LORENZO HELBLING

ALS OB ER MICH WARNEN WOLLTE

FILMBRIEF

Es sei ein Hongkong-Film, erklärt mir der Kassierer des kleinen Kinos - als ob er mich warnen wollte - und schaut mich dabei zweifelnd an. Doch der Film wird, wie die meisten Kinofilme in Hongkong, mit englischen und chinesischen Untertiteln gezeigt, und größere Erwartungen habe ich längst abzulegen versucht - ich weiß, der Film wurde nicht für mich geschaffen, oder ich nicht für diesen Film. Ich komme aus der Schweiz und will mich heute ins Kino setzen. Also bezahle ich die 35 HK$ (umgerechnet etwa 7 Franken) und schließe mich als einziger Ausländer dem vorwiegend jugendlichen Publikum an.

’92 The Legendary La Rose Noire ist ein in der heutigen Zeit angesiedeltes Remake eines 60er-Jahre-Films über eine Frauenbande, La Rose Noire, eine Art weiblicher Robin Hoods, die sich für die Armen einsetzen. Es sei der Versuch, etwas vom Charme und der Verspieltheit der bis in die 60er Jahre sehr populären kantonesischen Opern- und Melodramenwelt in die 90er Jahre zu tragen, erklärt mir ein Freund. Damals, noch vor den Boomjahren und der Internationalisierung und in der Jugendzeit der heutigen Entscheidungsträger, sei Hongkong noch nahe an der eigenen, kantonesischen Tradition gewesen.

Die Beschwörung der alten Zeiten scheint nur als Parodie und im Eiltempo möglich zu sein. Über viele tumultuöse Zwischenfälle, abstruse Szenen und Einsprengsel von Kanton-Opern und Kungfu rast die Geschichte der Begegnung des Heute mit dem Damals mehr oder weniger holprig zu einem HappyEnd. Das Publikum amüsiert sich. Ich werde das meiste wohl nicht verstanden haben. Mir fällt nur die Gnadenlosigkeit auf, mit der die Figuren der Lächerlichkeit preisgegeben werden. So bleibt von der Aura von Tony Leung, dem gefeierten Liebhaber aus The Lover, wenig übrig, wenn er unter Tische kriecht oder sich weinend weigert, ins Ehebett zu steigen.

Der Produzent einer der mittlerweile immer zahlreicheren kleinen („independent“) Filmproduktionsfirmen erklärt mir seine Arbeitsweise. Zu dritt oder viert sitzen Produzent, Drehbuchautor etc. vor dem Fernseher und schauen sich Videos an. Finden sie eine Szene interessant, dann wird sie notiert und in den neuen Film verarbeitet. Filme aus Osteuropa seien im Moment die besten Vorlagen, die seien noch wenig bekannt und die Ideen noch nicht zu oft kopiert worden. Durchschnittlich genügen drei bis vier Monate, um einen Film in Hongkong zu produzieren.

Stephen Chiau ist der momentan populärste Komödienstar Hongkongs. Er gehört zu der Art von Stars, die nur mit der Wimper zu zucken braucht, um das Publikum in ihren Bann zu ziehen. Über zwei Jahre ist er nun schon fast ununterbrochen in irgendeinem Film zu sehen, viel zu lange eigentlich, sagt man, für einen Komödienstar in Hongkong. Doch seine Popularität hält an. Chiaus Markenzeichen ist „ma lei tau“, eine von ihm entwickelte NonsensSprache, die vor allem aus zusammenhangslosen Bemerkungen besteht. Es ist eine Möglichkeit, Dampf abzulassen, ohne dabei irgend etwas zu sagen. Die passende Sprache für die Subjekte der Kronkolonie, die kaum etwas mitzubestimmen haben, wenn es um ihre von London und Beijing bestimmte Zukunft geht. (Die Verleiher des US-Films Wayne’s World versuchen nun den Film dem lokalen Publikum schmackhaft zu machen, indem sie die Dialoge in der Art von „ma lei tau“ übersetzen.)

Chiaus Royal Tramp, eine „Kostümkomödie“, die vor dem glanzvollen Hintergrund des Qing-Hofes spielt, ist der Kinohit dieses Sommers. Chiau spielt einen Geschichtenerzähler, der Müßiggänger mit wahrscheinlichen und unwahrscheinlichen Geschichten unterhält, bis er selbst unverhofft in die Intrigen des Hofes verwickelt wird. Hier hilft er bald den Rebellen, bald dem Kaiser, so wie es sich gerade ergibt. Es geschieht dieses und jenes, es gibt Gags, Prügeleien und Längen. Witze beziehen sich vor allem auf die Eunuchen und ihre seltsame Machtstellung, die mit Impotenz erkauft ist. In atemlosem Tempo reiht sich Szene an Szene. Oft vermeint man, plötzlich in einem anderen Film zu sitzen, einiges bleibt unverständlich, und das meiste ist völlig unglaubwürdig. Der Film lebt vor allem von Stephen Chiaus Person. Irgendwann sind die 90 Minuten um, in einigen Monaten kommt Teil II in die Kinos.

