bild. Verwandte von Tajiri beginnen von Internierungslagern und den grassierenden Feindseligkeiten gegenüber der japanischstämmigen Bevölkerung zu sprechen.11 Die Familie wird mit von der Armee gedrehten dokumentarischen Aufnahmen von Salinas, einem Lager, konfrontiert. Die Mutter scheint sich zu erinnern, erzählen aber kann sie nichts.

Aus dem Armeefilmmaterial erfahren wir, daß der Besitz und Gebrauch von Kameras in den Lagern verboten war. So existieren nur wenige Fotos von Tajiris Familie aus dieser Zeit. Die offiziellen Ausweispapiere und diese Fotos kommen ins Bild; es sind die ersten greifbaren und offensichtlichen Hinweise für den damaligen Aufenthalt der Familie im Lager.

Als nächstes zeigt der Film Bilder eines Vogels aus Holz. Tajiri erzählt, wie sie als Kind von diesem zwischen den Schmuckstücken der Mutter versteckten Vogel fasziniert war. Die Mutter verbot ihr, damit zu spielen. Sie erklärte, er sei ein Geschenk der Großmutter. In den staatlichen Archiven mit Bildern aus den Internierungslagern ist Rea auf ein Foto ihrer Großmutter gestoßen. Das Bild zeigt sie inmitten einer Gruppe junger Japanerinnen und Japaner, in Schulbänken. Auf der Rückseite des Fotos ist vermerkt, daß es sich um eine Holzschnitzklasse handelt. Vom Bild des Vogels schneidet Tajiri auf die Ausweispapiere der Großmutter, dann auf ein Foto der Schulklasse. Dieses Bild wird in Grau ausgeblendet - wobei eine quadratische Maskierung den Kopf der Großmutter im Grau stehen läßt. Mit diesem induktiven Verfahren zeigt Tajiri die Lösung dieses persönlichen Rätsels.

Tajiri arbeitet auch mit eigenwilligen assoziativen Analogien. Ein Beispiel einer solchen Analogisierung ist die Parallelmontage von Amateurfilmaufnahmen (ein Internierter im Lager Poston in Kalifornien konnte trotz Verbot das Lagerleben mit einer Schmalfilmkamera filmen) und Ausschnitten aus Bad Day at Black Rock (1954).12 Tajiri erzählt wieder von der Suche nach ihrer Geschichte. Im Bild wird ein sich im Kreis drehendes schlittschuhlaufendes Mädchen sichtbar. Auf der Tonspur erzählt eine Nichte Tajiris, wie sie die Alten immer über Dinge reden hörte, von denen sie nichts verstand. Dann kommt Spencer Tracy (in der Rolle John J. Macreedys) ins Bild. Wir hören ihn mit seinem Widersacher reden: „Ich suche einen Mann namens Kimoko [...].“ - „Sicher, ich erinnere mich - ein japanischer Bauer - er hatte nie Glück.“ - „Oh.“ Im Bild erscheint wieder die sich um die eigene Achse drehende Schlittschuhläuferin. Die Tonspur geht weiter: „1941 kam er hierhin, gerade vor Pearl Harbor, drei Monate später brachten sie ihn in ein Umsiedlungslager.“ Ein virtuoser Schnitt von den Schlittschuhen auf die Füße Spencer Tracys, eine Aufnahme aus Bad Day. Tracy bückt sich, um eine Blume zu pflücken. Tonspur: Die Nichte erzählt weiter, von ihrem Nachhaken bei mitgehörten Gesprächen und wie sie immer dieselbe Antwort bekam: „Ich kann mich nicht erinnern.“ Später erfahren wir, daß für Tracy alias Macreedy diese wilden Blumen das Grab Kimokos, des von ihm gesuchten japanischen Freundes, bezeichnen. Ähnliche Blumen filmt Tajiri auch im Hinterhof des Hauses ihrer Mutter, und sie vervollständigt die Analogien der Bildmontage mit dem Satz: „Kimokos Verschwinden in Black Rock war wie unser Verschwinden aus der Geschichte.“

