MIRIAM HANSEN

„MIT HAUT UND HAAREN“ — KRACAUERS FRÜHE SCHRIFTEN ZU FILM UND MASSENKULTUR

ESSAY

In seiner Besprechung von Karl Grünes Die Straße für die Frankfurter Zeitung im Februar 1924 beschreibt Kracauer die Eingangssequenz dieses Films. Der Protagonist (Eugen Klopfer) liegt auf dem Sofa „in spießbürgerlicher Stube, die Heimat sein soll, ohne es sein zu können“. Fasziniert vom Spiel von Licht und Schatten auf der Zimmerdecke steht der Träumer auf, um aus dem Fenster zu sehen. Während seine Frau nur die Straße als solche sieht, „entschleiert sich ihm das sinnlose verlockende Durcheinander des taumelnden Lebens, das freilich genauso wenig Heimat wie die Stube ist, aber dafür Abenteuer und unausgekostete Möglichkeit“.1

Die Konfiguration einer doppelten Heimatlosigkeit — zwischen der vorgetäuschten bürgerlichen Innerlichkeit und der anonymen Andersartigkeit der modernen Straße - sollte emblematisch für Kracauers eigene Position, für seine Selbstverständlichkeit als Intellektueller werden. Wie verschiedene Kritiker bemerkt haben, begann sein Exil nicht erst 1933, und sein späteres Plädoyer für ein „extraterritoriales Dasein“ (Brief an Adorno vom 8. November 1963) machte nur ein von Anfang an stets wiederkehrendes Motiv seiner Schriften explizit.2 Im folgenden versuche ich den Konfigurationen des Exils in zwei einander überschneidenden Aspekten von Kracauers Werk nachzuspüren: 1.) der Konstituierung von Massenkultur als Objekt, ausgehend von den sich kreuzenden Perspektiven von Geschichtsphilosophie und Ideologiekritik, und 2.) der Beziehung des Autors zu diesem Objekt, der Konstruktion massenkultureller Phänomene im Spannungsfeld zwischen kritischer Distanz und persönlicher Erfahrung. Diese Diskussion ist von Bedeutung für das Verständnis seiner späteren Schriften zum Film, insbesondere der Theorie des Films: Die Wiedergewinnung der äußeren Wirklichkeit (1960), da sie es ermöglicht, ein zu enges Verständnis von Kracauers Wirklichkeitsbegriff und dementsprechend auch seine in der englischsprachigen Kritik vorherrschende Rezeption als „naiver Realist“ zu revidieren. Über die Wiederherstellung der Komplexität einer intellektuellen Gestalt hinaus, die eingezwängt war unter dem Druck des Exils und des akademischen Marktes, hoffe ich, auch die Bedeutung von Kracauers frühen Schriften für gegenwärtige Debatten deutlich zu machen. Denn gerade in ihrer Historizität, ihren Widersprüchen und ihren Ambivalenzen werfen sie Fragen auf, die das Dilemma der Massenkultur in postmoderner Zeit berühren.

Da Kracauer im Verlauf seiner Karriere mehrfach zu Die Straße zurückkehrte, liefern seine Kommentare zu diesem Film so etwas wie einen roten Faden für seinen theoretischen Weg als Kritiker. Er hatte 1921 begonnen, Filme für die Frankfurter Zeitung [= FZ] zu besprechen. In den folgenden Jahren schrieb er an die tausend Besprechungen, über beinahe jeden Film, der in deutschen (und später französischen) Kinos zu sehen war.3 Obwohl Die Straße nicht der erste Film war, der ihn veranlaßte, das zu entwickeln, was er damals „eine noch ungeschriebene Metaphysik des Films“ nannte - Bemühungen in dieser Richtung tauchen seit Herbst 1923 in seinen Besprechungen auf -, wurde dieser Film in den folgenden Jahren gewissermaßen ein Schlüsselwerk.

Kracauers erste Besprechungen von Die Straße sind Zeugnis für die Geburt seiner Filmtheorie aus dem Geiste einer Geschichtsphilosophie, oder genauer, einer Geschichtstheologie. Während seine Besprechung vom 3. Februar 1924 weitgehend aus einer begeisterten Inhaltsangabe aus der Perspektive des wandernden Protagonisten besteht, schlägt die Besprechung in der Abendausgabe vom 4. Februar einen allgemeineren Ton an und führt Grünes Film ein als „eines der wenigen Werke moderner Filmregie, in denen ein Gegenstand Gestaltung erfährt, den nur der Film so gestalten kann, und Möglichkeiten verwirklicht werden, die nur für ihn überhaupt Möglichkeiten sind“. Die Affinität zwischen dem Medium und seinem hypothetischen Gegenstand gründet sich nicht nur auf das photographische Vermögen des Films, die Wiedergabe einer äußeren Wirklichkeit, sondern auch auf seine syntaktischen Verfahren, die Möglichkeiten der Montage.

„Aufnahme stückt er an Aufnahme und setzt aus ihnen, die hintereinander abwirbeln, mechanisch die Welt zusammen - eine stumme Welt, in der kein Wort vom Menschen zum Menschen geht, sondern die unvollkommene Rede optischer Eindrücke Alleinsprache ist. Je mehr das Dargestellte sich wiedergeben läßt in der Folge bloßer Bilder, dem Zusammen gleichzeitiger Impressionen, um so mehr entspricht es seiner Assoziationstechnik.“

Aufgrund dieser Technik fängt der Prozeß filmischer Darstellung etwas vom Wesen modernen Lebens ein: „ein der Substanz beraubtes Leben, leer wie eine Blechbüchse, das statt des innerlichen Zusammenhangs nur noch punktuelle Ereignisse kennt, die kaleidoskopartig zu immer neuen Bilderserien sich fügen.“ Kracauer begreift Film als materiellen Ausdruck — nicht nur Darstellung - einer besonderen historischen Erfahrung. In der Einsamkeit des Individiuums in einer fragmentierten leeren Welt, die der Kritiker in Grünes Film beschworen findet, schwingt das Pathos persönlicher Erfahrung mit; der Film verleiht diesem Pathos allegorische Bedeutung, kollektive Resonanz.

Was den einsamen Wanderer in den gefräßigen Nachtstraßen bedrängt, drückt der Film in taumelnder Abfolge futuristischer Bilder aus, und er darf es so ausdrücken, weil das sich verzehrende Innere nur noch fragmentarische Vorstellungen entläßt. Die Begebenheiten verstricken sich und entknoten sich wieder und da die Menschen erstorben sind, beteiligen sich auch die unbelebten Dinge wie selbstverständlich am Spiel. Kalkmauern künden von Mord, Lichtreklame zuckt auf wie flackerndes Auge; das Ganze ein wirres Nebeneinander, ein Tohuwabohu verdinglichter Seelen und scheinwacher Dinge.4

Diese Bildwelt ist dem Leser aus Kracauers frühen Schriften vertraut, so aus seiner epistemologischen Untersuchung Soziologie als Wissenschaft, seinem philosophischen Traktat über den Kriminalroman oder seinem programmatischen Aufsatz „Die Wartenden“5 von 1922. Der geschichtliche Prozeß, der in der Moderne kulminiert, wird als zunehmender Rückzug von Sinn aus dem Leben gesehen, als Trennung von Wahrheit und Existenz; die Welt löst sich auf in eine chaotische Mannigfaltigkeit von Erscheinungen. Dieser Prozeß ist im ökonomischen und gesellschaftlichen Bereich synonym mit kapitalistischer Rationalisierung und damit einhergehender Entfremdung des menschlichen Lebens, der Arbeit, der zwischenmenschlichen Beziehungen. Das Subjekt wird „hinausgeschleudert in die kalte Unendlichkeit des leeren Raums und der leeren Zeit“, ein Zustand, den Lukács als „transzendentale Obdachlosigkeit“6 bezeichnete. Für die große Zahl von Individuen, die in der „Einsamkeit der großen Städte“ leben - Kracauer rechnet zu „den Wartenden“ Gelehrte, Kaufleute, Ärzte, Rechtsanwälte, Studenten und Intellektuelle jeder Art -, resultiert dieser Zustand, soweit sie diesen bewußt wahrnehmen, in einem Gefühl der Isolation, des Exils von der Welt, in der sie leben und handeln.

Während in „Die Wartenden“ noch die Rhetorik der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ nachklingt, wird darin gleichzeitig eine Abkehr vom Kulturpessimismus und von der Nostalgie der frühesten Schriften Kracauers markiert. Den kurzschlußartigen Versuchen, den verlorenen Sinn wiederherzustellen (von Anthroposophie über religiösen Mystizismus bis George-Kreis, aber auch dem „Desperado“-Skeptizismus eines Max Webers), setzt der Aufsatz als alternative Haltung einen bewußten, aktiven Zustand des „Wartens“, ein „zögerndes Geöffnetsein“ entgegen (Ornament der Masse [= OdM], S. 116). Kracauers Ablehnung von Allheilmitteln für die moderne Malaise wird begleitet von Akzentverschiebung vom „theoretischen Ich“ zum „gesamtmenschlichen Ich“, von der „unwirklichen Welt der gestaltlosen Kräfte und des Sinnes barer Größen“ zu „der Welt der Wirklichkeit und der von ihr umschlossenen Sphären“. Aufgrund der Einseitigkeit des theoretischen Denkens, warnt Kracauer, habe sich eine „entsetzenerregende“ Kluft zwischen Denken und heutiger Wirklichkeit aufgetan, einer Wirklichkeit, die „von leibhaftigen Dingen und Menschen erfüllt ist und deshalb konkret gesehen zu werden verlangt“ (OdM, S. 118).

Kracauers vorsichtige Öffnung zu den vortheoretischen Bereichen moderner Erfahrung enthält zugleich eine veränderte Einstellung gegenüber jener „Oberfläche“, die den Platz jeglicher „wirklichen“ Substanz eingenommen hat. Wie Inka Mülder-Bach gezeigt hat, nimmt um 1924/25 die Metapher der Oberfläche in seinen Schriften eine neue Bedeutung an, indem sie eine Abkehr oder einen „Umschlag“ von einem Ort schierer Negativität, der atomisierten Welt bloßer Erscheinungen, zu einem Ort bezeichnet, an dem sich heutige Wirklichkeit in einer schillernden Vielfalt von Erscheinungen manifestiert.7 Obwohl gerade die Denkfigur der Oberfläche noch immer die vertikale Topographie der idealistischen Philosophie impliziert - Wesen/Erscheinung, die Hierarchie von Wahrheit und empirischer Realität verliert in Kracauers kritischer Praxis die Oberfläche immer mehr ihr Präfix und wird zunehmend zur Fläche, einem Bereich vorläufiger Konfigurationen, die Erforschung und Interpretation erfordern. Nicht mehr nur bloße Zeichen des metaphysischen Niedergangs, bieten dergleichen Konfigurationen wichtige Einsichten in die historische Dynamik der Gegenwart, das heißt, in die Gegenwart als Geschichte. So schreibt Kracauer in der oft zitierten methodologischen Einleitung zu dem Aufsatz „Das Ornament der Masse“ (FZ, 9. Juni 1927): „Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, ist aus der Analyse ihrer unscheinbaren Oberflächenäußerungen schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst.“ Dies begründet die theoretische Akzentverschiebung von den großen metaphysischen Fragen der Zeit auf die Erscheinungen des Alltagslebens, den ephemeren, kulturell marginalen und verachteten Räumen, Medien und Riten einer sich entwickelnden Massenkultur.