Once Upon a Time in China, Teil I und II, waren Tsui Harks große, patriotisch eingefärbte Würfe rund um den halblegendären Volkshelden Huang Feihong. Bekannt geworden war er als einer der Regisseure der New Wave, die sich in Hongkong vor mehr als zehn Jahren abzuzeichnen begann und dann im Kommerz versandet ist. Once Upon a Time a Hero in China ist der Reflex aus der Komödienecke auf Tsui Harks Erfolge und versucht unzimperlich vom Trend mitzuprofitieren (nicht daß das hier jemanden stören würde, im Gegenteil, der Film wird hoch gelobt). Szenen und Ideen der Vorlage werden direkt übernommen. Doch vom Heldentum Huang Feihongs und seiner Hingabe bleibt nichts übrig. Der Held hier will kein Held sein. Er kann nichts, setzt sich für nichts ein, liegt lieber flach auf dem Boden, als daß er zu seiner historischen Größe wachsen würde. Wie bei Royal Tramp ist der Film wieder temporeich, bleibt die Handlung oft unklar, und die Gags sind oft billig und selten neu. Komödien haben eine feste Tradition in Hongkongs Filmwelt. Zu jedem einigermaßen erfolgreichen Film gibt es die entsprechende Komödie. Es gibt sie zu allen Genres, sei es Kungfu, Action, Gangster, Sex oder wie die Genres alle heißen, die hier weit wichtiger sind als etwa die Namen der Regisseure. Auch die „normalen“ Filme haben oft einen starken Hang ins Komödiantische, als ob sie sich dauernd von sich selbst distanzieren müßten.

Komödien sind vielleicht auch der Teil des Films in Hongkong, der am ehesten lokal verankert ist und deshalb am schwierigsten in andere Kulturen transportierbar, exportierbar ist. Zu stark fußen sie auf einem Hongkonger Lebensgefühl, zu spezifisch sind die Referenzen (weniger zum lokalen Geschehen als zur lokalen Filmwelt). Sie leben von Stars, die dem Außenstehenden unbedarft Vorkommen mögen, und verwenden eine oft kaum übersetzbare Sprache. Sie versuchen Erwartungen zu erfüllen, wie sie nur ein entwurzeltes und gehetztes Publikum wie das in Hongkong haben kann. Es lebt in einer apolitischen Welt, die kulturell im Niemandsland zwischen Ost und West liegt. Insofern hatte der Kassierer recht mit seiner Skepsis. Die Zweisprachigkeit der Untertitel täuscht, wie die ganze Zweisprachigkeit Hongkongs, eine Vermischung der Kulturen vor. Die Filme sind für eine geschlossene Gesellschaft bestimmt.

Bescheuerte Antihelden, ungeschickte Dilettanten, greinende Feiglinge - das Männerbild der Komödien steht im Kontrast zu einer anderen zur Zeit sehr populären Filmgattung, den Action-, Gangster- und Copfilmen, die den Mythos von der knallharten, cognactrinkenden Geschäftsstadt Hongkong elaborieren und um die Welt tragen. Männer, wie zum Beispiel Chow yun-fatt, sind die eigentlichen Stars der Hongkonger Filmszene. Sie bringen das Publikum in die Kinos, und ihre Gagen machen meist den Großteil der Filmproduktionskosten aus. Die männlichen Stars verdienen ein Vielfaches der weiblichen.

To Be Number One, Hard-Boiled, Full Contact etc. - die Titel fassen hier jeweils den ganzen Inhalt der Filme zusammen - feiern eine ungebrochene Männerwelt, die nicht einmal zu ahnen scheint, daß das Wort „Macho“ auch negativ besetzt sein könnte. Harte Typen kämpfen hier gegen harte Typen ums Überleben, um Geld und Macht. Frauen haben in diesen Filmen, in denen Männerloyalitäten die bestimmenden Beziehungen sind, nichts zu suchen.

Diese neue Generation von Actionfilmen zeigt überaus unverhohlen Brutalität. Da werden Körper zusammengeschlagen, zerschossen, zerhackt, da spritzt Blut und fliegt Fleisch herum. Wollte man bei solchen Szenen die Augen schließen, man würde den ganzen Film verpassen. Es scheint gerade das Vernichten der Körper zu sein, das interessiert. Dabei wirken diese Filme, obwohl angefüllt mit gutaussehenden Körpern, keineswegs körperbetont, sondern seltsam abstrakt, ja irreal.

