CAROLA FISCHER

DIE BLAUE STUNDE (MARCEL GISLER)

SELECTION CINEMA

Wenn man so will, ist dieser dritte Spielfilm des in Berlin lebenden Marcel Gisler der Abschluß seiner Tagediebe-Trilogie. Seine Helden sind in die Jahre gekommen, etwas müde, und vor allem sehr einsam. Weniger die schlaflosen Nächte als die unausgefüllten Tage machen ihnen zu schaffen. War ihre Orientierungslosigkeit und Ziellosigkeit, eine von Freiheitsdrang getragene Verweigerung von bürgerlichem Lebensstil und Angepaßtheit in den früheren Filmen abgepolstert im losen Beziehungsnetz der sogenannten Szene, so hat die Lebensweise von Theo eher etwas Bedrückendes. Theo ist Callboy. Er bietet seinen Körper nicht wie die Strichjungen am Bahnhof feil, sondern er hat ein Inserat laufen und besitzt einen Telefonbeantworter. Seine Kunden, nicht selten Stammkunden, sind homo- oder bisexuelle Geschäftsherren auf der Durchreise. Theo ist etwa Mitte Zwanzig, schön, liebenswürdig und unverbindlich. Seine Wohnung ist nicht teuer, aber mit Geschmack eingerichtet. Freunde hat er keine. Er hat etwas Ruheloses, Suchendes, wobei kaum aufscheint, was er eigentlich sucht. Neigungen und Sehnsüchte sprechen nicht aus seinem Tun, wenn er in seiner „Freizeit“ in der Wohnung herumbosselt. Die Tatsache, daß er sich seinen Lebensunterhalt auf diese Weise verdient, scheint eher einer Bequemlichkeit als einer Verzweiflung zu entspringen.

Dieser unverbindliche Einzelgänger hat eine Wohnungsnachbarin. Marie, lustlose Plattenverkauferin, liiert mit einem selbsternannten Schriftsteller, den sie von Zeit zu Zeit aus der Wohnung wirft. Marie wird von einer alten Bekannten aus dem Gisler-Clan gespielt. Dina Leipzig, die aufregend schräge Nudel aus den früheren Filmen, die mit ihrem überdrehten John-Waters-Sixties-Look ihrer Zeit damals weit voraus war, ist in der Rolle der weiblichen Verführerin des zwischen den Geschlechtern pendelnden Theo eine Fehlbesetzung (die einzige übrigens, denn Gisler besetzt alle übrigen Parts sehr sicher). Die zögernde Romanze, die sich zwischen ihr und der unentschlossenen männlichen Nutte anbahnt, ist nicht ganz überzeugend. Vermutlich würde aber auch jede andere Frau an der Unfähigkeit Theos, sich auf eine Beziehung einzulassen, scheitern. Auch den Mann, den er aus freien Stücken aus der Bar zu sich nach Hause genommen hat, läßt Theo später anbrennen. Die Stärke der bisherigen Filme Gislers war, daß man sich seinen Figuren irgendwie nahe gefühlt hat, auch wenn man mit ihrem Herumhängen nicht immer einverstanden war. Der Callboy Theo ist in dem Sinn die schwächste seiner Figuren, da von seinem Innenleben zu wenig rüberkommt. Man ist als Zuschauer geneigt, ihn aufzugeben, wie Marie, die es am Schluß wieder mit ihrem alten Liebhaber Paul versucht. Theo tigert wie am Anfang einsam durch die Straßen von Berlin, die angefüllt sind mit wild hupenden wiedervereinten autofahrenden Deutschen.

Trotz der deutlichen Drehbuchschwäche, die die Figuren allzu vage und hohl erscheinen läßt, sieht man sich diesen Film gern an, ist Gislers Talent auch hier unverkennbar. Wunderbare Einstellungen und ein ruhiger Erzählfluß prägen diesen (von Ciro Cappellari) stilvoll photographierten Film. Schmerzlich vermißt man den Humor und die Unbeschwertheit der früheren Filme. Aber das hat wohl auch damit zu tun, daß der Regisseur Abschied nimmt von einer Lebensphase.

Carola Fischer
geb. 1949, cinephile Germanistin, arbeitet in der Dokumentation „Wort“ des Schweizer Fernsehens DRS.
(Stand: 2019)
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