Weitere Parallelisierungen mit Bad Day at Black Rock führen am Schluß auch zur Erhellung des Bildes der Frau mit der Wasserflasche in der Wüste, das für Tajiris Mutter steht. Kimoko mußte in Bad Day deshalb sterben, weil er auf seinem Land auf eine ergiebige Wasserquelle stieß. Aus Neid und Mißgunst wurde er dann von den anderen Dorfbewohnern umgebracht. Macreedy deckt diese Geschichte auf und entzieht so der Dorfbevölkerung ihre selbstkonstruierte moralische Rechtfertigung. Denn für die Leute von Black Rock spielte der Grund für das Verschwinden Kimokos nach Pearl Harbor vorerst keine Rolle mehr, da er, wie sie sagten, sowieso ins Lager abtransportiert worden wäre.

Die japanischamerikanischen Bauern brachten braches Land zum Blühen, indem sie die Wüste bewässerten und Plantagen anpflanzten. Ihr Erfolg beruhte auf Kreativität und großem Fleiß. Die Internierten in den Relocation Camps hatten ebenfalls in der Landwirtschaft zu arbeiten. Damit bekommt das Bild der Frau, die in der brütenden Hitze Wasser in eine Feldflasche füllt, eine Geschichte.

„Sie erzählt die Geschichte von dem, was sie nicht erinnern kann.

Sie erinnert sich nur noch an etwas: Weshalb sie vergaß, sich zu erinnern.“

Ein Kind hat einen (unerklärbaren) Alptraum; im Kopf der nun jungen Frau hat sich ein Bild ohne Geschichte festgesetzt. Sie glaubt sich vom Geist verstorbener Familienmitglieder umgeben, vom Geist ihr unbekannter Geschichten, an deren Vorhandensein sie aber nicht zweifelt. Und diejenigen, welche die unerklärbaren Erinnerungen in das Leben der jungen Frau brachten, wollen nichts erzählen, haben vergessen oder wissen lediglich, daß sie vergessen haben.

Die Ereignisgeschichte und die mediale Geschichtsschreibung, wie sie in Wochenschauen und in „plots“ von Hollywoodfilmen eingeschrieben ist, geben keinen Aufschluß über individuelle, zuweilen traumatische Erinnerungen. Es ist eine Geschichte von Auslassungen, sie erinnert an Fragmente. Tajiri aber sucht das persönlich Erlebte und das individuell Vergessene: „Dinge sind auf der Welt geschehen, für die wir Bilder haben. Andere sind geschehen, ohne daß eine Kamera sie gesehen hat; diese Dinge inszenieren wir vor der Kamera, um Bilder zu haben. Dinge sind auf der Welt geschehen, für die die einzigen Bilder nur noch in den Köpfen der Zuschauer existieren. Andere sind geschehen, bei denen es keine Zuschauer mehr gibt außer den Geistern der Toten.“

In Rea Tajiris Film sind Geschichte und Erinnerung Methode und Inhalt zugleich. Sie reflektiert Geschichte unter Einbezug von Erinnerungssplittern, um so ein neues Bild zu komponieren. Erst das collagenhafte Zusammenführen von greifbaren Bruchstücken kollektiver Geschichte und individueller Erinnerungen erschließt Geschichte, wo es keine Bilder gibt. Tajiri verweist damit immer wieder auf die Ambivalenz von „wahren Bildern“, auf die Brüchigkeit von Geschichte und das mangelnde Erinnerungsvermögen von Gedächtnis und Bild. Geschichte erweist sich als Konstruktion.