Kracauers theoretisches Interesse am Film, wie es in den Besprechungen von 1923/24 Gestalt annimmt, geht jedoch in seinen Grundzügen dieser Akzentverschiebung voraus: Es hat spezifische Wurzeln in Kracauers früherer, theologischen Konstruktion von Geschichte und der damit verbundenen, eigenartigen Form von Materialismus. Wenn wir den Aufsatz über „Die Wartenden“ als typisch für diese Konstruktion ansehen, liegt es nicht fern, darin eine Variante des modernen, säkularen jüdischen Messianismus zu erkennen, den Anson Rabinbach in den Schriften von Ernst Bloch und Walter Benjamin aufgezeigt hat. Kracauers Beziehung zum jüdischen Messianismus ist eine komplexe Angelegenheit, um so mehr, als diese Tradition selbst nicht in irgendeiner reinen Form begriffen werden kann, sondern in einer Vielfalt von radikalen Positionen, hermeneutischen Motiven und Kombinationen mit anderen Diskursen (Psychoanalyse, Marxismus, libertärem Anarchismus, Zionismus etc.) fortlebte.8 Kracauer, der in einer bewußt jüdischen Umgebung aufgewachsen und kurze Zeit im Freien Jüdischen Lehrhaus aktiv gewesen war (einem Frankfurter Studien- und Debattierkreis um Rabbi Nehemia Nobel), begann eine heftige Kritik gegen die Wiederbelebung messianischen Denkens zu formulieren. Er lehnte die „messianischen Sturm- und Dranggeister kommunistischer Färbung“, zusammen mit anderen Bewegungen religiöser Erneuerung, als irrational, romantisch und idealistisch ab, da diese letztendlich weder die reale Welt noch die göttliche zur Kenntnis nahmen, über die sie angeblich so gut Bescheid wußten.9 Was ihn deutlich von einem Autor wie Bloch unterschied, war sein Versuch, Begriffe von „Wahrheit“ und .Vernunft“ und die Möglichkeit einer „sanften“ Umgestaltung von Natur im Namen der Vernunft zu retten, so sehr er auch die Verstrickung der Aufklärung mit den zerstörerischen Veränderungen erkannte, die von kapitalistischen Formen der Rationalität hervorgebracht wurden.10

Dennoch ist Kracauers Denken in wichtigen Zügen vom Diskurs des modernen jüdischen Messianismus geprägt. Auch wenn er metaphysische Kategorien durch Begriffe ersetzte, die eher der Aufklärung und dem frühen Marx verpflichtet waren, charakterisierte weiterhin ein apokalyptischer Grundton seine Beobachtungen des modernen Lebens, sein Verständnis der Moderne als traumatischer Umbruch, der nur in der Katastrophe enden konnte. Wie Benjamin und Bloch konnte er Veränderung nicht als geschichtsimmanent begreifen, wie es bürgerlich-liberale Vorstellungen von Fortschritt und Reform taten, sondern nur als radikalen Bruch. Daher war es die Funktion des Intellektuellen, eher zu „warten“ als zu intervenieren: „Wir müssen verborgen sein, quietistisch, nichtstuerisch, ein Stachel den anderen, und lieber sie (mit uns) zur Verzweiflung treibend als ihnen Hoffnungen gebend.“11 Zugleich - und dies ist vermutlich das durchgängigste messianische Motiv in Kracauers Denken - sollte sich der Intellektuelle am Werk der Errettung oder Erlösung beteiligen, im utopischen Sinn einer Wiederherstellung aller vergangenen und gegenwärtigen Dinge, angelehnt an den kabbalistischen Begriff Tikkun.12

Kracauers Affinität zum Diskurs des säkularen jüdischen Messianismus ist weniger eine Frage einer begrifflichen Konstruktion als wiederkehrender Motive und Denkfiguren (wie das Bild eines bevorstehenden Umschlags). Wie Michael Schröter bemerkt, geht eine „Aura eschatologischer Sehnsucht“ von den „leuchtkräftigen Metaphern“ in Kracauers Texten aus, ob nun in den scheinbar prosaischen Genres der Kulturkritik und der soziologischen Analyse oder in literarischeren Werken, wie seinem autobiographischen Roman Ginster (1928). Belebt von der Intensität schockartiger Erfahrung, gehen diese Metaphern oft über die explizite Konstruktion von Kracauers Argument hinaus und nehmen eine theoretische Eigenbewegung an.13

Auf dieser konnotativen Ebene schwingt in Kracauers Rede vom Weltzerfall auch das Erbe des jüdischen Gnostizismus mit, der ihm als Lehre ebenso suspekt war wie andere Varianten religiösen Mystizismus’. Auf Webers Begriffe der Rationalisierung und Entzauberung rekurrierend, ist seine Analyse ein Echo zeitgenössischer Kritik der Verdinglichung von Simmel bis Lukács. Auf ähnliche Weise wie letztere, nur noch verstärkt, evoziert Kracauer die zerfallene Welt mit Bildern von Versteinerung und Absterben, von Schutt, Bruchstücken, leeren Hülsen, Larven und Masken.14 Selbst mit ihrer antimetaphysischen Stoßrichtung rufen solche Bilder die gnostische Tradition ins Gedächtnis: Sie bezeichnen die negativen Spuren von Gottes Rückzug aus der Welt. Als materielle Evidenz der Negativität von Geschichte müssen diese Spuren bewahrt und interpretiert werden, so daß, wenn der große Bruch kommt, die Welt in so vollständiger Gestalt wie möglich erlöst werden kann und die Funken, die selbst in der am tiefsten gefallenen Materie eingeschlossen sind, befreit werden können. Wie Kracauer in einem weiteren programmatischen Aufsatz, „Gestalt und Zerfall“, sagt, „das Gestaltete kann nicht gelebt werden, wenn das Zerfallene nicht eingesammelt und mitgenommen wird“ (FZ, 21. August 1925). Da die ursprüngliche Ordnung der Dinge unwiderruflich verloren ist und die Wahrheit nicht in irgendeinem unmittelbaren und immanenten Sinne wiederhergestellt werden kann, muß der Prozeß der Auflösung befördert werden, um die „Vorläufigkeit aller gegebenen Konfigurationen“ offenzulegen (OdM, S. 39).15

In dieser gnostischen Vision des „Weltzerfalls“ nimmt der Film für den frühen Kracauer eine zweifache Funktion an, eine Schlüsselrolle in dem „Vabanque-Spiel des Geschichtsprozesses“ (OdM, S. 37). In gewissem Sinne teilt der Film diese Funktion mit der Photographie, deren Theorie zu schreiben Kracauer in seinem großen Aufsatz von 1927 unternahm. Heide Schlüpmann hat darauf hingewiesen, daß Kracauers Begriff von Photographie über den bloßen Gegensatz des photographischen Bildes zum „Erinnerungsbild“ hinausgeht, über den ideologischen Effekt, die Zeit in der ewigen Gewalt illustrierter Magazine und Wochenschauen zu bannen.16 Als Symptom wie Mittel der Versteinerung der Welt, sammelt die Photographie den „Abfall“ der Geschichte und legt sie in all ihrer Negativität bloß. So liefert sie ein Archiv für „die letzten Elemente der dem Gemeinten entfremdeten Natur“ — „die Totenwelt in ihrer Unabhängigkeit vom Menschen“ (OdM, S. 38). Wenn die Kontingenz des photographischen Bildes bürgerliche Fiktionen des autonomen Subjekts unterminiert, so bietet sie dem menschlichen Bewußtsein auch die Chance, das „Naturfundament“ (OdM, S. 36-37) zu erkennen und sich damit auseinanderzusetzen. Wenn der Film, wie die Photographie, eine solche kognitive, archivierende Funktion übernehmen soll, muß er sich auf die Welt der Erscheinungen konzentrieren, auf die „scheinhafte, stumme Außenseite der Welt“. Die semiotische Relation zwischen dem Film und jener Seite der Welt ist jedoch nicht die eines ¡konischen Abbildes (was im Konflikt mit dem biblischen Bilderverbot stehen würde), sondern die eines indexhaften Abdrucks des historischen Prozesses, der den Aggregatzustand der Gegenwart zeigt.17

Die zweite Funktion des Films in Kracauers historischem Projekt hat mit spezifisch filmischen Techniken zu tun, die über die Photographie hinausgehen, insbesondere Montage, Überblendung und andere Spezialeffekte. Wenn die Photographie den Abfall der Geschichte in bloßer Unordnung reflektiert, hat der Film die Möglichkeit, diese Unordnung zu fördern, indem er systematisch „jede gewohnte Beziehung zwischen den Naturelementen“ aufhebt und „Teile und Ausschnitte zu fremden Gebilden assoziiert“ (OdM, S. 39). Kracauers früheste Versuche, „das Wesen“ oder den „Geist“ des Films zu definieren, betonen diese antinaturalistische Aufgabe des Films, „der ja, wenn er sein Eigenstes leisten soll, die natürlichen Zusammenhänge unseres Lebens völlig zerbrechen muߓ (FZ, 4. November 1923), „die fortwährende Umwälzung der äußeren Welt, die verrückte Verrückung ihrer Objekte“ fördern muß. Dementsprechend bevorzugt der Kritiker die Genres des Phantastischen, des Märchenhaften und der Groteske, das heißt, der Slapstick-Komödie. In ihrer systematischen Entfaltung von Chaos und Diskontinuität deckt die Slapstick-Komödie die zwanghafte und beschränkte Logik der kapitalistischen Rationalisierung auf: „Man muß es den Amerikanern lassen: sie haben sich in ihren Filmgrotesken eine Form geschaffen, die ein Gegengewicht bildet gegen ihre Wirklichkeit: disziplinieren sie in dieser Welt auf eine oft unerträgliche Weise, so bauen sie im Film die selbst gemachte Ordnung wieder gehörig ab“ (FZ, 29. Januar 1926).

Schließlich trägt die Fähigkeit des Films zur Verschiebung und Verzerrung, zur Stilisierung und Fragmentierung eine utopische Möglichkeit im Sinne der messianischen Tradition in sich. „Echtes Kinospiel“, schreibt Kracauer 1923, hat „die Aufgabe [...], durch Übersteigerung der Unwirklichkeit unseres Lebens seine Scheinhaftigkeit zu ironisieren und derart auf die wahre Wirklichkeit hinzudeuten“ (FZ, 16. Dezember 1923); diese Wirklichkeit selbst muß jedoch unbekannt bleiben. Das Modell für diese versteckte utopische Dimension in Kracauers früher Filmtheorie ist Franz Kafka, der wie Marcel Proust als Schutzheiliger seiner späteren Theorie des Films auftritt. Gegen Ende des Photographie-Aufsatzes erscheint Kafka an entscheidender Stelle, nämlich als Kronzeuge für den Übergang von der vorläufigen Un-/Ordnung der Photographie zu den Möglichkeiten des Films:

„Dem Bewußtsein läge es also ob, die Vorläufigkeit aller gegebenen Konfigurationen nachzuweisen, wenn nicht gar die Ahnung der richtigen Ordnung des Naturbestands zu erwecken. In den Werken Franz Kafkas entledigt sich das freigesetzte Bewußtsein dieser Verpflichtung; es zerschlägt die natürliche Realität und verstellt die Bruchstücke gegeneinander“ (OdM, S. 39).

