Die filmische Aufbauarbeit in Peru geht nur langsam und mühsam voran. Hinter jeder überwundenen Schwierigkeit taucht eine neue auf. Das Funktionieren einer eigenen Filmindustrie bleibt vorerst noch ein fernes Ziel. In handwerklicher Pioniermethode werden jährlich zwei bis vier lange Kinofilme hergestellt. Dazu kommen rund 60 Kurzfilme von je 10 Minuten Dauer, die dank eines Filmgesetzes als nationale Vorfilme in den 180 Kinos des Landes (davon 85 in Lima) ausgewertet werden können. Hauptschwierigkeiten sind: Kein eigenes Labor, kein Tonstudio für Mischung, unvollständige Produktionsinfrastruktur, meist in schlechtem Zustand, keine Dienstleistungsbetriebe mit ausgebildeten und spezialisierten Technikern, nichtvorhandene Ersatzteile, veraltete und schlecht ausgerüstete Kinos. Dazu ein bürokratischer Staat ohne Kulturpolitik und Filmförderungsmaßnahmen.
Mit all ihren Einschränkungen und Entbehrungen funktioniert die Filmarbeit in Peru als Herausforderung an Phantasie und Kreativität, an unternehmerische Initiative und Widerstandskraft. Es muß noch alles gefunden, erfunden und aufgebaut werden - eine filmische Anfangssituation, deren Grenzen offensichtlich sind, die jedoch auch über interessante Anziehungspunkte verfügt. Die peruanischen Filmemacher arbeiten in einer Welt, in der sich die Dinge in konstanter und intensiver Bewegung befinden, in der große soziale und kulturelle Gegensätze aufeinanderprallen, in der oft die Fiktion von der Realität übertroffen wird, in der es gleichzeitig einen großen Reichtum an Mythen und Geschichten gibt. Peru ist ein Schmelztiegel von vielen Ethnien und Kulturen. Die Menschen befinden sich auf einer ungeduldigen Suche nach Identität. Dazu gehört ein Hunger nach Bildern, die mit der eigenen Realität zu tun haben. Die Realisatoren sind sich dieser Situation bewußt. Die wenigen Kinofilme orientieren sich an der Vielfalt der brennenden Themen. Sie wirken als deutlicher Kontrapunkt zum übrigen Filmangebot, das von billigen amerikanischen Nebenprodukten dominiert wird. Die einheimischen Filme entsprechen einem Bedürfnis; sie fallen auf und werden so fast ausnahmslos zu großen Publikumserfolgen.
Im folgenden möchte ich auf die Erfahrungen mit den beiden Filmen Gregorio und Juliana eingehen, die ich mit der Gruppe Ohaski produziert und korealisiert habe.
Gregorio, 16 mm, Blow-up 35 mm, Farbe, dokumentarischer Spielfilm, 90 Minuten. Der Film erzählt die Geschichte eines 12jährigen Indiojungen, der zusammen mit seiner Familie vom Andendorf Recuayhuanca in die Großstadt Lima zieht, um hier nach dem „besseren Leben“ zu suchen. Nach dem Tod des Vaters muß Gregorio als Schuhputzer arbeiten, um mit seinem Verdienst zum Überleben der Familie beizutragen. Er lernt eine Bande von gleichaltrigen Jungen aus der Stadt kennen, die sich als Straßenclowns und Gelegenheitsdiebe durchschlagen. Trotzdem bleibt Gregorio auf einem eigenen Weg, dessen Möglichkeiten unsicher und offen bleiben.