Tajiri bedient sich der Oral history, wobei der Blick auf die erzählenden Personen verweigert und dafür ein zweiter Quellenfundus, „offizielle Filmbilder“, mit visuellen Mitteln auf seinen ideologischen Gehalt hin untersucht wird. Sie will auf die nicht vorhandenen Bilder verweisen. Sie vergleicht Bilder und kommentiert sie mit Lauftexten und Kommentaren. Sie deklariert die Quellen der Bilder genau. Es entsteht „ein Zwischen-den-Zeilen-Sehen, ein Durch-die-Bilder-Lesen, ein Durch-das-Hören-Sehen“. In diesem Sinne ist History & Memory ein „Bild-Stimme-Schrift-Ereignis“.13 Die Zuschauenden werden angeregt, über den eigentlichen Gehalt des Gesehenen nachzudenken.

History & Memory entfaltet und erschließt sich über Verknüpfungen von Hör- und Sehbarem. Tajiris Methode, subjektive Erinnerungen in assoziativer Weise zu verbinden und zwischen den Bildern Analogien und dialektische Beziehungen herzustellen, erweist sich als poetisches „Rewriting“ von Geschichte mittels subjektiver Erinnerung. Beim mehrmaligen Betrachten können immer neue Anknüpfungspunkte für neue Geschichten ausgemacht werden. Obwohl der Film über eine grundsätzlich offene Narration verfügt, findet er am Schluß in einer Zirkelform an den Anfang zurück. Indem Tajiri am Ende des Films alle Einstellungen, die ihre Mutter beim Wassersammeln zeigen, aneinanderreiht, entsteht ein Ablauf. Der Kreis schließt sich, auch wenn die subjektive Erfahrung nun eine andere ist. Dadurch, daß dieses Bild immer wieder wiederholt wird, wird es in einem doppelten Sinn zur Erinnerung. Wiederholung kann, wenn es sich um eine unangenehme Erinnerung handelt, als Zwang erlebt werden. In der Psychoanalyse wird die Wiederholung zum Mittel, diese Erinnerung vom Ich akzeptieren zu lassen. Anhand des Erinnerungsbildes aus der Kindheit, über dessen Gehalt sich Tajiri nicht sicher werden kann, zeigt sich, wie essentiell der Bedeutungszusammenhang für die Erinnerung ist.

Erinnerung als Rückblende - Rückblick im Film

Sogenannte Rückblenden kennen wir alle. Die Detektivfilme des Film Noir erzählen oft mittels Rückblenden Teile der Handlung. Rückblenden sind insofern immer Erinnerung, als sie eine zeitliche Verschiebung in der Erzählzeit darstellen. Von der Gegenwart zurück in die Vergangenheit. Die Filmtheorie hat in den letzten Jahren angefangen, sich systematisch mit zeitlichen Verschiebungen im Film zu beschäftigen und damit diese auch zu theoretisieren. Im Zentrum stand und steht dabei fast immer der fiktionale Film. Über die (Erzähl-)Zeit im Dokumentarfilm wissen wir noch wenig.

In diesem Zusammenhang ein paar Bemerkungen zum Thema Rückblenden im Dokumentarfilm: In der rezeptionsästhetischen Analyse von fiktionalen Filmen wird davon ausgegangen, daß es für die Zuschauerinnen eine Identifikation, ein Verschmelzen mit einer fiktiven Figur gibt. Durch dieses Momentum treten die Zuschauenden in eine Gegenwärtigkeit. Sie sind sozusagen in der Handlung drin. Der Dokumentarfilm aber wird, u.a. von Eva Hohenberger14, als Universum der vergangenen Bilder theoretisiert. Dokumentarische Bilder werden von den Zuschauerinnen immer als Vergangenheit rezipiert. Wenn es diese Gegenwärtigkeit nicht gibt, muß das Stilmittel Rückblende im Dokumentarfilm anders verstanden werden.

