KOVÀCS ANDRÀS BÀLINT

„NACH DER REVOLUTION“ — FILMBRIEF AUS BUDAPEST

FILMBRIEF

„Nach der Revolution“

So heißt der Film, den Szirtes Andras, einer der interessantesten Autoren unter den jüngeren Filmemachern hier, noch vor der Revolution gedreht hat. Natürlich spricht in Ungarn niemand von Revolution, außer eben mit diesen Anführungszeichen, die gleich das Scheitern der Unternehmung signalisieren. Für Künstler und Intellektuelle bedeutet ja Revolution nicht gleich die Kommerzialisierung der Kultur. Szirtes hat einen verzweifelten Film über diesen Zustand gedreht, der auf die Künstler wartet, wenn der kommerzielle Zwang anstelle des ideologischen tritt, ohne daß aber genügend Geld da wäre, um guter Kunst einen Markt und materielle Unterstützung zu sichern.

Im Grunde geht hier die Entwicklung eines einheimischen Marktes für Kunst recht schnell voran. In erster Linie betrifft diese Entwicklung die Presse und das Verlagswesen, aber zu aller Überraschung reagiert die Filmindustrie offensiv auf die neuen Herausforderungen. Die ungarische Filmindustrie kämpft zäh und bisher auch erfolgreich ums Überleben. Sie ist nicht in dem Maß auseinandergefallen wie in den anderen osteuropäischen Ländern. Neue Produktions- und Verleihfirmen schießen aus dem Boden, und große ausländische Unternehmungen investieren hier. In erster Linie geht dieses Kapital in die Verleiharbeit, aber ein erfolgreicher Verleihsektor ist der Garant für jede Filmproduktion. Warum also verzweifeln, fragen Sie sich.

Die Lage ist nicht grauenhaft, aber sie ist auch nicht gut. Vor sechs/sieben Jahren wurde doppelt soviel produziert wie heute: Zehn Spielfilme entstehen pro Jahr. Wenn einmal 300 000 Leute sich einen einheimischen Film ansehen, ist das ein Rekord, heute bewegt sich der Durchschnitt bei 50 000 Zuschauern. Aber auch die Gewährleistung dieses Zehn-Filme-Niveaus scheint bei der heutigen wirtschaftlichen Lage in Gefahr. Und mit großen staatlichen Beiträgen ist bei einer Auslandsverschuldung von 20 Milliarden Dollar nicht zu rechnen.

Wunderbarerweise ist aber die Unterstützung der Filmwirtschaft durch den Staat seit Jahren kontinuierlich am Wachsen. Wir verdanken dies dem nationalen Filmfonds, der in den achtziger Jahren zustande kam, um einen Ausgleich zwischen Filmkunst und Staat zu schaffen. Der Film, einst gehätscheltes Aushängeschild kommunistischer Kulturpolitik, weil er sich auch im Ausland propagandistisch einsetzen ließ, war unter den verschärften wirtschaftlichen Bedingungen in eine schwierige Situation geraten. Plötzlich gab es weniger Geld und mehr Zensur. Die Zensur ist nun weggefallen, aber geblieben ist das wirtschaftliche Elend. Dem will der nationale Filmfonds abhelfen, indem er auch Verleih, Ausbildung und Filmpresse unterstützt. Was wir aber noch brauchen, sind private Produktionsfirmen, unabhängige Produzenten und Fernsehstationen, die mit dieser staatlichen Starthilfe das ganze in Schwung bringen können.

Statt einer Revolution

Die Revolution hat nicht stattgefunden. Im Film genausowenig wie in der Gesellschaft. Wir sind einfach am Ende einer langen Entwicklung angelangt. Was nun neu erfunden werden muß, ist die Rolle, die der Film in der Gesellschaft zu spielen hat.

Während zwanzig Jahren war der Film in Ungarn der wichtigste und anerkannteste Bereich der Kultur. Als eine Art politische Avantgarde konnte er sich mit Themen beschäftigen, die sonst tabu waren. Für das Kadar-Regime war es wichtig, sich den Anschein von Demokratie zu geben, und sei es auch nur innerhalb des kommunistischen Lagers. Der Film hatte die Aufgabe, dem Ausland das Image zu vermitteln, welches das Regime über sich verbreiten wollte. Ich will nicht sagen, daß die Filmer die Lakaien der Ideologen waren. Sie haben einfach die politischen Grenzen akzeptiert, im Austausch für eine größere Bewegungsfreiheit und verbraucht von einem täglichen Kleinkrieg. Drei Generationen von Filmemachern und -macherinnen haben ihre Laufbahn im Bewußtsein angefangen, daß es ihre wichtigste Aufgabe ist, diese intellektuelle Avantgardeposition zu bewahren und die große Politik zu beeinflussen. Daß dies alles Illusionen sind, ist nach 1968 klar geworden, aber es mußten zwanzig Jahre ins Land, bis sich die Filmer diese Illusion eingestanden und nach einer neuen gesellschaftlichen Rolle zu suchen begannen. Erst die Filmer der achtziger Jahre kümmern sich nicht mehr um die Bewahrung ihrer privilegierten Möglichkeiten; für sie ist Film mehr als ein politisches Essay oder die Aufarbeitung von Geschichte.

Neue Formen und Inhalte zu finden ist nicht einfach. Auch sind die nationalen und internationalen Voraussetzungen nicht gerade günstig. Die ungarischen Filmemacher sind nicht zu Handwerkern des Showbusineß ausgebildet worden, sondern zu „Filmkünstlern“. Ihr Ideal ist der Autorenfilm, und der ist weltweit schon lange tot. Das staatliche Mäzenatentum hat unsere Filmkünstler gegen den Kommerz zwar abgeschirmt, mit dem Resultat, daß sie nun völlig unvorbereitet auf jenen rauhen Wind des Marktes dastehen, der im Westen selbst bei der Produktion von Studiofilmen weht. Ich bin kein Freund des Kommerzes, weil er am Ende nichts bringt, aber es ist Zeit, daß wir uns hier klar werden, daß die Winde des Marktes uns nicht verschonen werden, statt uns gegenseitig wegen den immer kleineren staatlichen Brocken zu zerfleischen.