Juliana, Super 16 mm, Blow-up 35 mm, Farbe, dokumentarischer Spielfilm, 90 Minuten. Hier handelt es sich um die Geschichte eines 12jährigen Mädchens aus dem Armenviertel Barrios Altos. Juliana putzt Gräber auf dem Friedhof El Angel. Als sie die Mißhandlungen des Stiefvaters nicht mehr aushält, geht sie von zuhause weg, um sich einer Kinderbande anzuschließen, die Lieder in öffentlichen Autobussen singt. Damit ihr Vorhaben Chancen auf Erfolg hat, muß sie sich die Haare schneiden und sich als Junge verkleiden. Die Bande lebt in einem abbruchreifen, verlassenen Haus. Sie wird von Don Pedro, einem alten Gauner, geleitet und gleichzeitig auch ausgebeutet. Juliana beginnt sich zu wehren. Langsam gewinnt sie das Vertrauen der andern Kinder. Ihre Auflehnung gewinnt an Kraft, und als bei einer Auseinandersetzung ihre Identität als Mädchen klar wird, ist es für Don Pedro und seinen Stellvertreter Cobra zu spät - die Mehrzahl der Bandenmitglieder schließt sich Juliana an, und in einem gestrandeten Schiff bauen sie ein neues und eigenes Quartier auf.
Die Hauptfiguren in Gregorio und Juliana sind aus intensiven Vorarbeiten und Recherchen heraus entstanden. Wir haben uns über längere Zeit in die marginale Welt der Straßenkinder einarbeiten müssen. Unterwegs haben uns viele Gregorios und Julianas ihre Geschichten erzählt. Allmählich sind aus diesen Schilderungen, Kontakten und Beobachtungen die beiden Drehbücher herausgewachsen. Die Konstruktion der Haupt- und Nebenfiguren ist keine zufällige. Zumindest in der ersten Phase des Drehbuches stehen die Figuren stellvertretend für viele Kinder, für ihre Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen und kulturellen Gruppen, für verschiedene Reaktions- und Verhaltensmuster unter den harten Bedingungen des Lebens auf der Straße. In diesem Sinn wurden die Figuren als Prototypen gedacht und aufgebaut. Doch das Drehbuch stellte für uns kein festes und abgeschlossenes Gebilde dar. Es handelte sich mehr um ein Drehkonzept oder Drehgerüst. Die Figuren wurden angelegt und skizziert, aber nicht bis in die Details festgelegt. Das gleiche gilt für die aufgeschriebenen Dialoge. Sie dienten lediglich als Anhaltspunkte.
Für die Realisierung der Filme suchten wir nach Kindern, deren persönliche Alltagsrealität relativ nah an den im Drehbuch beschriebenen Rollen liegt. Mit ihren darstellerischen Möglichkeiten sollten die Kinder aus ihrem eigenen Erlebnis- und Erfahrungsbereich schöpfen können. Die vorgesehenen Szenen und Situationen durften nicht als Fremdelement wirken. Die Härte des Überlebenskampfes prägt und hinterläßt Spuren, in der Art, sich zu bewegen und zu kleiden, im Ausdruck der Gesichter, in Blicken und in der Sicherheit, mit der die verschiedensten Arbeiten angepackt und ausgeführt werden - vor allem aber in den sprachlichen Ausdrucksgewohnheiten.
Die Authentizität der vorgesehenen Geschichten wäre mit Kindern aus anderer sozialer Umgebung kaum herzustellen gewesen. Trotzdem bestand zwischen den ausgewählten Kindern und den Rollen, die sie für den Film übernehmen mußten, ein Unterschied: Sie verfügten alle über mindestens eine erwachsene Bezugsperson und besuchten alle eine Schule. Diese Bedingungen mußten erfüllt sein, um bei der Nachbetreuung nach Ende der Dreharbeiten auf Begleitpersonen und Partner zählen zu können. Die Mitarbeit am Film sollte Kindern aus schwierigen Verhältnissen eine persönliche Entwicklungschance bieten.