Eine zweite Sequenz aus History & Memory:

„Kimokos Abwesenheit ist seine Anwesenheit“

Die Tochter geht mit der Mutter in die Erinnerung zurück. In der nachfolgend beschriebenen Sequenz versucht Tajiri zusammen mit ihrer Mutter herauszufinden, wie diese in das Internierungslager kam. Die Stelle beginnt mit der Erzählung von Reas Mutter, daß sie nicht mehr wisse, auf welche Weise sie nach Poston gekommen sei. Sie hätten das Familienauto verkaufen müssen, eine kurze Zugfahrt sei alles, was sie von der Anreise wisse. Wir sehen eine Landschaft vorbeiziehen, aus dem Auto gefilmt, Berge im Hintergrund. Trotz der realen Weite des Ausschnitts bleibt das Bild platt, die Tiefen der Landschaft werden verweigert, die Farbe ist leicht verzerrt, aber intensiv. Es folgt ein Schwarzbild mit der Schrift „Poston April 1988“, die Mutter wiederholt: ‚Ja das ist alles, was ich noch weiß [...].“ Dann erscheint ein Bild von Schienen aus dem Film Bad Day, nur kurz, von der Textur her ein unverletztes Bild, aus der Vogelperspektive. Gleichzeitig hören wir Rea ihre Mutter fragen, ob sie sich noch an den Moment erinnern könne, als sie aus dem Zug gestiegen sei. Darauf folgt eine abgefilmte schwarzweiße Archivphotographie, halbtotal, auf der Menschen vor einer Bahnstation zu erkennen sind. Eingeblendeter Text: „Parker Bahnstation 1942.“ Mutter: „Nein, alles, was ich noch weiß, ist das mit dem Zug.“ Die nächste Einstellung ist farbig, die wacklig abgefilmte Bahnstation, darüber die Schrift: „Parker Bahnstation 1988, wo der Zug meiner Mutter 1942 eingefahren ist.“ Auf der Tonspur werden Zuggeräusche hörbar. Diese laufen unter dem nächsten Bild, einem Travelling (ein aus dem fahrenden Auto gefilmter Blick auf die Straße) weiter. Darauf folgt wieder ein Schwenk über die Landschaft mit Bergen im Hintergrund; darin wird das Gesicht eines japanischen Mannes15, rot solarisiert, ein- und ausgeblendet. Rea (nicht mit der Kommentarstimme, sondern aus einem Gespräch): „Es ist komisch. Nach Poston zu gehen erinnert mich an den Film Bad Day at Black Rock.“ Es folgt ein relativ langer Ausschnitt aus dem Vorspann von Bad Day, unter den „Credits“ sieht man einen durch die Wüste fahrenden Zug. Darauf eingestanzt: „Am 5. Juli 1942 fuhr meine Mutter mit dem Zug nach Poston.“ Später (am unteren Bildrand): „Sie sah die Aussicht nicht.“ Auf der Tonspur ist ein Replay von der Erzählung von Reas Mutter zu hören. Nach dem vorgetäuschten Flashback zu Bad Day, nachdem sich Rea virtuell in die Position Spencer Tracys alias Macreedy begeben hat, wird die Zugfahrt der Mutter verifiziert, mit einem Datum versehen. Wie nach der Einstellung mit den Schienen führt die Parallelisierung die Sichtweise der Tochter ein. Der von Rea geschriebene Text im Bild verleiht der Erzählung der Mutter die Zustimmung der Tochter. Rea übernimmt für ihre Mutter den Akt des Benennens. Sie ist es, die nun sagt, daß ihre Mutter in Parker angekommen ist und nichts gesehen hat auf der Fahrt nach Poston. Tajiris Wechsel von der Erinnerung der Mutter zu ihrer eigenen Sicht zeigt sich auch in den folgenden Einstellungen, wieder aus dem fahrenden Auto gefilmt, mit dem Text: „Am 12. April 1988 fuhr ich mit einem Mietauto nach Poston und filmte für sie die Aussicht.“ Diese Einstellungen sind wieder mit Zuggeräuschen unterlegt. Für einen Sekundenbruchteil kommen nochmals die Schienen ins Bild, dann folgen zwei Einstellungen aus Come See the Paradise (1990)16, parallelmontiert mit Archivaufnahmen der Internierten.