Neue Gesiebter, neue Unsicherheiten

Obwohl die Filmproduktion zahlenmäßig so gesunken ist, daß selbst die jährlichen Budapester Filmtage dieses Jahr vom Februar auf den Herbst verschoben werden mußten, wurden mehr Erstlingsfilme gedreht als je zuvor. Eine gewisse Dynamik und ein Wille zur Erneuerung sind also durchaus vorhanden.

Die wichtigste Frage bleibt natürlich immer noch die Qualität. Die ungarischen Filmemacher haben es sich zur Gewohnheit gemacht, sich ihre Anerkennung im Ausland zu holen. Sie haben sich in einer Art Stellungskrieg mit dem einheimischen Publikum eingerichtet. Die internationale Filmwelt hat lange Zeit den ungarischen Film wegen seiner politischen Insubordination geschätzt. Jetzt, wo das politische Interesse wegfällt, bleibt als Kriterium lediglich der internationale Erfolg an der Kinokasse oder die „künstlerische Qualität“. Die Verunsicherung ist groß. Seit drei Jahren ist praktisch kein interessanter Film aus Ungarn mehr in Cannes gelaufen. Die ungarischen Filmer finden einfach den Ton nicht. Noch immer steht der persönliche Ausdruck im Vordergrund. Aber die Filmer schaffen es nicht, die Unsicherheit, die sie ergriffen hat, so auszudrücken, daß sich die gesamte verunsicherte Gesellschaft in den Filmen wiedererkennt.

Ausnahmen sind einige Werke, die noch im „Ancien régime“ entstanden sind, wie Mein 'Zwanzigstes Jahrhundert von Enyedi Ildiko, Gewinnerin der Goldenen Kamera in Cannes 1989, oder Tarr Bélas Kàrhozat, Kandidat für den europäischen Filmpreis im Jahre 1988. Im letzten Jahr ist Monory M. Andras mit seinem Meteo aufgefallen, der erfolgreichste einheimische Film, und Feher György mit Szürkület, der in Locarno ehrenhaft abschnitt; unter anderen Preisen gewann er auch 20 000 Franken Unterstützung, falls er in der Schweiz verliehen würde. Nur hat bisher offenbar kein Schweizer Verleiher gewagt, den eigenwilligen Film ins Kino zu bringen. Diese Filme versuchen alle, ihre Geschichten so zu erzählen, daß Hinweise auf konkrete ungarische oder osteuropäische Zustände unterlassen werden. Mit Ausnahme von Fehér sind alle Regisseure und Regisseurinnen unter vierzig; sie haben es geschafft, sich der oben beschriebenen Rolle der Cineasten zu entziehen.

Ergänzt werden diese Filmemacher durch Leute, die sich auf eine radikal subjektivistische Position konzentrieren. Erfolg haben aber nur diejenigen unter ihnen, die den Mut haben, sich an die Peripherie der professionellen Filmproduktion abdrängen zu lassen, wie der schon erwähnte Szirtes oder Szöke Andràs. Beide stellen auf eine „wilde“ Art sich selbst in den Mittelpunkt, wie dies höchstens in der Nouvelle Vague üblich war. Ihre Filme sind ironisch und formal etwas chaotisch, wie sich das heute gehört. Daß sie überhaupt drehen können, beweist die Flexibilität der ungarischen Filmwirtschaft - kein schlechtes Zeichen im Hinblick auf die Anpassungsprozesse, die auf uns warten.

Diese Aufbruchstimmung hat aber in Ungarn Tradition. Das 1962 gegründete Studio Balázs Bela ermöglicht bald seit dreißig Jahren den jungen Filmern experimentell zu arbeiten, in einem weltweit möglicherweise einzigartigen institutionellen Rahmen. Kein anderes kommunistisches Land gewährte solche Freiheiten, und kein kapitalistisches gab je soviel materielle Unterstützung. Die Folge war, daß hier die internationalen neuen Tendenzen sehr schnell wahrgenommen wurden, ja, sogar im Balázs Bela Studio ihren Anfang nahmen. Das von Body Gabor aufgebaute Infermental, die weltweite Vernetzung der Video-Art, hat hier seinen Anfang genommen, und amerikanische Filmkritiker haben erstaunt festgestellt, daß im BBS schon in den siebziger Jahren Filme ä la Jim Jarmusch entstanden sind.

Der ungarische Film hat den Kampf aufgenommen. Ob er dem amerikanischen Kommerz, der gegenwärtig die Kinos überschwemmt, gewachsen ist, ist noch unklar. Der Kampf ist nicht in erster Linie finanzieller Natur, denn auf dieser Ebene ist er von Anfang an verloren. Die Frage dreht sich vielmehr darum, ob der ungarische Film künstlerisch so bedeutend wird, daß er nicht nur die staatlichen Subventions-Bürokraten, sondern auch private Geldgeber von seiner Zukunft zu überzeugen vermag.

(Aus dem Ungarischen von Miklós Gimes)

Kovàcs Andràs Bàlint
geb. 1955, Filmjournalist in Budapest, Redaktor bei der Zeitschrift Filmkultura, Autor verschiedener Bücher über Film, seine Studie über Tarkowski erschien in französischer Übersetzung in Lausanne.
(Stand: 2019)
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