Es besteht in diesen Filmen eine ähnliche Distanz zur Realität wie bei den Komödien, wo das dauernde Überzeichnen, die Zusammenhangslosigkeit, Unlogik und Unwahrscheinlichkeit der Handlung verunmöglichen, daß man Boden unter den Füßen gewinnt. Die Flucht vor der Realität scheint in Hongkongs Filmen zu einer wahren Phobie vor allem Realen auszuwachsen.

Es läuft irgendein Actionfilm aus Hollywood in einem der beiden englischsprachigen Fernsehkanäle. Nach einigen Monaten in Hongkong bin ich erstaunt über die Langatmigkeit des Filmes, über das Maß an Zeit, das auf das Erzählen einer Geschichte ver(sch)wendet wird. Doch zu einem eigentlichen Erlebnis wird der Film durch die Reklamen, Programmhinweise und Sponsorenerwähnungen, die die Ausstrahlung alle 15 Minuten übergangslos unterbrechen. Es ist unmöglich, die ursprüngliche Handlung noch einigermaßen zu verfolgen. Der Film wird, angereichert mit zahlreichen Kontrastmontagen und einem völlig neuen Rhythmus, zu einem neuen Dokument.

Der Produzent zeichnet mir eine Pyramide auf ein Papier. Die schmale Spitze oben bilden die gut ausgebildeten Leute; der breite Fuß unten sind die Leute mit nur schlechter Bildung. Es seien diese Leute, die ins Kino gehen. Es sei sehr schwierig zu wissen, was sie jeweils gerade sehen wollen. Und wie er mich dabei leidend anschaut, glaube ich ihm, daß er eine harte Zeit hat. Er scheint Angst zu haben vor dem Publikum, das er eben für dumm verkaufte. Kommerzkino zu machen, scheint doch nicht so einfach zu sein, auch wenn mir alle Filme gleich Vorkommen.

Seine reine Kommerzialität verurteilt den Hongkong-Film dazu, in ängstlichen Variationen stets dasselbe zu wiederholen. So entsteht ein hektischer Markt von billigen Produktionen, Folgefilmen, Persiflagen und Imitationen. Der einzelne Film wird unwichtig. Immer mehr engt sich der Markt auf einige wenige kassenträchtige Stars ein. Im Kampf um diese großen Namen fällt der Filmwelt nichts anderes ein, als sich auch hinter der Leinwand zu imitieren. Zwei Produzenten wurden kürzlich erschossen. Einschüchterungen und Prügeleien sind an der Tagesordnung.

Es wird etwas geschehen, es werden neue Leute kommen in den nächsten ein, zwei Jahren, sagt mir der Produzent zum Abschied. Jacob Cheung, der Regisseur von Cageman, einer ganz vor dem konkreten Hintergrund von Hongkong angelegten Satire voll von schwarzem Humor, und einer der wenigen Regisseure, die etwas mitteilen wollen mit ihren Filmen, beklagt sich nicht über das Publikum. Er fürchtet sich vor den Investoren, die hohe Renditen erwarten und rasch ihre Pläne ändern, vor den Verleihern, die wenig Mut zeigen und nur auf große Namen reagieren, und vor den vier Firmen, die die Kinos hier kontrollieren und Neuem kaum eine Chance geben.

Hongkong ist der drittgrößte Finanzplatz der Welt und eine wichtige Handelsmacht. Doch politisch hat die Bevölkerung von Hongkong kaum etwas zu sagen. Es ist eine Kolonie, verwaltet von einem von England eingesetzten Gouverneur. Erste, sehr eingeschränkte Wahlen wurden erst 1991 durchgeführt. England hat bis jetzt mit einem Hongkong ohne Demokratie gut gelebt, und China, das das Territorium 1997 übernimmt, wacht darüber, daß ihm die abziehenden Engländer nicht in letzter Minute noch ein Kuckucksei ins reiche Nest legen.

Hongkong ist eine Stadt, die ihr eigenes Kino macht, sozusagen ihre eigenen Träume fabriziert oder sich zumindest seine eigenen Geschichten erzählt (Hongkongs Produktionen dominieren in den Kinos von Hongkong). Doch die Filme vermitteln ein tristes Bild. In höchstem Grade unverbindlich, erzählen sie Geschichten von Superhelden oder seelentröstenden Antihelden. Nur wenige haben die Kraft einer Vision. Apathie scheint die Stadt zu erfassen, sobald es nicht mehr ums Geschäftemachen geht.

Lorenzo Helbling
geb. 1958, studierte Geschichte und Sinologie in Zürich und Shanghai, Lizenziat über den Film in China, lebt in Zürich.
(Stand: 2019)
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