Die Zusammenarbeit mit den für die verschiedenen Rollen ausgewählten Kindern setzte für beide Filme mehrere Monate vor Beginn der Dreharbeiten ein. Im Fall von Gregorio verfuhren wir nach einer noch etwas spontanen, ungeordneten und empirischen Methode. Viele Dinge mußten unterwegs gelernt werden. Bei Juliana hatten wir mehr Erfahrung und ein klareres Konzept. Für die Vorarbeiten wurde ein Haus gemietet, in das die rund zehn Kinder und speziell verantwortliche Mitglieder des Filmteams bereits zwei Monate vor Drehbeginn einzogen. Das tägliche Zusammenleben und das gemeinsame Absolvieren eines Vorbereitungsprogramms ließ die notwendige Vertrauensbasis entstehen - sowohl zwischen den Filmemachern und den Kindern als auch unter den Kindern selber. Zur Vorarbeit mit den Darstellern gehörten lange Gespräche mit jedem einzelnen Kind über die eigene persönliche Geschichte, über besondere Erlebnisse und Erfahrungen, Meinungen und Sichtweisen. Mit all diesen Informationen und Schilderungen wurde parallel zur Vorbereitungsarbeit nochmals das Drehbuch überarbeitet, um Figuren und Rollen besser auf jeden Darsteller und jede Darstellerin abzustimmen. Die Kinder machten ausgiebig von ihren Beteiligungsmöglichkeiten bei den verschiedenen Drehbuchsessionen und beim gemeinsamen Einüben der Rollen und Spielsituationen Gebrauch. Das Programm im Kinderhaus beinhaltete medizinische Betreuung, Selbstorganisation für Essen und Schlafen, Arbeiten im Haus mit verschiedenen Verantwortlichkeiten, Medienunterricht mit Filmvorführungen und praktischen Übungen, Freizeit und Sport, Gruppengespräche über Arbeit und Rechte der Kinder, Schauspieltraining, Drehbuchbesprechungen und Einüben von Szenen, Malen sowie musikalische Vorbereitung.
Für die Kinder wäre es äußerst schwierig gewesen, direkt von ihrem alltäglichen Erlebnisbereich weg in eine für sie ausgedachte Filmrolle zu schlüpfen, auch wenn sich diese nahe an der eigenen Realität bewegte. Ihre darstellerischen Leistungen konnten nur über einen längeren Umweg erreicht werden. Zuerst ging es darum, daß jedes Kind seinen Weg und seine eigene persönliche Geschichte besser kennenlernen mußte, ebenso wie seine Persönlichkeit, seinen Charakter, seine Schwierigkeiten, und vor allem seine Fähigkeiten. In einem zweiten Schritt ging es darum, herauszufinden, inwieweit die eigene Realität mit der für den Film vorgesehenen Rolle etwas gemeinsam hat. Diese Berührungspunkte, die langsam klarer und bewußter wurden, stellten später so etwas wie eine Brücke dar, über welche die Kinder mit mehr Sicherheit und Selbstbewußtsein in die jeweiligen Rollen und Filmfiguren „umsteigen“ konnten. Dieser Prozeß war gleichzeitig ein Lernprozeß für die Realisatoren, indem sie langsam ein deutlicheres Bild von den Möglichkeiten jedes einzelnen Darstellers bekamen. Sie erfuhren auch, welche Teile des Drehbuches besser auf die kleinen Persönlichkeiten zugearbeitet werden mußten und in welchen Szenen die Distanz zwischen Realität und Fiktion mit schauspielerischer Leistung zu überbrücken war.
Beim zweiten langen Film, Juliana, wurde besonderes Gewicht auf die musikalische Vorarbeit mit den Kinderdarstellern gelegt. Der Komponist und Musiker José „Pepe“ Barcenas brachte wertvolle Erfahrungen einer langjährigen Musiktherapie mit Straßenkindern im Hafenviertel Callao mit. Peru ist ein Land mit einer reichen kulturellen und musikalischen Vielfalt. Es gibt die Indiomusik aus den Anden, die Musica Criolla oder Mestizenmusik der Küste, die Musik der schwarzen Bevölkerung vor allem aus Chincha und Lima, die Musik der Bewohner des peruanischen Urwaldes. Dazu kommen verschiedene Fusionsformen, wie beispielsweise die Salsa oder die Chicha.