Kracauers Besprechung von Das Schloß ein Jahr zuvor enthält, so könnte man sagen, den Grundriß einer utopischen Filmästhetik. Obwohl er das Kino nie beim Namen nennt, plaziert er Kafkas Roman in dieselben Parameter, von denen aus er in diesen Jahren sich dem Film genähert hatte: 1.) einer gnostischen Sicht der Geschichte, deren Mittelpunkt die Kluft zwischen menschlicher Existenz und Wahrheit ist („die Abgesperrtheit des Menschen von der Wahrheit“); 2.) dem Genre des Märchens, das den wunderbaren Sieg der Wahrheit über die blinden Kräfte der Natur vorwegnimmt (das unvollendete Projekt der Aufklärung); und 3.) der Psychoanalyse, insbesondere der Freudschen Vorstellung der Negation und des Diskurses des Unbewußten in Entsetzen und Träumen. So liest er Das Schloß als negatives Märchen, „die Matrize des Märchens“, in der die stummen Bruchstücke des gewohnten Lebens gegeneinandergestellt sind in einer Reihe von Verschiebungen und Umkehrungen, deren verborgene Ordnung nur aus der Perspektive der abwesenden, unrealisierten Wahrheit erscheint. Statt in „Märchenglück“ ist Kafkas Roman jedoch in eine Angst getaucht, die Angst, „daß die Wahrheit verschüttet sei“. Kracauer vergleicht diese Angst einerseits mit der Erfahrung des Träumenden, „des im Traum zerfallene[n] Menschen], der den nicht nur durch das Spiel der Triebe verrückten Daseinselementen preisgegeben ist“. Auf der anderen Seite beschwört er den Mythos der Medusa, den er später in der Theorie des Films wiederaufnehmen sollte, und gibt ihm eine gnostische Wendung: „Der Jude Kafka trägt das Entsetzen in die Welt, weil sich ihr das Antlitz der Wahrheit entzieht. Böte es sich, sie müßte irrsinnig werden vor Glück“ (FZ, 28. November 1926).18

Das gnostisch-messianische Vermögen des Films gewinnt eine politische Bedeutung in Kracauers Beziehung zu bürgerlicher Kunst und Kultur. Mit seiner Entdeckung des Films als kognitives Medium wendet er sich von den Institutionen der offiziellen deutschen Kultur ab, aus denen er durch mehr als nur persönliche Absicht vertrieben worden war. Wie anderen Weimarer Intellektuellen und Avantgarde-Künstlern erschien ihm das Kino als praktische Kritik der Überreste der bürgerlichen Kultur, der anachronistischen Versuche, den tatsächlichen Zustand der Auflösung und Umwälzung durch Mittel zu vertuschen, die man mit Benjamin als falsche Wiederherstellung der Aura bezeichnen könnte. Kracauer hatte solche Versuche immer wieder kritisiert, von der geschlossenen Form der historischen Biographie über den George-Kreis bis hin zu Bubers und Rosenzweigs Übersetzung der Bibel. Es ist diese Konstellation, die Kracauer den Begriff „Zerstreuung“ aufwerten läßt, mit dem Kulturkonservative den Hang des Publikums zu glitzernden Oberflächen und glamourösen Erscheinungsbildern verdammt hatten:

Nicht durch sie wird die Wahrheit gefährdet. Sie ist es nur durch die naive Behauptung irreal gewordener Kulturwerte, durch den unbedenklichen Mißbrauch von Begriffen wie Persönlichkeit, Innerlichkeit, Tragik usw., die an sich gewiß hohen Sachgehalt bezeichnen, infolge der sozialen Wandlungen aber zu einem guten Teile ihres Umfangs, des tragenden Untergrunds verlustig gegangen sind und, in den meisten Fällen, heute einen schlechten Beigeschmack angenommen haben, weil sie das Augenmerk von den äußeren Schäden der Gesellschaft mehr als billig ablenken auf die Privatperson [...]. Das Berliner Publikum handelt in einem tiefen Sinne wahrheitsgemäß, wenn es diese Kunstereignisse mehr und mehr meidet, die zudem aus guten Gründen im bloßen Anspruch stecken bleiben, und dem Oberflächenglanz der Stars, der Filme, der Revuen, der Ausstattungsstücke den Vorzug erteilt. (OdM, S. 314)

Die traumatische Natur des sozialen Umbruchs stellt nicht nur ästhetische Ansprüche auf Wahrheit und Allgemeinheit in Frage, sondern auch die traditionelle Hierarchie, mit der die Institution der Kunst andere, das heißt, niedrigeren Schichten zugehörige und körperlichere Formen von Kultur ausgeschlossen und zu unterdrücken versucht hat. In seiner Rezension eines Buches über den Zirkus (das, nebenbei, Schlüsselgedanken des Photographie-Aufsatzes erprobt), schreibt Kracauer: „Mit dem Niedergang der alten sozialen Ordnung fallen die durch die klassische Ästhetik gesetzten Grenzen, die von der hohen Kunst die der Manege ängstlich sondern“ (FZ, 26. Juli 1926).

Benjamin, der Kracauers Begriff der „Zerstreuung“ in seinem Aufsatz über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ elaboriert, zieht eine Parallele zwischen der Herausforderung der Massenkultur an die traditionelle Ästhetik und dem Angriff der Avantgarde auf die Institution der Kunst von innen her, wie in den Kundgebungen der Dadaisten.19 Für Kracauer ist die künstlerische Avantgarde nicht nur ein kritisches Modell (eines, das, als Benjamin den Kunstwerk-Aufsatz schrieb, bereits der Vergangenheit angehörte), sondern selbst ein Symptom - ein Symptom der wachsenden Distanz zwischen der Sphäre der Wahrheit und der modernen Existenz und des Dilemmas, das sich aus dieser Distanz für den modernen Künstler ergab. In einem noch in der frühen theologischen Manier geschriebenen Aufsatz, „Der Künstler in dieser Zeit“ (veröffentlicht in der jüdischen Zeitschrift Der Morgen), beschreibt Kracauer dieses Dilemma als ein Problem der „Verknüpfung“, der Überbrückung der Kluft zwischen den Prinzipien der ästhetischen Gestaltung und der Notwendigkeit, die gegenwärtige Realität ins Auge zu fassen. Bevor er am Ende Beispiele aus der Poesie, Kunst und Musik zitiert - auch die nur kurz, in der Gegenüberstellung des Expressionismus mit Spielarten der Neuen Sachlichkeit und des Konstruktivismus - kehrt er nochmals zu Grünes Film Die Straße zurück.

Er nimmt seine frühere Lektüre des Films als Allegorie des zerfallenen Lebens wieder auf, führt sie aber weiter und identifiziert die dem Film zugrundeliegende Haltung als die von Menschen, „denen es Ernst ist um die Wirklichkeit, [und die] doppelt tief die Gewalt der Mächte [spüren], die heute die Welt zur Großstadtstraße entformen“. Diese Menschen „warten“ nicht mehr geduldig, sondern verweigern sich strikt „dem romantischen Versuch, die Realitäten der Technik und Wirtschaft zu vertuschen“.

Alles ist ihnen vielmehr daran gelegen, daß die Welt ihre Scheinhaftigkeit vollends enthülle, daß die Nichtigkeit herrsche, soweit sie vermag. Sie sind Nihilisten um des möglichen Positiven willen, und treiben dem Ende der Verzweiflung zu, damit nicht ein Ja auf halbem Wege ohnmächtig hemme [...]. Darum überspitzen sie die Negation, dehnen die Leere und weisen Seele ab, die Schminke nur ist. Sie glauben, daß Amerika erst verschwinde, wenn es sich ganz und gar entdeckt [...].

Es ist klar, daß Kracauer sich als einen dieser „Nihilisten“ sieht, selbst wenn er sie drängt, die Hoffnung auf die Offenbarung des abwesenden Gottes nicht aufzugeben; sonst würden sie nur die Lücke zwischen „Filmbild und Prophetenrede“20 reproduzieren.

Der radikale Gestus des Aufsatzes ist der, daß Kracauer von metaphysischen und philosophischen Fragen ohne große Umstände auf den Film zusprechen kommt, ohne Entschuldigung, Rechtfertigung oder Erklärung. Er befaßt sich nicht mit der Frage, ob der Film im allgemeinen oder dieser Film im besonderen Kunst sei. In einer modernen Welt, die, um Rabinbach über Benjamin zu paraphrasieren, „nicht nur einfach entzaubert, in Webers Sinn, [sondern] unendlich verarmt war und eines Diskurses ermangelte, der die Natur von Erfahrung erahnen lassen könnte“21, war die Bedeutung des Films als solch ein Diskurs eine viel dringlichere Frage, als die seines ästhetischen Wertes. Daher dient ein Film wie Die Straße Kracauer als diagnostisches Instrument, oder genauer, als eine Sichtweise, mit der er sich identifiziert und die er für seine geschichtsphilosophische Analyse in Dienst nimmt. Die Funktion des Films im Kontext der gegenwärtigen Kunst und Kultur ist es, das Dilemma auszudrücken, nicht notwendigerweise es zu lösen.

Um 1926 war sich Kracauer jedoch der Tatsache bewußt, daß die durchschnittliche Filmproduktion alles andere tat, als die Negativität des Geschichtsprozesses zu fördern. Es schien eher so, daß das Kino darauf aus war, die bürgerliche Kultur noch darin zu übertreffen, die Erscheinungen des Zerfalls und der Versteinerung zu vertuschen. Wie Kracauer mit mildem Sarkasmus am Ende von „Kalikowelt“ (FZ, 28. Januar 1926) anmerkt, einer verzauberten Tour durch die surrealen Sets der Ufa-Studios, besteht die Aufgabe des Regisseurs darin, „das Bildmaterial, das so schön ungeordnet wie das Leben selber ist, zu jener Einheit zu gestalten, die das Leben der Kunst verdankt [....]. Meist ist der Ausgang gut: Glaswolken brauen und verflüchtigen sich. Die vierte Wand wird geglaubt. Alles garantiert Natur“ (OdM, S. 278). Um diese Zeit beginnt Kracauer auch die Verbürgerlichung der Theater und der Vorführpraktiken zu kritisieren und frühere, anarchische Formen der Zerstreuung der kultivierten Unterhaltung entgegenzuhalten, „die auf richtige Erfahrungen abgestellte Schaulust“ dem „Asmusement“, das die durchschnittliche Produktion verbreitete.22

Zunehmend wird die Bewertung des Films aus der Perspektive der Geschichtsphilosophie ersetzt durch einen ideologiekritischen Ansatz, der in wichtigen Punkten Horkheimers und Adornos Analyse der Kulturindustrie vorwegnimmt. Diese Verschiebung, die in gewissem Maße seine Marxlektüre des Vorjahres reflektiert, wird in Kracauers Besprechung von Panzerkreuzer Potemkin, „Die Jupiterlampen brennen weiter“ (FZ, 16. Mai 1926)23, signalisiert. So preist er Eisensteins Film als einen wichtigen Durchbruch gegenüber den gängigen amerikanischen und europäischen Filmen, nicht aus ästhetischen Gründen, sondern weil zum ersten Mal ein Film eine Sache treffe, die „wirklich“ ist, die „Wahrheit“ meint, auf die es ankommt. Mit dieser Besprechung gesellte sich Kracauer zu Herbert Ihrering, Fu Märten, Benjamin und anderen Kritikern in deren Versuch, Potemkin gegen die Zensur und den politischen Mißbrauch zu verteidigen. In der Entwicklung seiner Filmtheorie jedoch tritt das politische Mandat des Films, der „Wahrheit“ positiven Ausdruck zu verleihen, an die Stelle seiner früheren Funktion, die Negativität der Geschichte, die Phantom-Wirklichkeit einer zerfallenen Welt zu registrieren und zu übersteigern.

