DORIS SENN

SCHMETTERLINGSSCHATTEN (ANNE KASPER SPOERRI)

SELECTION CINEMA

Schmetterlingsschatten erzählt Gefühle, Gedanken, Konflikte von Müttern und ihren an Krebs erkrankten Kindern. Anne Kasper Spoerri greift mit ihrem halbdokumentarischen Film ein Thema auf, das in jüngster Zeit vermehrt Aufmerksamkeit findet: die Begleitung Kranker und Sterbender sowie die Dokumentation dieser Erfahrung in Fotoreportagen und Filmen. Schmetterlingsschatten konzentriert sich auf den Blickpunkt der Frau, auf ihre Isolation in der Gesellschaft, die sie mit ihrer traditionellen Rolle als selbstlos Betreuende wie eh und je alleinläßt.

Der Emotionen bewußt, die dieses Thema auslöst, hat die Regisseurin ihr Bildmaterial einer strengen Gliederung unterworfen sowie der rationalen Auseinandersetzung mit dem Geschehen viel Platz eingeräumt. Der Film besteht aus zwei sich alternierenden Erzählsträngen - einem inszenierten (in s/w), in dem die Mutter und ihre Beziehung zu ihrem an einem Tumor erkrankten 14jährigen Sohn im Vordergrund steht, und einem dokumentarischen (in Farbe), in dem ein 6jähriges Kind die Hauptperson ist und sein Umgang mit Leben und Tod thematisiert wird. Diese sind wiederum in vier konsekutive Abschnitte aus dem Leben der Mutter eines kranken Kindes – ‚Erinnerung’, ‚Begegnung’, Wiederkehr’, ‚Abschied’ — unterteilt.

‚Erinnerung’ schildert den Einbruch der Krankheit in den Alltag der Mutter, zeigt ihr Ausgeliefertsein an Sachzwänge, klagt die Abwesenheit des Vaters an. Hin- und hergerissen zwischen den Krankenhausbesuchen und den Pflichten ihrem gesunden Kind, dem Beruf gegenüber wird das Auto - Verbindungsglied zwischen der einen und der anderen Realität - zum nüchternen Ort der Reflexion, an dem sich die Frau über das Geschehen, die Veränderungen und Vorgehensweisen Klarheit zu verschaffen sucht (Laure Wyss hat die ausgezeichneten Texte für die inneren Monologe geschrieben).

Die ‚Begegnung“ mit dem an Leukämie erkrankten sechsjährigen Patrick, sein - manchmal auch unbeschwerter - Spitalalltag und die Unerträglichkeit medizinischer Eingriffe stehen im zweiten, dokumentarischen Abschnitt im Mittelpunkt. Videoaufnahmen dokumentieren ein halbes Jahr in seinem Leben und sollen das Gefühl der Ohnmacht gegenüber Krankheit, Ärzten und Therapien, dem die Mutter ausgesetzt ist, durch die Unmittelbarkeit der Bilder auf die Zuschauerinnen übertragen. Unerwartet das ‚andere“, unkomplizierte Verhältnis Patricks zu seiner Krankheit, die er nie als Dauerzustand betrachtet und die er während seinen Erholungsphasen ganz verdrängt, um uneingeschränkt zu leben. Die Fragezeichen, die sich bei den dokumentarischen Bildern unweigerlich hinter Sinn und Zweck der Medizin und ihren Behandlungsmethoden stellen, wischt der Junge mit seinem ungebrochenen Lebenswillen diskussionslos vom Tisch.

‚Wiederkehr’ konfrontiert uns erneut mit der Mutter und ihrem mittlerweile veränderten Umgang mit der Angst, als ihr Sohn Michi einen Rückfall erleidet. Der Handlungsstrang wird mit den dokumentarischen Aufnahmen zu Ende geführt: ‚Abschied’ erzählt die letzten zwei Monate im Leben von Patrick, und wiederum ist er es, der einen ganz direkten und bewußten Umgang mit dem Tod gefunden hat und - mit seinen spontanen Äußerungen die Angst der Erwachsenen entlarvend - ihnen gleichzeitig und paradoxerweise ihr Schuld- und Verantwortungsgefühl etwas erleichtern kann. Intensives (Er-)Leben kennzeichnet diese letzte Phase.

Die Konfrontation mit den dokumentarischen Bildern, die auf eine direkte Identifikation und Betroffenheit der Zuschauerinnen abzielen, werden letztlich nur erträglich durch die rationale Auseinandersetzung, den dokumentierten Bewußtwerdungsprozeß der Mutter in den inszenierten Teilen. Einerseits lernt die Mutter sich abzugrenzen, vor allem gegen eigene überhöhte Ansprüche (die letztlich gesellschaftliche sind), das Kind andererseits zeigt sich weniger als Opfer denn als selbstverantwortliches Wesen, das sich nicht von der Krankheit vereinnahmen läßt.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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