„Une Biographie (1854-1891)“ führt Richard Dindos Thema und Ästhetik der Rekonstruktion weiter, ist in Dindos Fortschreibung des Gedächtnisses ein neuer Höhepunkt. Dokumentarisches Material und fiktionale Techniken greifen vielschichtig ineinander und machen im Zuschauer, schon während er den Film anschaut, Reflexionen über „Dichtung und Wahrheit“, über Verbürgtes und Imagination frei. Weil sich Dindo in der bei ihm gewohnten Art Zeit nimmt (und dadurch Zeit gibt), versinkt der Zuschauer nicht im Strudel der Spekulation - wie etwa in Orson Welles for Fake. Denn „fake“ ist hier nichts; die Erfindung stellt das Gefundene nicht in Frage, sondern steigert es. (Wenn hier Orson Welles überhaupt angeführt wird, dann auch wegen des Grundmusters von Citizen Kane, einer Rekonstruktion.)
Citoyen R. also, der wie Ernst S. nicht auftritt, sondern mit dokumentarischem Material entworfen wird, sozusagen vor dem inneren Auge, und der mit einer „fiktiven“ subjektiven Kamera vergegenwärtigt wird. Das dokumentarische Material — und das ist das vollkommen Neue an Dindos Film — besteht aus authentischen und biographischen Texten, Erinnerungen der Schwester Isabelle, der Mutter, des Jugendfreunds Ernest Delaye, des Literaten Georges Izambard, des Freundes Paul Verlaine, des Arbeitgebers in Aden, Alfred Bardey, und des Schweizer Konsuls Alfred Ilg, die ihre Erinnerungen einem fiktiven Interviewpartner - der Kamera, dem Regisseur, uns schließlich - anvertrauen. Dindo hat für sie hervorragende Darsteller gefunden, vor allem Christiane Cohendy (Isabelle), Bernard Bloch (Delaye) und Jean Dautremay (Verlaine). Sie sprechen zum Teil in authentischen (Extérieurs), zum Teil in nachempfundenen Dekors (Intérieurs), was eine neue Spannung zwischen Gefundenem und Erfundenem erzeugt. Dindo erweist sich in ihrer Führung, die auf eine fiktive Authentizität abzielt, so sicher wie noch nie; er läßt sie nicht deklamieren, sondern versucht sie in die Rolle von Zeugen, von Menschen, die die Sätze (die Gedanken) im Sprechen vorfertigen, zu bringen. Ihre Sätze sind verbürgt, ihre Gestalt und Gestik sind erfunden, und der Ort hat in den außerordentlichen 35-mm-Bildern von Pio Corradi ein Gewicht, das das vielschichtige Vorstellungsspiel wieder auf die Seite des Authentischen zieht. Mit Arthur Rimbaud fügt Richard Dindo dem Kino mit unsichtbarem Helden ein neues, ebenso raffiniertes wie überzeugendes Kapitel hinzu, eine kleine neue Erfindung. Darüber hinaus, oder eher in erster Linie, gelingt ihm das Porträt eines fiebrigen Frühvollendeten und dessen existentieller Problematik. Der Film ist nicht einfach ein geistreiches Spiel mit verschiedenen Ebenen der Repräsentation, sondern zieht sein Publikum in die Gedankengänge eines Künstlers, der von der Kunst läßt, weil sie ihm allmählich als das „Schlechte“ vorkommt. Dindo läßt politische Motive in Rimbauds Biographie - zum Beispiel das Scheitern der Commune - anklingen, doch die politische Dimension von Rimbaud und Arthur Rimbaud scheint mir in dem Diskurs über Nützlichkeit und Eitelkeit von Kunst, über Gut und Schlecht, den er führt, zu liegen. In diesem Diskurs spielen die subjektiven Passagen (verfremdetes Video-Bild) ihre gewichtige Rolle.