Gleichzeitig beginnt Kracauer die systematische Verbindung zwischen dem Kino als kapitalistischem Unternehmen und den gesellschaftlichen Botschaften des Films zu elaborieren, als heimliches Einverständnis zwischen Filmindustrie und Publikum. Seit 1927 untersuchen seine Rezensionen und Aufsätze die ideologischen Formeln, mit denen Filme gesellschaftliche und ökonomische Widersprüche in Fabeln individuellen Aufstiegs, exotischer Abenteuer und in Sentimentalitäten umformen. In der anonym publizierten Serie „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ (FZ, März 1927) umreißt er ein ganzes Spektrum „typischer Motive“, die in den durchschnittlichen Filmproduktionen wiederkehren; sie zeigen an, „wie die Gesellschaft sich selber zu sehen wünscht“ und illustrieren daher die Bandbreite der herrschenden Ideologien (OdM, S. 282). Was diese Fabeln so anrüchig macht, ist nicht, daß sie übertreiben - Kracauer verteidigt immer wieder die Unwahrscheinlichkeiten der Abenteuer-, Kolportage oder Kriminalfilme gegen die Präsentationen des Kunstfilms, des historischen Dramas oder seiner „bête noire“, des Gesellschaftsfilms -, sondern es ist eher ihre besondere Art, die gesellschaftliche Wirklichkeit, die gefilmt werden will, anzuzapfen, zu verschönern, zu verdrehen und zu unterdrücken. „Genau das, was auf die Leinwand projiziert werden sollte, ist von ihr weggewischt, und Bilder, die uns um das Bild des Daseins betrügen, füllen die Fläche.“ Der durchschnittliche Spielfilm, so Kracauer in einer bissigen Attacke auf den „zeitgenössischen Film und sein Publikum“ von 1928, ist nichts als ein „Fluchtversuch“ vor den Problemen der Gegenwart (OdM, S. 296). Dieser Ansatz herrscht in Kracauers Schriften zum Film bis 1933 vor; er kehrt aus einer geschichtlich veränderten Perspektive wieder in seiner im Exil verfaßten „psychologischen Geschichte des deutschen Films“ From Caligari to Hitler (1947).24

In diesem Buch erscheint Grünes Film wieder als ein „unpolitisches Produkt der Avantgarde“. Der Film hatte, so Kracauer, einen beachtlichen Erfolg bei einem breiten Publikum, „das allerdings hauptsächlich aus Intellektuellen bestand“. Während er noch immer die „realistische“ Bemühung um die alltägliche Qualität des (Studio-)Settings lobt, tritt Die Straße jetzt als Allegorie für die regressive Bewegung von der Rebellion zur Unterwerfung auf. Der wandernde Protagonist wird auf einen sozialen Typus reduziert, einen Spießbürger, der geschichtlich spezifische - und im nachhinein gesehen politisch fatale - psychologische Mechanismen ausagiert.25 Mit dieser Analyse verschiebt Kracauer nicht nur den Rahmen von der Geschichtsphilosophie auf die Ideologiekritik, er verleugnet auch seine eigene frühere Faszination durch den Film, seine kritische Identifizierung mit der Erfahrung des doppelt heimatlosen Wanderers.

Es wäre anmaßend, die Gründe für diese Verschiebung zu ignorieren. Am Ende der zwanziger Jahre erforderte die politische Situation in Deutschland (deren sich Kracauer viel schärfer bewußt war als sein Freund Adorno) eine gezieltere Intervention seitens der Intellektuellen als Theorien über Rationalisierung, Verdinglichung und Entfremdung, die auf einer negativen Theologie gründeten. Wenn der theologische Blickwinkel es ihm ironischerweise ermöglicht hatte, das Reich der bürgerlichen Kultur und des philosophischen Idealismus zu verlassen und seinen materialistischen Blick auf die Medien des Massenkonsums zu richten, verlangte die wachsende gesellschaftliche Komplexität dieser Medien und der politische Kampf um sie nach einer anderen Sprache. Das „Warten“, das Kracauer zur einzig adäquaten Haltung der Intellektuellen erklärt hatte, übten nun unfreiwillig die Tausenden, wenn nicht Millionen, die in den Schlangen vor den Essenausgaben, den Arbeitsämtern, in den ganztägig geöffneten Kinos oder den Wärmehallen warteten.26 Als Caligari geschrieben wurde, waren die apokalyptischen Implikationen von Kracauers frühen Arbeiten Wirklichkeit geworden; das Vabanque-Spiel des Geschichtsprozesses war in einer unvorstellbaren Katastrophe verlorengegangen.

Es wäre jedoch irreführend, würde man die Beziehung zwischen seiner theologisch begründeten frühen Filmtheorie und seinem zunehmend ideologiekritischen Engagement, das 1926 begann, als chronologisch exakt geschiedene Phasen einer linearen Entwicklung darstellen. Die beiden Diskurse verlaufen nebeneinander her und bleiben mit unterschiedlicher Betonung und einem unterschiedlichen Maß an Widersprüchlichkeit im ganzen späteren Werk Kracauers ineinander verwoben. Das wird nirgends so offenkundig, wie in seinem Begriff der „Wirklichkeit“, der zwischen metaphysischen und materiellen, zwischen wahrnehmungsästhetischen, sozialen, psychoanalytischen und politischen Bedeutungen oszilliert.27

Bereits in dem Aufsatz über „Die Wartenden“ beginnt Kracauers Vorstellung von „Wirklichkeit“ aus der „geistigen Sphäre“, die zunehmend sinnentleert ist, in die Sphäre des Seienden zu gleiten, der entfremdeten, verwirrenden, widersprüchlichen Mannigfaltigkeit des modernen Lebens; die Verknüpfung des Realen mit der abwesenden „Wahrheit“ wird zugunsten einer Affinität zu Phänomenalem, „Konkretem“, „Profanem“ gelockert: „Der Ort der Wahrheit selber ist [...] gegenwärtig inmitten des,gemeinen öffentlichen Lebens“ (OdM, S. 178). Kracauers kompromißlose Ablehnung metaphysischer Formen der Erneuerung ließ ihn in die gefallene Welt eintauchen, ließ ihn die Auseinandersetzung mit ihren unbekannten Erscheinungen, Bewegungen und Ornamenten suchen. Bis zu einem gewissen Grad war dieses Eintauchen strategisch motiviert, als Mittel, die Wirklichkeit durch mimetische Subversion zu transformieren. So schreibt er in „Gestalt und Zerfall“, „daß das wirkliche Leben heute sich in die Maske [...] des Entwirklichten, Niedrigen kleiden muß, um die Realität, die fort und fort herrscht, dort anzurühren, wo sie verwundbar ist. Es möchte sein, daß man, um diese Realität entscheidend zu wandeln, in ihrem eigenen Medium den Hebel anzusetzen hätte“ (FZ, 21. August 1925).

Das Schweben des Kritikers zwischen beiden Polen der Realität, Wahrheit und Seiendes, ist auf den Begriff gebracht in dem Paradoxon einer „ent-realisierten Realität“, einer materiellen Präsenz ohne erkennbare Substanz oder erkennbaren Ursprung. Seit Mitte der zwanziger Jahre versucht Kracauer, dieses Paradoxon in Bewegung zu setzen, seine lähmende Widersprüchlichkeit in die Möglichkeit politischen Handelns umzusetzen. In einer Analyse der sozialen Topographie von Paris zum Beispiel löst er den double-bind von Klasse und Konsumentenkultur in eine Konfiguration von Zentrum und Peripherie auf.28 Er kontrastiert die Faubourgs als den Ort von Armut und Gebrauchswert mit dem Überfluß an Waren, Bildern, Zeichen, Lichtern und Öffentlichkeit in den Boulevards und schließt dann:

„Breite Straßen führen aus den Faubourgs in den Glanz der Mitte. Sie ist die gemeinte Mitte nicht. Das Glück, das der Armseligkeit draußen zugedacht ist, wird von anderen Radien getroffen als den vorhandenen. Doch müssen die Straßen zur Mitte begangen werden, denn ihre Leere ist heute wirklich.“ (OdM, S. 17)

Das Abwandern der Realität ins leere Zentrum stellt den Unterschied zwischen wirklich und unwirklich, zwischen einem tieferen Wesen und einem oberflächlichen Reich der Bilder in Frage. Kracauer übersetzt den Wildeschen Aphorismus über die Natur, die die Kunst nachahmt, in die Beobachtung, daß das gesellschaftliche Leben vom Kino ununterscheidbar geworden ist. Er vergleicht die Gäste in einem Luxushotel mit ihren zweidimensionalen Gegenstücken in den Gesellschaftsfilmen und fragt sich, „ob sie zu flüchtigem Dasein aus der Leinwand getreten oder jene Filme nach ihrem Vorbild geschaffen sind. Fast scheint es, als lebten sie allein von Gnaden eines imaginären Regisseurs“.29 Bereits in seinem Aufsatz über die „Kleinen Ladenmädchen“ stellt er eine Konvergenz der Realitätsebenen im und außerhalb des Kinos fest und schreibt diesen Effekt der Manipulierbarkeit und dem Konformismus der weiblichen Zuschauer zu. „Filmkolportage und Leben entsprechen einander gewöhnlich, weil die Tippmamsells sich nach dem Vorbild auf der Leinwand modeln; vielleicht sind aber die verlogensten Vorbilder aus dem Leben gestohlen.“ (OdM, S. 80)

Kracauers Beobachtung scheint den postmodernen Topos der Implosion der Realität in die Bilder, die Verschiebung von der Darstellung auf die Simulation zu antizipieren. Aber Kracauer kann weder zum Baudrillardschen Hyperrealisten reduziert noch als naiver Idealist abgetan werden. Insofern als die historische Entwicklung selber eine solche Analyse rechtfertigte, war er zweifellos mehr als beispielsweise Adorno bereit, fundamentale Veränderungen der Beziehungen in den Darstellungspraktiken und Rezeptionsverhältnissen zu erkennen, die mit der Entwicklung der Massen- und Konsumentenkultur einhergingen. Das bedeutet jedoch nicht, daß er diesen Prozeß unkritisch beschrieben, geschweige denn gutgeheißen hätte. Für Kracauer ist die Faszination der Oberflächeneffekte mit der ideologischen Funktion des Kinos untrennbar verbunden: Die Realität zwingt uns, das Verhältnis von Lust und Ideologie neu zu formulieren.30

So problematisch der ideologiekritische Ansatz von „Die kleinen Ladenmädchen“ auch sein mag (insbesondere im Hinblick auf seine Geschlechterpolitik), der Aufsatz bereichert Kracauers Realitätsbegriff um eine psychosoziale Dimension: „Die blödsinnigen und irrealen Filmphantasien sind die Tagträume der Gesellschaft, in der ihre eigentliche Realität zum Vorschein kommt, ihre sonst unterdrückten Wünsche sich gestalten.“ Während diese Phantasien sich um die Verflechtung von Romanze und Aufstiegschancen drehen, transzendiert ihr Diskurs Klassenschranken in einer mise-en-abyme des gesellschaftlichen Imaginären: „Es mag in Wirklichkeit nicht leicht geschehen, daß ein Scheuermädchen einen Rolls-Royce-Besitzer heiratet; indessen, ist es nicht der Traum der Rolls-Royce-Besitzer, daß die Scheuermädchen davon träumen, zu ihnen emporzusteigen?“ In seiner Analyse der Zugkraft solcher Phantasien spielt Kracauer zwei Vorstellungen von Realität gegeneinander aus:,Je unrichtiger sie [die heutigen Filme] die Oberfläche darstellen, desto richtiger werden sie, desto deutlicher scheint in ihnen der Mechanismus der Gesellschaft wider“ (OdM, S. 280). Innerhalb dieses im Grunde Freudianischen Modells der Kulturanalyse sitzt die Realität sowohl in den Mechanismen der Verdrängung wie auch in dem Verdrängten selbst; mit anderen Worten: Realität kann nur in ihren Widersprüchen begriffen werden.