Tajiri faßt dies später in History & Memory in Worte: „Irgendwie konnte ich mich mit seiner [Macreedys] Suche identifizieren.“ Auf ihrer Suche nach der Geschichte ihrer Mutter kommt ihr Bad Day in den Sinn, und dieses „Sicherinnern“ ist mehr als eine Analogisierung, es ist ein virtuelles Flashback. Rea sieht sich zurückversetzt in den Moment, als sie den Film sah. Sie identifiziert sich jetzt mit Spencer Tracy alias Macreedy. Die Parallelisierung bzw. Gleichsetzung ihrer und seiner Suche wird speziell durch die Tonspur nahegelegt, wenn ihre Autofahrt mit dem Zuggeräusch unterlegt wird und sie stellvertretend für ihre Mutter (so wie Macreedy stellvertretend für seinen Freund) ihr ein Stück ihrer Biographie zurückholt. Damit versucht sie, die Erfahrungen ihrer Mutter mit der kollektiven Geschichte der japanischamerikanischen Bevölkerung zu verbinden.

Rea Tajiri (geb. 1958 in Chicago) ist eine unabhängige japanischamerikanische Film- und Videomacherin, die in Brooklyn/New York arbeitet. Vor History & Memory hat sie The Hitcb- cock Trilogy: Vertigo, Psycho, Tom Curtain (1987) und Off Limits (1988) realisiert. Zur Zeit arbeitet sie an einem Dokumentarfilm über eine Politaktivistin aus Harlem. History & Memory wurde 1991 im „Whitney Biennal“ prämiert und ist am Yamagata International Documentary Film Festival in Japan gezeigt worden. In der Schweiz wurde History & Memory zweimal öffentlich vorgeführt: anläßlich der VIPER 1991 in Luzern und im Rahmen der Reihe „experimentell“ im Zürcher Kino XENIX (1991).

Dieses New Yorker Museum ist u.a. auf die Sammlung von filmischen Werken der Avantgarde spezialisiert.

Paul Arthur, „,Lost and Found‘ - Der unabhängige amerikanische Film in den achtziger Jahren“, in: Programm Stadtkino 198 (Wien 1991).

Vgl. dazu: Cecilia Hausheer / Christoph Settele (Hgg.), Found Footage Film, Luzern 1992. Christa Blümlinger / Constatin Wulff (Hgg.), Schreiben Bilder Sprechen: Texte zum essayistischen Film, Wien 1992.

Die anderen drei sind: 1. didaktische Tradition mit allwissender Erzählstimme (Grierson- Tradition), 2. beobachtender Dokumentarfilm (Direct-Cinema- und Cinema-Verite-Tradition), 3. Interviewstil mit direkter Adressierung (inzwischen Fernsehtradition). Vgl. dazu: Bill Nichols, „The Voice of Documentary“, in: Movies and Methods, Vol. II, Berkeley/London/ Los Angeles 1985.

Als George Bush 1991 Japan besuchte, äußerte ein japanischer Minister, die US-Arbeiterschaft sei weder kreativ noch arbeitswillig und deshalb zuwenig produktiv und zu sehr an Privilegien interessiert. Dies löste in den USA eine Welle von antijapanischen Unmutsbezeugungen aus.

Im japanischen Vokabular und Verhaltenskodex gibt es den Begriff „Shikataganai“, was soviel bedeutet wie: „Da kann man nichts machen“ und signalisiert, daß das angesprochene Thema nicht weiter diskutiert werden darf.

