DORIS SENN

WITSCHI GEHT (PAOLO POLONI)

SELECTION CINEMA

,Künstlerporträt’ ist mehr als eine Genre-Zuweisung des Films Witschi geht von Paolo Poloni. Das (Ab-)Bildnis eines Menschen und die Selbstdarstellung werden sowohl formal als auch inhaltlich im Film wiederholt thematisiert, so gleich zu Beginn, wo sich die Kamera um Witschis kahlen, bekritzelten Kopf dreht und der Maler eines seiner ersten Selbstporträts kommentiert: ein nackter Körper mit verhülltem Blick als Allegorie für die Schwierigkeit, sich selbst in die Augen zu schauen.,Porträt’ als bildliche Umsetzung des menschlichen .Wesens“ wird auch zum Schluß des Films wieder reflektiert: In verschiedenen späteren Selbstdarstellungen des Malers steht nun sein Kopf (mit unverbundenen Augen) im Zentrum der Bilder. Außerdem wird der porträtierende Filmer seinerseits zum abzubildenden Objekt: Hans Witschi malt Paolo Poloni.

Der Film als photographisch-erzählerisches Porträt begleitet Witschi - durch ein Kunststipendium, das ihm einen Aufenthalt in New York ermöglicht, zum Maler „ohne Wenn und Aber“ geworden — auf seiner Schiffsreise in die Staaten. Wir sehen ihn ankommen, sich einrichten und die Malerutensilien für den Gebrauch bereitlegen („Malerei hat mit Ordnung zu tun“). Auf der weißen Leinwand („Am Anfang ist das Chaos ...“) läßt er vor unseren Augen Liniengeflechte entstehen, Farbflächen, die das vorherige verdecken, holt wiederum mit wenigen Strichen Gesicht und Körper aus dem Bild heraus, um sie eine Sequenz weiter wieder zu verwischen, läßt sie neu entstehen, um sie schließlich doch wieder zu übermalen. Die Geschichte dieses Gemäldes zieht sich als roter Faden durch den ganzen Film; seine endgültige Form wollte Witschi vor der Kamera jedoch nicht offenbaren.

Witschi ist gehbehindert. Das Ungelenke seines Körpers kontrastiert mit der Leichtigkeit und Virtuosität seiner Pinselführung. Die Dokumentation seiner persönlichen Vergangenheit und sein physischer Kampf um das Gehen („eigentlich ist meine Familiengeschichte eine Spitalgeschichte“) verdichtet sich in seinem trockenen Witz und seinen philosophischen Betrachtungen zur existentialen Reflexion: Sein Körper ist zum Ausgangspunkt für seine Kreativität geworden. Der Schmerz, der durch den Widerstand der Materie gegen den größten Wunsch der Menschheit, das Aufrechtgehen und die Nichtdeformation, entstehe, wolle er bildlich darstellen, sagt Witschi. Unweigerlich zwingt er uns, über unsere eigene ‚Behinderung’, unser Gefangensein in Materie, Normen und Verhaltensmustern nachzudenken. Seine unstete Suche nach dem Menschenbild reflektiert sich im Schaffensprozeß, den die Kamera in eindrücklicher Weise festhält: Ein Gemälde beinhaltet eigentlich hundert Skizzen und Gemälde — immer wieder ändern Farben, Körperkonturen und -positionen. „Den Leuten gefällt, daß sie sich bei meinen Bildern nicht entscheiden müssen, etwas Präzises, Vorgegebenes zu sehen. Sie müssen sich nicht entscheiden, der Mensch zu sein, der man glaubt, daß sie sein müssen.“ Es scheint jedoch, als entspräche dies in erster Linie Witschis eigenem Bedürfnis und seiner Flucht vor Festlegungen, Erwartungen, Konventionen.

In Opposition zur bald überbordenden, bald verhaltenen Körperlichkeit seiner Figuren steht die urbane Silhouette New Yorks, das nur als Kulisse in Erscheinung tritt, in seiner Größe und Undurchdringlichkeit aber die Fragilität des einzelnen, besonders des behinderten Witschi, betont.

Der Film ist eine sensible Annäherung an den Künstler Witschi und sein Schaffen. Paolo Poloni ist es dabei gelungen, die Dichte und Aussagekraft der Gemälde in filmische Vielschichtigkeit und Polivalenz zu übertragen, die Zuschauenden als Film- und Bildbetrachterlnnen in den Schaffensprozeß und davon ausgehend in die weltanschaulichen Reflexionen miteinbeziehen.

Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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