Das Objekt der kollektiven Verdrängung sind nicht nur die „geheimen Wünsche“, die gelegentlich in Filmphantasien ausbrechen, sondern meist eher das, wovor sie zu entfliehen wünschen: „das normale Dasein in seiner unmerklichen Schrecklichkeit“.31 Während Kracauer von dem Luxushotel als Ort der Simulation fasziniert ist, läßt er keinen Zweifel an dem exklusiven Charakter dieses Raumes und seiner Bewohner („Sie gleichen den Lilien auf dem Felde: statt der Sorgen haben sie Jachten“). Wenn für einen postmodernen Autor wie Baudrillard die Implosion der Realität universell und abgeschlossen ist (was immer die subjektiv-pragmatische Erfahrung der Individuen sein mag)32, ist sie für Kracauer noch immer eine Frage der Perspektive, eine Frage des gesellschaftlichen, des klassenspezifischen Horizonts dieser Erfahrung. In diesem Sinne liest er selbst die „räumlichen Bilder“, die als Arbeitsnachweisen aufscheinen, als „Träume der Gesellschaft“, als „Hieroglyphen“, die in Begriffe gesellschaftlicher Realität entziffert werden müssen.33 Die Analogie zwischen den Räumen der Phantasie und den Bereichen der Not, die sie unterdrücken, unterstreicht nur den Widerspruch: Diese Bereiche gehören zur gesellschaftlichen Selbstdarstellung, selbst wenn - oder gerade weil - sie dem öffentlichen Blick entzogen bleiben. Daher setzt Kracauer immer wieder die Realität der gegenwärtigen Bilderproduktion und -Zirkulation mit der Realität ihrer Grenzbegriffe - Ungerechtigkeit, Armut, Leiden und Tod - in Beziehung. „Die Flucht der Bilder ist die Flucht vor der Revolution und dem Tod.“34

Man könnte einwenden, Kracauers Insistieren auf einer authentischeren Realität menschlichen Leidens gegenüber der Realität der neuen Konsummedien übernehme lediglich die Funktion des transzendental begründeten Wahrheitsbegriffs seiner früheren, theologisch motivierten Schriften. In einem strikt erkenntnistheoretischen Sinn mag das der Fall sein, obwohl in der Praxis die Beziehung zwischen den beiden Arten von Realität häufiger die Form einer Konstellation annimmt, die der Kritiker aus der widersprüchlichen Beschaffenheit des gesellschaftlichen Lebens konstruiert.35 Was mir problematischer erscheint, ist der - in zweifachem Sinne - ökonomische Nexus zwischen den beiden Realitätsebenen, die kompensatorische Logik, die fürchtet, daß die Ausweitung des einen nur auf Kosten des anderen voranschreiten könne („Die Flucht der Bilder ist die Flucht vor...“). Kracauer entwickelt diese These zum ersten Mal im Photographie-Aufsatz, im Gegensatz von photographischem Bild und Erinnerungsbild und der damit verbundenen Vorstellung, daß die Verbreitung der photographischen Bilder (zum Beispiel in Wochenschauen und Illustrierten) die Kapazität der - unwillkürlichen - Erinnerung reduziere. Wie Benjamin, der diesen Punkt in seinem Aufsatz über Baudelaire ausführt, beschwört Kracauer Bergson und Proust und mit ihnen eine jüdische Tradition, in der die Erinnerung der vorwärtsgerichteten Triebkraft der Geschichte entgegengesetzt wird.36 In einem Artikel zur Frankfurter Premiere zweier Tonfilme schließt er, „in Klammern“:

Der Tonbildfilm ist einstweilen das letzte Glied in der Reihe jener gewaltigen Erfindungen, die mit blinder Sicherheit und wie von einem geheimen Willen geleitet auf die vollständige Abbildung der menschlichen Realität hindrängen. Durch ihn wäre es im Prinzip möglich, das Leben in seiner Totalität der Vergänglichkeit zu entreißen und der Ewigkeit des Bildes zu überliefern.

Kracauer schränkt jedoch diese proto-Bazinsche Wendung sofort wieder ein. Der totale Zugriff des Films auf die Realität erstreckt sich nur auf jenen Aspekt des Lebens, der sich in räumlichen Begriffen manifestiert und der mit der meßbaren, chronologischen Zeit korrespondiert, die Bergson kritisierte — im Gegensatz zu der erfahrenen Zeit, der Zeit von Prousts Recherche-, „Die im Tonfilm aufbewahrte menschliche Realität entspricht der von Proust gemeinten so wenig, daß beide eher sich ausschließen als einander ergänzen. [....] Fast hat es den Anschein, als ob die Menschen ihres nicht zu verbildlichenden intensiven Lebens in dem Maße verlustig gingen, in dem sie das extensive räumliche Leben zu bannen vermögen.“37

Ohne Zweifel gibt es eine Verbindung zwischen der historischen Explosion mechanisch — oder elektronisch - produzierter Bilder und dem Niedergang bestimmter Arten der Erinnerung, aber das muß nicht zu kulturkonservativen Schlußfolgerungen führen. Auch würde Kracauer ebensowenig wie Benjamin die Möglichkeit ausschließen wollen, daß Film und Photographie auch neue Formen von Erinnerung und Erfahrung ermöglicht haben (was für beide fast synonyme Begriffe sind).38 In demselben Aufsatz über den Tonfilm geht Kracauer tatsächlich dieser Möglichkeit nach und zieht die Tontechnologie für das Unternehmen der Erlösung heran: „Das unbeabsichtigte Getöse der Straße zum Eingreifen in unsere Welt zu erlösen, ist dem neuen technischen Verfahren genauso Vorbehalten, wie es der seitherigen Filmtechnik Vorbehalten gewesen war, das Leben der Lichter und Schatten unserem Bewußtsein zugänglich zu machen.“39 Mehr als das formale Spiel mit Licht und Schatten können Kinotechniken wie die Großaufnahme, die Kamerafahrt und der Schnitt die Welt der Dinge in ihrer gewohnheitsmäßigen, unbewußten Interdependenz mit dem menschlichen Leben einfangen: die Spuren gesellschaftlicher, psychischer, erotischer Beziehungen. In einem Artikel über Jacques Feyders Therese Raquin lobt Kracauer die Darstellung der kleinbürgerlichen Pariser Wohnung, „die von Gespenstern bevölkert ist“:

denn ihre einzelnen Möbelstücke sind noch von all den vergangenen Schicksalen geladen, die sich hier abgespielt haben. Da sind das Doppelbett, der hohe Lehnstuhl, das Silbergeschirr - sämtliche Dinge haben die Bedeutung von Zeugen, die menschliche Substanz ist spürbar in sie eingegangen und nun reden sie; besser oft, als Menschen zu reden vermögen. Kaum je noch ist in einem Film - von den russischen abgesehen - das Walten der toten Dinge so aktiv und gesättigt an die Oberfläche gekommen wie hier. (FZ, 29. März 1928)

Wenn Kracauer dem Film so eine neue Form anamnetischen Vermögens zuschreibt, berührt sich diese Annahme mit Benjamins bekannter Metapher eines „optischen Unbewußten“, die Fähigkeit der Kamera, einen „unbewußt durchwirkten Raum“ zu erforschen.40

Wie Benjamin und vor ihm Bela Balázs, importiert Kracauer die Methode der Physiognomie, die Interpretation eines Charakters aus unmerklichen Gesichtszügen, in den Bereich der Filmästhetik und ihrer psychosozialen Parameter. Aber emphatischer als Balázs besteht er auf der Rolle der Sprache in der Beziehung des Films zur Realität. In einer Rezension von Balázs Buch Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films (1924) paraphrasiert er die Argumentation des Buches in eindeutig sprachbezogenen Begriffen:

„Da die Menschen auf der Leinwand stumme Wesen sind [....], erhalten die Dinge wie nirgends sonst eine Zunge. Zum ersten Mal vielleicht reden sie. Der Film holt das kleine Leben der Dingteile herauf und bezieht es in die Welt der Symbole ein“ (FZ, 10. Juli 1927).

Da die Sprache das Medium der Erlösung ist (auch hier bleibt Kracauer dem messianischen Denken treu)41, enthält die Beziehung des Films zur Realität eine doppelte Übersetzungsarbeit - auf der Ebene der Produktion, in der Auswahl und der Konstruktion des Materials mittels filmischer Techniken, und auf der Ebene der Rezeption in der Interpretationsarbeit der Zuschauer und Kritiker. Balázs’ Ablehnung der verbalen (das heißt, geschriebenen) Sprache - nach Kracauer eine „schlimme Entgleisung“ - verleitet ihn zu einer romantischen Verschmelzung von Physiognomie und Klassenkampf, einer Verwechslung von bloßer Sichtbarkeit mit genuiner Konkretheit.

Für Kracauer ist die Natur, die den Blick des Physiognomen des modernen Lebens erwidert, weder vorverbal noch unberührt. Die „materielle Dimension“, die von der Kamera „auf Kosten der intentionalen“ erforscht wird, ist ein gesellschaftlicher und geschichtlicher Raum, keineswegs ein Raum, der frei von „Ideologie“ oder ihr entgegengesetzt ist, wie er später im Epilog zur Theorie des Films zu behaupten scheint. Es ist die fremde Landschaft einer zerfallenen Welt, die den Betrachter in ihrem bruchstückhaften Schutt und in neuen Konfigurationen konfrontiert. Sobald er die metaphysischen Prämissen, unter denen die zerfallene Welt nichts als „transzendentale Obdachlosigkeit“ bedeutet, verläßt, begibt sich Kracauer „gelassen“ (oder vielleicht nicht ganz so gelassen) auf „abenteuerliche Reisen“ zwischen den „weitverstreuten Trümmern“ (als die sich das moderne Leben in Benjamins berühmter Passage darstellt), nachdem der Film die städtisch-industrielle „Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunde gesprengt“ hat.42 Er tut dies in verschiedenen Verkleidungen und Rollen, vom „Flaneur“ über den „Detektiv“ hin zum „Chiffonier“ oder „Lumpensammler“ (eine Gestalt, die Benjamin ihm verliehen hat), ein Lumpensammler, der den Abfall aufsammelt, den der Sturm des Fortschritts hinter sich gelassen hat, und der gefundene Objekte in Allegorien der modernen Erfahrung umfunktioniert.43 Für Kracauer ist - wie für Freud - Bedeutung in allem, selbst in dem unbedeutendsten, wertlosesten Detail, wenn wir auch von seinem ursprünglichen Kontext abgeschnitten sein mögen; alles erfordert daher Interpretation.

Wie Benjamin fasziniert von den Surrealisten, versuchte Kracauer die Möglichkeit auratischer Erfahrung als kognitiven Modus in einer säkularen, gefallenen Welt zu retten. Dieses Projekt wird anschaulich in einem Denkbild mit dem Titel „Ansichtspostkarte“ (FZ, 26. Mai 1930), das auf merkwürdige Weise Benjamins auf den Surrealismus bezogenen Ausdruck „profane Illumination“ zugleich buchstäblich auslegt und allegorisiert.44 Kracauer beschreibt das „sanfte Leuchten“, „so beruhigend wie unerklärlich“, das von der Kaiser-Wil- helm-Gedächtniskirche bei Nacht auszugehen scheint. Das Leuchten ist in Wirklichkeit ein Reflex - der „Reflex der Lichtfassaden“, durch die die Kinopaläste des Berliner Kurfürstendamms, mit ihren Lichtsäulen, ihren bunten Plakaten und verspiegelten Schaukästen „die Nacht zum Tage machen, um aus dem Arbeitstag ihrer Besucher das Grauen der Nacht zu verscheuchen“. Doch sogar die aggressive ideologische Anstrengung, die über den Zweck der Reklame hinausgeht, schillert in einander widersprechenden, zweideutigen Begriffen: „ein flammender Protest gegen die Dunkelheit unseres Daseins, ein Protest der Lebensgier, der wie von selber in das verzweifelte Bekenntnis zum Vergnügungsbetrieb einmündet“. In einer weiteren Drehung der Lichtmetapher scheint der milde Glanz der Kirche als „der unbeabsichtigte Widerschein dieser finsteren Glut“:

Was vom Lichtspektakel abfällt und vom Betrieb ausgestoßen wird - öde Mauern bewahren es auf. Das Äußere der Kirche, die keine Kirche ist, wird zum Hort des Vergossenen und Vergessenen und strahlt so schön, als sei es das Allerheiligste selbst. Heimliche Tränen finden so ihren Gedächtnisort. Nicht im verborgenen Inneren - mitten auf der Straße wird das Unbeachtete, Unscheinbare gesammelt und verwandelt, bis es zu scheinen beginnt, für jeden ein Trost.