Inwiefern die US-amerikanische Militärführung mit einem Angriff rechnete, wird kontrovers beurteilt. Sicher ist, daß der Angriff auf Pearl Harbor für die Zivilbevölkerung und die Soldaten unerwartet kam. Folgt man den Aussagen Colin Shindlers, war Sonntagnachmittag kein Zeitpunkt für ernst zu nehmende Nachrichten am Radio. Als das Baseballspiel zwischen den Dodgers und den Giants mit der Durchsage unterbrochen wurde, reagierten viele Fans erzürnt über den Unterbruch. Andere, die sich an Orson Welles’ berühmtes Hörspiel über die Landung von Extraterrestrischen auf der Erde erinnerten, warteten darauf, daß die Rundfunkstation den Titel dieses neuen Dramas ankünden würde. Vgl. Colin Shindler, Hollywood Goes to War: Films and American Society 1939-52, London 1979, S. 43.

Das Haus wurde während seiner Abwesenheit in der Armee und der Internierung von anderen Familienmitgliedern auf einen großen Lastwagen geladen und weggeführt.

10 Yankee Doodle Dandy (Michael Curtiz, USA) entstand 1942 als eines der ersten sog. Wartime Musicals. Ab 1942 wurden in Hollywood vermehrt Musicals produziert; eskapistische Unterhaltung als Gegenpol zu den Kriegsängsten. 1943 waren 40% der Produktionen Musicals. Jerzy Toeplitz sieht in Y.D.D. nicht in erster Linie eskapistische Unterhaltung, sondern bezeichnet den Film als die „lustigste Propaganda, die jemals gemacht wurde“.

Z.B. „Japs shaved, not responsible for accidents“, Schild an einem Friseurladen, Dezember 1941; die Schlagerindustrie der Tin Pan Alley lieferte den Soundtrack. Songs wie „Slap the Japs“, „A Jap is a Sap“ etc. wurden zu Hits. Aus Shindler (wie Anm. 8), S. 35 und S. 38.

12 Bad Day at Black Rock (John Sturges, USA 1954) erzählt von der Konfrontation eines Fremden (Macreedy, gespielt von Spencer Tracy) mit den Bewohnern einer kleinen ländlichen Ortschaft Kaliforniens nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Dorfgemeinschaft will den rassistischen Mord an einem japanischamerikanischen Mitbewohner vertuschen. Macreedy ist auf der Suche nach seinem japanischen Freund aus der Vorkriegszeit. Offensichtlich ist es der Japaner, der von der Dorfbevölkerung umgebracht worden ist. Macreedys Suche bringt die Dorfgemeinschaft in Aufruhr. Als er zwei Tage später wieder abreist, ist nichts mehr wie vorher.

Nach Margrit Tröhler, „Found Footage - Filme aus gefundenem Material: Filme gegen das Vergessen“, in: Filmbulletin 4 (1992), Zürich, S. 55.

Eva Hohenberger, Die Wirklichkeit des Films. Dokumentarfilm - ethnografischer Film - Jean Rauch, Hildesheim 1988.

Wen das Foto wiedergibt, wird im Film nie eindeutig gesagt. Ich interpretiere es in erster Linie als Bild für den in Black Rock umgebrachten Japaner Kimoko, von dem im ganzen Film kein Bild gezeigt wird. Tajiri: „Sobald sie ein asiatisches Gesicht sehen, können sie sich erinnern.“ Als solches steht die Photographie als Erinnerungsbild für die Toten, „für den Geist der Toten“.

16 Come See the Paradise (Alan Parker, USA 1990) ist die erste Hollywoodproduktion, die die Internierung der japanischamerikanischen Bevölkerung thematisiert. Der Film handelt von der Liebe zwischen einer Frau japanischer und einem Gewerkschafter irischer Herkunft, der sich im Laufe des Films für die Angehörigen seiner Frau einzusetzen beginnt.

Alle amerikanischen Zitate übersetzt von der Autorin.

Verleih von History & Memory: Video Data Bank, 37 S. Wabash, Chicago, IL 60603, Tel +1-312899-5172

Alexandra Schneider
geb. 1968, studiert Soziologie und Filmwissenschaft an der Universität Zürich und ist Mitherausgeberin eines Lexikons über Film- und Videoschaffen von Schweizer Frauen, das 1994 erscheinen wird.
(Stand: 2019)
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