In einer ersten Phase arbeitete Barcenas mit jedem Kind an der Suche nach Elementen einer persönlichen musikalischen Identität, wobei vor allem auf den eigenen Rhythmus ein großes Gewicht gelegt wurde. Erst nach dieser musikalischen Selbstfindung begannen die Gruppensessionen, in denen die Kinder lernten, die harmonischen und rhythmischen Formen der andern aufzunehmen, zu respektieren und später mitzuspielen. Nur über diesen Vorbereitungsweg war es dann während der Dreharbeiten möglich, die vielen Szenen mit musikalischer Beteiligung der Kinder in Ton und Bild direkt aufzunehmen.
Ein Beispiel. Der alte Don Pedro und seine Helfer verprügeln die beiden Negerjungen, weil sie ihm die Tagesrate nicht vollständig abgeliefert haben. Danach herrscht bedrückte Stille im Raum, nur das Schluchzen von Aranita und Pele ist zu hören. Da greift loco zur Zampona (peruanische Panflöte) und nimmt ihr Weinen in langgehauchten Tönen auf, Juliana kommt mit ihrer Stimme zu Hilfe, und Moni setzt auf seinem selbstgebastelten Schlagzeug ein. Die Szene steigert sich zu einer „musikalischen Explosion“, von der alle Kinder außer Cobra erfaßt werden. Dieser erste gemeinsame Widerstandsakt gegen die Machtmechanismen von Don Pedro wurde in einer einzigen langen Einstellung mit Direktton aufgenommen.
Die kontinuierliche Beteiligung der Kinder ist wichtig. Von ihrer Motivation hängt ein großer Teil des Resultats ab. Um das Interesse wachzuhalten, versuchten wir, die Filme möglichst mit einem chronologisch aufgebauten Drehplan zu realisieren. Kinder, die vor oder nach einer gefilmten Szene selber Auftritte hatten, wurden mit an den Drehort genommen, damit sie sich eine Vorstellung von den Anschlüssen machen konnten. Dazu wurde die Geschichte des Films immer wieder bis zum Punkt des jeweiligen Drehtages erzählt, um die Bedeutung der vorgesehenen Szenen herauszuarbeiten und zu verdeutlichen.
Unser filmisches Konzept, das die Suche nach Verbindungsmöglichkeiten von dokumentarischen und fiktiven Elementen beinhaltet, machte es uns möglich, auch während der Dreharbeiten noch auf Vorschläge oder Beteiligungswünsche der Kinder einzugehen. Für jedes Kind wurden Sequenzen eingebaut, die direkt mit der eigenen Realität zu tun hatten. Dazu gab es Möglichkeiten von persönlichen Statements, die mit Erlebnissen, Träumen und Wünschen der Kinder zu tun hatten. Solche Drehmomente vermochten jeweils das Interesse auf einen Höhepunkt zu bringen. Sie wurden von den Kindern ungeduldig erwartet, weil sich in ihnen die Rollen mit der erlebten Wirklichkeit berührten oder überschnitten. Ihre Motivation steigerte sich und damit ihre darstellerischen Leistungen. Sie fühlten sich als wirkliche Protagonisten, und ihr Spiel erreichte ein hohes Maß an Authentizität. In unseren beiden Filmen Gregono und Juliana. sind die intensivsten Momente dort zu finden, wo für die Darsteller die übernommene Rolle mit der eigenen Realität übereinstimmt.
Während des Ablaufs der Dreharbeiten kreierten Juliana und ihre Freunde ein eigenes Lied. Teile dieser selbstinszenierten Kreation wurden in Sequenzen des Films eingebaut. Später wurde das Lied sogar zum Schlußlied des Films. Darin sind Träume und Hoffnungen der Kinder enthalten. Es ist ein Kontrapunkt zur harten Wirklichkeit, gegen die sie sich im Alltag durchsetzen und behaupten müssen.