Ein Abfallprodukt des unbarmherzigen Biendens moderner Gleichzeitigkeit und Gegenwärtigkeit, wird die leuchtende Fassade dieses veralteten Ortes der Innerlichkeit zu einer Oberfläche für das Gedächtnis (Kracauer nimmt den Namen der Kirche wörtlich), eine öffentliche Leinwand, oder weniger großartig, eine Ansichtspostkarte, die uns einlädt, das auf sie zu projizieren, was sonst ausgelassen wird, wie Undefiniert und unspektakulär es auch immer sei.

Gleichzeitig mit Kracauer, dem Moralisten, der seine Leser mit den Widersprüchen der alltäglichen Realität konfrontiert, enthüllen eine Reihe seiner Schriften aus der Zeit vor 1933 einen surrealistischen Zug, ein kindliches Staunen über die fremdartigen Erscheinungen und Gegensätze der modernen Zeit, eine unermüdliche Neugier auf das Unbekannte, Vorläufige und bislang noch Undefinierte, auf inkongruente Konfigurationen und Räume der Improvisation. Wie Buster Keaton, der stumme Ritter, streift er durch den magischen Wald der modernen Stadtlandschaft, aber mit Kafka weiß er, daß dieses Märchen kein glückliches Ende haben kann, daß der Bann wirklich ist.45 Die Kehrseite von Kracauers Bereitschaft, sich in das Dickicht des zerfallenen Lebens zu verstricken, ist jedoch der pragmatische Standpunkt des Rezensenten der Tagespresse gegenüber der Mehrzahl der Filme, das heißt, der sogenannten Durchschnittsproduktion. Daher können selbst die routiniertesten Besprechungen der schablonenhaftesten Filme, oft nichts weiter als - zunehmend nonchanlante bis parodistische - Inhaltsangaben, eine rettende Bemerkung enthalten über „schöne Naturszenen“ oder „Stadtaufnahmen“ schauspielerischen Stil, Akrobatik, Tanz- oder Reitkünste oder gut ausgeführte Filmtechniken. Da Kracauer ebenso ein Kinokritiker wie ein Filmrezensent ist, kommentiert er häufig die Qualität der Filmvorführung, das heißt, das Theatererlebnis im Unterschied zum bloßen Filmerlebnis, und lobt gelegentlich die musikalische Begleitung oder (seltener) das Verhalten der Zuschauer.

Das Problem von Kracauers „rettender Kritik“, um Habermas’ Begriff bezüglich Benjamin zu benutzen, ist mit der Frage verknüpft, der ich mich im letzten Teil dieses Aufsatzes zuwenden will - einer Frage der Methodologie sowie der kritischen Selbstwahrnehmung. Denn ich meine, daß die gnostisch- messianische Prägung von Kracauers frühen Schriften zu Film und Massenkultur nicht nur seine Hinwendung zur Massenkultur als Objekt motivierte, sondern auch seinen Zugang zu diesem Objekt formte. Dieser Zugang ist charakterisiert durch eine besondere Art, Erfahrung und Kritik miteinander zu verweben - eine Form der Interpretation, die nicht nur im Vergleich zu Adornos theoretischem Purismus und seiner Blindheit gegenüber der Massenkultur bedeutsam ist, sondern auch im Hinblick auf die kritischen Aporien der heutigen Filmtheorie und der Debatten über postmoderne Kultur.

Bekanntermaßen kritisierte Adorno Kracauers Mangel an dialektischem Denken, ein Vorwurf, der früh in ihrer lebenslangen Korrespondenz auftaucht und in publizierter Form in Adornos ambivalenter Hommage an Kracauer zu dessen 75. Geburtstag zu finden ist. Der Vorwurf lautet, daß Kracauer auf halbem Wege stehen bleibt, wenn er die Antinomie von Theorie und Erfahrung in Angriff nimmt. Einerseits beschuldigt Adorno Kracauer, das Phänomen der Erfahrung mit seiner eigenen kritischen Subjektivität zu überwältigen: „In dem Blick, der an die Sache sich festsaugt, ist bei Kracauer, anstelle der Theorie, immer schon er selber da.“46 Andererseits schreibt Adorno den „Primat des Optischen“ bei Kracauer seiner psychobiographischen Affinität zu der zerstörten Welt der Dinge zu, eine Komplizenschaft, die, nach Adornos Ansicht, keinen Raum für „Widerstand gegen die Verdinglichung“ läßt; die Implikation dessen, was er auf komplexe Weise insinuiert, ist, daß Kracauers Eintauchen in die zerfallene Welt auf eine Kooperation mit dem Status quo hinauslaufe.47 Was Adornos Kritik entgeht - und was symptomatisch für diese beiden sich widersprechenden Vorwürfe scheint -, ist, daß Kracauer sich zugleich als Teil der zerfallenen Welt sehen konnte und als jemand, der ihre Veränderung betrieb.

In einer Reihe von Kracauers Aufsätzen von Mitte der zwanziger Jahre an findet sich ein bemerkenswerter Perspektivenwechsel im Hinblick auf das massenkulturelle Objekt, das diskutiert wird, und zwar im Verlaufe ein- und desselben Textes. Ähnlich wie sein programmatisches Verständnis des Grune-Films, jedoch in umgekehrter Richtung, verfahren diese Aufsätze oft so, daß sie zunächst unpersönliche Distanz durch soziologische, kulturkritische oder philosophische Reflexion aufbauen, schalten jedoch an einem gewissen Punkt auf die Stimme der persönlichen Erfahrung, auf Identifikation und Teilnahme um. Der Perspektivenwechsel wird häufig durch ein rhetorisches Umschalten von der dritten zur ersten Person, meist Plural, oder in einer anderen Variante, sogar zur zweiten Person Singular inszeniert. Um ein Beispiel aus dem Photographie-Aufsatz zu nehmen: Kracauer beschreibt die Photographie einer Großmutter weitgehend durch die Reaktionen der Enkel; sie lachen über das altmodische Kleid, es fehlt ihnen an Ehrfurcht, und „zugleich überläuft sie ein Gruseln. Denn durch die Ornamentik des Kostüms hindurch, aus dem die Großmutter verschwunden ist, meinen sie einen Augenblick der verflossenen Zeit zu erblicken, der Zeit, die ohne Wiederkehr abläuft“ (OdM, S. 23). Einige Abschnitte später, gegen Ende des Aufsatzes, erkennt der Kritiker das Gruseln als sein eigenes: „Das hat einmal an uns gehaftet wie unsere Haut, und so haftet unser Eigentum noch heute uns an. Wir sind in nichts enthalten und die Photographie sammelt Fragen um ein Nichts.“ Und daher „fröstelt [es] den Betrachter aller Photographien“ (S. 32 - Hervorhebungen M. H.). Dieser Gestus der Identifikation ist signifikant, weil er in einem Spannungsverhältnis mit der offensichtlichen Argumentation des Textes steht - daß die Photographie, besonders in ihrer Verbreitung durch die Illustrierten, ein Versuch sei, die Angst vor dem Tode zu unterdrücken, im Gegensatz zu dem Erinnerungsbild, in dem der Gedanke an den Tod noch präsent ist (S. 35). Indem er der Photographie der Großmutter die Fähigkeit zubilligt, eine Reflexion der - und über die - Sterblichkeit zu inspirieren, bereitet der Autor die Umkehrung der Argumentation am Ende des Aufsatzes vor, wenn die photographische Negativität gegenüber der Geschichte eine Funktion im Unternehmen der Erlösung erlangt.

Der rhetorische Perspektivenwechsel ist besonders interessant, wenn der Autor, indem er in die erste Person wechselt, sich mit gesellschaftlichen Verhaltensweisen identifiziert, insbesondere mit Konsumformen, die er zuvor von einem kulturell scheinbar überlegenen, außenstehenden Gesichtspunkt her kritisiert hatte. In seinem Aufsatz „Die Reise und der Tanz“ (FZ, 15. März 1925) versteht Kracauer den Erfolg des Tourismus und moderner Gesellschaftstänze als Symptome der Mechanisierung und Rationalisierung, der Verwirklichung „der depravierten Allgegenwart in den errechenbaren Dimensionen“ (OdM, S. 45). Dementsprechend sind diese Freizeitaktivitäten symptomatisch für die „Doppelexistenz“, die den Menschen aufgenötigt wird, die von der geistigen Sphäre abgeschnitten sind. Und doch ist dieser „Ersatz“ nicht nur „real“ in seiner Negativität, sondern er bietet auch die „Möglichkeit des ästhetischen Verhaltens zur organisierten Fron“ (S. 48). Die Wende von der Kritik zur Rettung wird wieder von einer Änderung des grammatischen Subjekts eingeleitet: „Wir sind wie Kinder, wenn wir reisen, wir freuen uns verspielt der neuen Schnelligkeit des gelösten Schweifens [....]. So skandieren wir auch als Tanzende eine Zeit, die es bisher nicht gab, eine durch tausend Erfindungen uns bereitete Zeit [....].“ (S. 49 - Hervorhebungen M. H.).

Es ist schwer vorstellbar, daß Adorno etwas Vergleichbares geschrieben hätte, obwohl es Kracauers vorangehender Kritik keineswegs an der vernichtenden Schärfe fehlt, mit der jener diese Erscheinungen betrachtet hätte. Die methodologische Differenz läuft auf eine Klassenfrage hinaus. Indem er gesellschaftlich stereotypes und entfremdetes Verhalten als Teil seiner eigenen Erfahrung anerkennt, weigert sich Kracauer, sich von seinem eigenen intellektuellen Privileg über seinen tatsächlichen gesellschaftlichen Status täuschen zu lassen, der, anders als Adornos, demjenigen der städtischen Angestellten, deren Konsum- und Freizeitgewohnheiten er studierte, nur zu ähnlich war. In seiner Aufsatzreihe über die neue Klasse, Die Angestellten (1929), agiert er als „teilnehmender Beobachter“ nicht nur um der soziologischen Methode willen, sondern weil er wußte, wie prekär die Sicherheit war, die ihn von ihrem Schicksal trennte.48

Das Subjekt, das sich dem Material von innen wie von außen nähert, ist offensichtlich nicht das identische, souveräne Subjekt der Transzendentalphilosophie und der bürgerlichen Kultur. Es ist ein Subjekt „ohne Haut“, um Adornos Charakterisierung Kracauers zu modifizieren, und es weiß, daß es gebrochen und gefährdet ist. Es sucht nachgerade solche Situationen, in denen seine Existenzmöglichkeit bedroht ist. Solche Situationen finden sich in Kracauers Prosastücken über seine Wanderungen durch städtische Straßen und Plätze (wie „Erinnerung an eine Pariser Straße“), und sie inspirieren die andere Variante des rhetorischen Umschaltens, der Verschiebung auf die zweite Person Singular. In seinem schönen Aufsatz über „Langeweile“ (FZ, 16. November 1924) zum Beispiel wird der Akt des Radio-Hörens, wobei das Radio in seinem grenzenlosen Imperialismus uns die Welt aufnötigt, damit verglichen, „als träumte man einen jener Träume, die der leere Magen gebiert. Eine winzige Kugel rollt ganz aus der Ferne auf dich zu, sie wächst sich zur Großaufnahme aus und braust zuletzt über dich her; du kannst sie nicht hemmen, noch ihr entrinnen, gefesselt liegst du da, ein ohnmächtiges Püppchen“ (OdM, S. 323). Die Figur der Puppe oder Marionette erscheint von neuem in einem ähnlich masochistischen

„Die Straße“, in: Frankfurter Zeitung [= FZ] Stadt-Blatt (3. Februar 1924). - Mein Dank gilt Karsten Witte, Hauke Brunkhorst, Heide Schlüpmann und besonders Albrecht Wellmer für anregende Diskussionen und kritische Kommentare. Die Forschungsarbeit und das Schreiben dieses Aufsatzes wurden durch großzügige Unterstützung der Alexander-von-Humboldt-Stiftung ermöglicht. Die englische Originalversion erscheint in New German Critique 54 (1991), der deutsche Titel zitiert eine Kapitelüberschrift aus Kracauers erstem Entwurf zur Theorie der Filme, Marseilles, 1940/41.

Martin Jay, „The Extraterritorial Life of Siegfried Kracauer“, in: Salmagundi 31-32 (Herbst/Winter 1975/76), nachgedruckt in: Permanent Exiles, New York 1986; Inka Mülder-Bach, .„Mancherlei Fremde*: Paris, Berlin und die Extraterritorialität Siegfried Kracauers“, in: Juni (3.1.1989), S. 61-72.

Siehe Thomas Y. Levin, Siegfried Kracauer: Eine Bibliographie seiner Schriften, Marbach am Neckar 1989. - Die Mehrzahl von Kracauers Artikeln in der FZ, von denen viele unter Pseudonym oder sogar anonym veröffentlicht wurden, können in seinen eigenen Klebemappen gefunden werden (Nachlaß Kracauer, Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar). Ein großer Teil der Artikel (mit Ausnahme der Filmkritiken) ist neuerdings nachgedruckt in Schriften, Bd. 5.1-3, hg. Inka Mülder-Bach, Frankfurt am Main 1990; die Filmkritiken sollen gesondert in Bd.6 erscheinen.

In der am Vortag veröffentlichten Kritik bezeichnet er die Figur des „einsamen Wanderers“ als einen „Sehnsüchtigen“, ein begehrendes Subjekt. Es ist ebenfalls kein Zufall, daß Kracauer im letzten Satz das hebräische Wort „Tohuwabohu“ verwendet, ein bekanntes Bild aus der Schöpfungsgeschichte, das in die deutsche Umgangssprache als Begriff für Chaos eingegangen ist.

5 Soziologie als Wissenschaft: Eine erkenntnistheoretische Untersuchung (1922), Schriften I, hg. Karsten Witte, Frankfurt am Main 1971; Der Detektivroman: Ein philosophischer Traktat (1922-1925), zum ersten Mal veröffentlicht in Schriften I; „Die Wartenden“, FZ (12.3.1922), nachgedruckt in Das Ornament der Masse [= OdM], Frankfurt am Main 1963.

Kracauer, Soziologie als Wissenschaft, S. 13; zu Georg Lukács’ Begriff der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ siehe ders., Theorie des Romans, Berlin 1920 (von Kracauer in Neue Blätter für Kunst und Literatur 4.1 (4. Oktober 1921), S. 1-5, rezensiert). Siehe auch Inka Mülder, Siegfried Kracauer - Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur: Seine frühen Schriften 1913-1933, Stuttgart 1985, S. 19ff.; zum Begriff „Weltzerfall“ siehe Michael Schröter, „Weltzerfall und Rekonstruktion: Zur Physiognomik Siegfried Kracauers“, in: Text und Kritik 68, (1980), S. 18-40.

Inka Mülder-Bach, „Der Umschlag der Negativität: Zur Verschränkung von Phänomenologie, Geschichtsphilosophie und Filmästhetik in Siegfried Kracauers Metaphorik der,Oberfläche*“, in: Deutsche Vierteljahresschrift 61.2 (1987), S. 359-373; siehe auch Mülder, Kracauer, S. 86-95.

Anson Rabinbach, „Between Enlightenment and the Apocalypse: Benjamin, Bloch and Modern German Jewish Messianism“, in: New German Critique 34 (1985), S. 78-124; Leo Löwenthal, Mitmachen wollte ich nie: Ein autobiographisches Gespräch mit Helmut Dubiehl, Frankfurt am Main 1980, S. 19ff., 27, 59, 156; Martin Jay, „Politics of Translation: Siegfried Kracauer and Walter Benjamin on the Buber-Rosenzweig Bible“, in: Leo Baeck Institute Year Book 21 (1976), nachgedruckt in: Permanent Exiles, S. 198-216. Zum jüdischen Messianismus im allgemeinen, siehe Gershom Scholems grundlegender Aufsatz „The Messianic Idea in Judaism“, The Messianic Idea in Judaism and Other Essays on Jewish Spirituality, New York 1972.

OdM, S. 110. Siehe auch Kracauers polemische Rezension von Blochs Thomas Münzer, „Prophetentum“, FZ (27.8.1922), und Briefe an Leo Löwenthal, 1921-1924: Brief vom 4.12.1921, nachgedruckt in Löwenthal, Mitmachen, S.244-47; Briefe vom 19.12.1921, 31.8.1923, 12.4.1924, teilweise nachgedruckt in Ingrid Belke/Irina Renz (Hgg.), Siegfried Kracauer 1889-1966, Marbacher Magazin 47 (1988), S. 36, 39, 40. - Kracauer lehnte auch Benjamins Version des Messianismus ab, obwohl er auf ihn viel weniger heftig reagierte als im Falle von Bloch; siehe Brief an Adorno, 7.6.1931, und Brief an Löwenthal, 6.1.1957, nach der Lektüre der ersten Sammlung von Benjamins Schriften: „Vieles ist verblaßt und leidet an einem messianischen Dogmatismus, der auf der Ebene, auf der ich mich aufhalte, abstrus und willkürlich erscheint“ (Nachlaß Kracauer). Siehe auch Mülder, Kracauer, S. 45ff.

Kracauer diskutiert die Beziehung zwischen jüdischem Messianismus und der Tradition der Aufklärung in einem — meines Wissens — unveröffentlichten Aufsatz mit dem Titel „Conclusions“ (Nachlaß Kracauer), der für eine Anthologie über den jüdischen Beitrag zur deutschen Kultur geschrieben wurde, vermutlich vor dem allgemeinen Bekanntwerden der Judenvernichtung. Zu Kracauers Avant-la-lettre-Analyse der Dialektik der Aufklärung, siehe zum Beispiel „Ornament der Masse“ und „Aufruhr der Mittelschichten: Eine Auseinandersetzung mit dem,Tat‘-Kreis“, FT (10./11.12.1931), OdM, S.87f.

Brief an Leo Löwenthal, 12.4.1924, nachgedruckt in Belke/Renz, S. 40.

Scholem, „Messianic Idea“, S. 4. Das Motiv der Errettung zieht durch Kracauers gesamtes Werk und wird im Untertitel von Theory of Film: The Redemption of Physical Reality beim Namen genannt. In seiner Diskussion der deutschen Übersetzung dieses Untertitels mit Rudolf Arnheim (der „Rückgewinnung“ vorgeschlagen hatte) schreibt Kracauer: „Ich meine immer noch,,Erlösung' wäre nicht schlecht, genau wegen seines theologischen Beigeschmacks“ (Brief, 30.11.1960; Nachlaß Kracauer). Nach Karsten Witte wurde die schließliche Übersetzung von „Redemption“ als „Errettung“ von Adorno vorgeschlagen.

Schröter, „Weltzerfall“, S. 25, 28. Als Beispiel für die stilistischen Strategien in Kracauers frühen Aufsätzen, siehe unten.

Adorno verwendet in seiner Antrittsvorlesung von 1931 ähnliche Bilder, wenn er Freud und die epistemologische Hinwendung zu dem „Abhub der Erscheinungswelt“ zitiert („Die Aktualität der Philosophie“, Gesammelte Schriften 1, Frankfurt am Main 1973, S. 336). Zu literarischem Gnostizismus, besonders bei Kafka, siehe Harold Bloom, The Strong Light of the Canonical: Kafka, Freud and Sholem as Revisionists of Jewish Culture and Thought, New York 1987, S. 1-25, dt.: Kafka-Freud-Scholem, übers. Angelika Schweik- hart, Basel/Frankfurt am Main 1990, S. 7-29.

Die Kategorie des Vorläufigen in der Geschichte erscheint wieder, als Teil einer entfalteten Analogie zwischen Geschichtsschreibung und Photographie, in Kracauers posthum publiziertem Werk History: The Last Things Before the Last, New York 1969; dt.: „Geschichte - Vor den letzten Dingen“, übers. Karsten Witte, Schriften 4, Frankfurt am Main 1971.

Heide Schlüpmann, „Phenomenology of Film: On Siegfried Kracauer’s Writings of the 1920s“, in: New German Critique 40 (1987), S. 97-114; siehe auch Schröter, S. 26-27. Kracauers Aufsatz „Die Photographie“, FT (28.10.1927), ist neugedruckt in OdM, S. 21—39, sowie in Schriften 5.2, S. 83—98.

Die Betonung der indexischen (im Sinne von C. S. Pierce) Funktion des Films ruft Philip Rosens Auseinandersetzung mit André Bazin in Erinnerung, außer daß für Kracauer die filmische Bewahrung eines flüchtigen Augenblicks nie eine positive Emanation der Schöpfung sein kann, sondern statt dessen die Zeit nur in ihrer Negativität einfängt, in ihrem Hintreiben auf die Katastrophe, aus der allein die Errettung kommen kann; siehe Rosen, „History of Image, Image of History: Subject and Ontology in Bazin", in: Wide Angle 9.4 (1987), S.7-34.

Eine etwas andere Interpretation des Medusa-Mythos findet sich in Theory of Film, New York 1960, S. 305-6, dt.: „Theorie des Films: Die Rettung der äußeren Wirklichkeit“, Schriften 3, Frankfurt am Main 1973; siehe auch Beiträge von Gertrud Koch und Heide Schlüpmann in New German Critique 54(1991).

Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (zweite Fassung, 1936), Gesammelte Schriften 1.2, Frankfurt am Main 1974, Abschnitt XIV.

„Der Künstler in dieser Zeit“, in: Der Morgen 1.1 (April 1925), S. 101-109: 105, 106; der Abschnitt über Die Straße wurde unter dem Titel „Filmbild und Prophetenrede“ in der FZ (5.5.1925) nachgedruckt.

Rabinbach, „Enlightenment“, S. 102.

„Das Geheimnis von Genf“, FZ (29.3.1928); siehe auch „Kult der Zerstreuung“; „Kino in der Münzstraße“ FZ (2.4.1932), nachgedruckt in Straßen in Berlin and anderswo, Berlin 21987, S. 69-71; und besonders „An der Grenze des Gestern: Zur Berliner Film- und Photoschau“, FZ.

„Die Jupiterlampen brennen weiter: Zur Frankfurter Aufführung des Potemkin- Films“, FZ (16.5.1926), nachgedruckt in Kino: Essays, Studien, Glossen zum Film, hg. Karsten Witte, Frankfurt am Main 1974, S. 73-76.

An Filmbesprechungen, die eine Ideologiekritik aus der Perspektive von Zuschauerwirkungen entwickeln, siehe z.B. „Eine Berliner Range“, FZ (23.4.1927), die mit dem Seufzer beginnt: „Ach diese Berliner Gesellschaftsfilme!“; „Kiki“, FZ (1.4.1927); „Klettermaxe“, FZ (10.3.1927): „Eine Dubarry von heute“, FZ (19.2.1927); „Heut’ tanzt die Marien*“, EZ (14.4.1928).

25 From Caligari to Hitler: A Psychological History of the German Film, Princeton 1947, dt.: „Von Caligari zu Hitler“, Schriften 2, Frankfurt am Main 1979, S. 119-123. Siehe auch Theory of Film, S. 72, dt.: Schriften 3, S. 110.

„Arbeitsnachweise“, FZ (17.6.1930), „Wärmehallen“, FZ (18.1.1931), „Kino in der Münzstraße“, alle nachgedruckt in Straßen sowie neuerdings in Schriften 5.2-3.

Zu Kracauers Realitätsbegriff siehe Leo Haenlein, Der Denk-Gestus des aktiven Wartens im Sinn-Vakuum der Moderne: Zu Konstitution und Tragweite des Realitätskonzeptes Siegfried Kracauers in spezieller Rücksicht auf Walter Benjamin, Frankfurt am Main / Bern / New York 1984.

Mülder-Bach, .„Mancherlei Fremde“*, S. 63.

„Im Luxushotel“, FZ (14.9.1928). Kracauer selbst führt Wildes Aphorismus in einem Artikel über „Schöne Schauspielerinnen“ an, FZ (8.12.1928).

Ich bin hier anderer Ansicht als Thomas Elsaesser, der meint, daß Kracauers Ideologiekritik unvereinbar sei mit seiner protopostmodernen „Beschäftigung mit dem Kino als marginaler Lebenssphäre und der entsprechenden Faszination als Erfahrung von Oberflächeneffekten“ und diese letztendlich „falsifiziert“; „Cinema — The Irresponsible Signifier or,The Gamble with History*: Film Theory or Cinema Theory?“, in: New German Critique 40 (1987), S. 82.

Kracauer, „Die Angestellten“ (1929), Schriften 1, S. 298.

Siehe zum Beispiel Jean Baudrillard, „The Ecstasy of Communication“, in: Hai Foster (Hg.), The Anti-Aesthetic: Essys on Postmodern Culture, Seattle WA 1983, S. 133, Anm. 4.

„Über Arbeitsnachweise“, Straßen, S. 52. Siehe auch die Diskussion der Idee der „Raumbilder“ als Träume der Gesellschaft und die Benjaminsche Implikation der Stadt als eines „träumenden Kollektivs“ in Adornos Brief an Kracauer vom 25.7.1930, und Kracauers Antwort vom 1.8.1930 (Nachlaß Kracauer).

34 Die Angestellten, S. 289; ebenso 248. Das Kapitel über die Freizeitkultur der Angestellten trägt den Titel „Asyl für Obdachlose“, was auf die Erfahrung der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ anspielt, die zum Massenphänomen geworden ist, sich aber auch auf die Untrennbarkeit des Glanzes der Massenkultur von dem Elend bezieht, das sie die Menschen vergessen lassen will. In ähnlicher Art wird die Hinrichtung von Sacco und Vanzetti zu einem fortlaufenden Motiv in Kracauers Besprechungen von 1927, z.B. „Amerika im Film“: „das andere, nicht das wirkliche [Amerika], das Sacco und Vanzetti hingerichtet hat“ (FZ, 24.8.1927). Und ebenso empört er sich über die Sentimentalität und den Sadismus einer Verfilmung von Onkel Toms Hütte von 1927, „vor allem darum, weil sie an den gegenwärtigen Befreiungskampf der Neger in den U.S.A. erinnert, der nicht verfilmt ist“ (FZ, (,. 5.1928).

Methodologisch korrespondiert Kracauers kritische Praxis zu dieser Zeit mit seiner Betonung der Montagetechnik in der Filmästhetik, dem Prinzip der „Anordnung“ im Unterschied zu einer abbildrealistischen Verdoppelung der Wirklichkeit. In seiner Kritik einer sozialdemokratischen Besprechung, die sich über das Fehlen der Arbeiterschaft in einem besonderen Wochenschauprogramm beklagt, wendet Kracauer ein, daß es eher „um den Wandel des Arrangements“ gehe: „Wird das sinnlose Geplausch durch eine Anordnung ersetzt, in der ein Bild das andere zu kommentieren vermag, so muß die Arbeiterschaft unter Umständen gar nicht immer selber auftreten, um gewissermaßen zwischen den Zeilen zu erscheinen.“ (FZ, 22.9.1931, nachgedruckt in Kino, S. 15).

Benjamin, „Über einige Motive bei Baudelaire“ (1939), Gesammelte Schriften 1.2, Frankfurt am Main 1974, S. 605; desgleichen in seinem Aufsatz über Nicolai Lesskow, „Der Erzähler“ (1936/7), ebd. Siehe auch Kracauer, History, S. 82-86, 160-163 und passim. Zum Gegensatz von Geschichte und Erinnerung in der jüdischen Tradition siehe Yosef Hayim Yerushalmi, Zachor: Jewish History and Jewish Memory, Seattle/London 1982.

„Tonbildfilm: Zur Vorführung im Frankfurter Gloria-Palast“, FZ (12.10.1928), nachgedruckt in Schriften 2, Frankfurt am Main 1979, S. 409-11, 411.

Zu Benjamins Begriff der Erfahrung, siehe Marleen Stoessel, Aura, das vergessene Menschliche: Zu Sprache und Erfahrung bei Walter Benjamin, München 1983; zur Rolle des Kinos in Beziehung zu diesem Begriff siehe meinen Aufsatz „Benjamin, Cinema and Experience:,The Blue Flower in the Land of Technology1“, in: New German Critique 40 (1987), S. 179-224.

„Tonbildfilm“ S. 410-11. Der Abschnitt endet: „zu seinem eigentlichen Sinn wird der Tonfilm erst gelangen, wenn er das vor ihm nicht gekannte Dasein erschließt, das Tönen und Lärmen um uns, das mit den Bildeindrücken noch niemals kommunizierte und stets den Sinnen entging“. In einer Reihe von Filmkritiken, die der Einführung des Tons folgen, umreißt Kracauer so etwas wie eine filmische Phänomenologie des Geräuschs - gegenüber der Vorherrschaft der Stimme qua Dialog — was an ähnliche Richtungen in der modernen Musik, von Russolo über Satie bis Cage, erinnert. Zur Bedeutung des Tons in Kracauers Filmtheorie, siehe Helmut Lethen, „Sichtbarkeit: Kracauers Liebeslehre“, in: Michael Kessler / Thomas Y. Levin (Hgg.), Siegfried Kracauer: Neue Interpretationen, Tübingen 1990, S. 195-228; 205-14.

„Kunstwerk“, S. 471-472. Vgl. auch Hansen, „Benjamin“, S. 207-212.

Rabinbach, „Enlightenment“: „Das Denken richet sich auf die Wiedergewinnung verlorener Bedeutungen, unterdrückter Konnotationen, und ist häufig verknüpft mit einer Vorstellung von Erlösung durch die Sprache und durch das Studium von Texten, die die verborgene Gegenwart oder Spuren einer messianischen Epoche enthüllen“ (S. 84-85, übers. N. LB.).

„Kunstwerk“, S. 471.

Benjamin nennt Kracauer einen „Lumpensammler“ in einer frühen Rezension von Die Angestellten („Ein Außenseiter macht sich bemerkbar“, Gesammelte Schriften 3). Kracauer erinnerte sich später voller Stolz an diese Zuschreibung; siehe Brief an Adorno vom 28.8.1954 und 16.1.1964 (Nachlaß Kracauer). Benjamin kommentiert die Figur des „chiffonier“ bei Baudelaire in Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften 5.1, Frankfurt am Main 1982, S. 441-442.

„Der Surrealismus: Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“ (Februar 1929), Gesammelte Schriften 2.1. Siehe auch Jürgen Habermas, „Bewußtmachende oder rettende Kritik - Die Aktualität Walter Benjamins“ (1972), Kultur und Kritik, Frankfurt am Main 1977, S. 323-324; und Hansen, „Benjamin“, S. 193. „Ansichtspostkarte“ ist nachgedruckt in Schriften 5.2, Frankfurt am Main 1990, S. 184-185.

Siehe z. B. „Kalikowelt“ und „Abschied von der Lindenpassage“ EZ (21.12.1930), beide nachgedruckt in OdM. Benjamin lobt die politische Kraft von Kracauers „surrealistischen Überblendungen“ in seiner Besprechung von Die Angestellten (Gesammelte Schriften 3, S. 226). Kracauers Beschreibung von Keaton als Märchenritter findet sich in seiner Besprechung von Steamboat Bill Jr (FZ, 27.11.1928, nachgedruckt in Kino, S. 183-184). Zu seiner Verteidigung der „Improvisation“ siehe z. B. „Zirkus Sarrasani“, FZ (8.10.1926), nachgedruckt in Straßen, S.51; „Der Eisenstein-Film“ (zu Oktober), FZ (5.6.1928), nachgedruckt in Kino, S. 79; „An der Grenze des Gestern“, FZ (12.7.1932).

Theodor W. Adorno, „Der wunderliche Realist: Über Siegfried Kracauer“, Noten zur Literatur 3, Frankfurt 1965, S. 83—108, 92.

Ebd., S. 107. Zur lebenslangen Freundschaft zwischen Adorno und Kracauer, siehe Martin Jay, „Adorno und Kracauer: Notes on a Troubled Friendship“, in: Salmagundi 40 (1978), nachgedruckt in Permanent Exiles, S.217-36.

Als Beispiel für diese Haltung siehe Die Angestellten, S.221-222. Zu Kracauers Konzept des Intellektuellen als Angestelltem siehe Hans G. Helms, „Der wunderliche Kracauer“ (Teil 1), in: Neues Forum 18 (1971), S.28.

49 Straßen, S. 73-74. Das von Kracauer beschriebene Pianella nimmt auf unheimliche Weise ein ähnliches Objekt - und ähnliche Effekte - in Fedor Ozeps Film Der lebende Leichnam von 1928 vorweg, den Kracauer in der FZ am 28.2.1929 besprach.

50 Schriften 3, S. 389; an einer früheren Stelle in diesem Buch verknüpft Kracauer die „fragmentierte“ Rezeptivität mit einer psychischen Disposition zur Melancholie und Selbstentfremdung (S. 16-17). Siehe auch seine Verteidigung von Passivität und Selbstverleugnung als epistemologische Tugenden in Geschichte, S. 85-87.

Scholem, „Walter Benjamin and His Angel“ (1972), On Jews and Judaism in Crisis, New York 1976, S. 198-236: 236.

Scholem, „Messianic Idea“, S. 16.

53 Schriften 5.2, S. 117-119. Zu einer skeptischeren Fortsetzung dieses Denkbildes, das die organisierten Vergnügungen des Berliner Lunaparks den ausgelassenen Abenteuern der Pariser Foires gegenüberstellt, siehe Kracauers Artikel aus dem folgenden Jahr „Organisiertes Glück: Zur Wiedereröffnung des Lunaparks“, FZ (8.5.1930).

Miriam Hansen
geb. 1949, Professorin für englische Literatur und Filmwissenschaft an der University of Chicago, Autorin von Babel & Babylon: Spectatorship in American Silent Film (Cambridge Mass. 1991).
(Stand: 2019)
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