Das Gehör ist unsere heroische Öffnung hin zu Unordnung und Konfusion.
Michel Serres1
Ich bin blind, und die Musik ist meine kleine Antigone, die mir helfen wird, das Unglaubliche zu sehen.
Jean-Luc Godard2
I
„Woher kommt die Musik, die man da immer hört?“ fragt eine Frau in Sauve qui peut (la vie) eine Serviererin.3 Aber diese hört keine Musik. Etwas später bemerkt auch eine Frau an einem Würstchenstand die Klänge der zur Szene angelegten Filmmusik. „Woher kommt diese Musik?“ fragt sie ihren Freund. Der weiß aber ebenfalls keine Antwort, hört gar nichts.
Aber wir, die sie dort hören, lassen nicht nach zu fragen: „Woher kommt im Film die Musik?“
Sie kommt aus dem off, sagen die Fachleute; sie erklingt jenseits der Bilder, und das im wahrsten Sinne des Wortes: Sie wird dort festgehalten, buchstäblich festgehalten, auf einer sogenannten Licht- oder Magnetspur, genau am Bildrand, und zudem sind die Projektionsapparate so eingerichtet, daß sie unmöglich ins Bild kommen könnte, die Musik, auch wenn sie es wollte! Nur wenn der Regisseur es will, wenn er’s unbedingt will, tja, dann kann eine Ausnahme gemacht und dem Zuschauer vielleicht mal ein Plattenspieler gezeigt werden, oder eine Jukebox, oder auch Musiker, wenn’s hochkommt. Aber das nur, wie gesagt, in Ausnahmefällen. Im allgemeinen bleibt die Musik dort, wo sie hingehört, und das ist nun mal da, wo die Bilder nicht sind.
In Dresden hängt ein Bild des venezianischen Malers Giorgione, auf dem eine nackte Venus ruht, die Augen sehnsüchtig geschlossen. Wer das Gemälde sieht, weiß: Sie hört Musik, die Schöne. Kein Zweifel möglich! Wiewohl auf der ganzen Leinwand kein Instrument, kein Musiker zu sehen ist! Die Musik aber ist da, unüberhörbar suggestiv ins Bildgewebe hineingemalt, und dennoch ist sie unübersehbar nicht da, unsichtbar, wie die Klänge selbst. Die Sache gebärdet sich ähnlich verflixt wie beim Film, denn von irgendwoher muß sie ja ertönen, die Musik! Nun, im Fall unseres Gemäldes gibt es, zur Beruhigung, eine Lösung des Rätsels: Giorgiones Schüler Tizian hat das Geheimnis vierzig Jahre später gelüftet, als er das Bild der Venus nochmals malte und dabei die Camera pictura ein Stück weit nach links rückte. Dadurch kommt, wie ertappt, ein Orgelspieler ins Bild, der dem optischen Sinnenreiz Klang verleiht. Damit hat Tizian sozusagen malerisch die Situation des Stummfilms erreicht: Die Musik sitzt dem Abgebildeten zu Füßen, wie die Lichtspielorgel der Leinwand im alten Kino. Giorgione dagegen war schon in die erotischen Mysterienspiele des Tonfilms vorgedrungen: Der leicht zum off hin abgewendete Kopf der Liebesgöttin; ihr gesenkter Blick, der eine entscheidende Nuance mehr Bewußtsein verrät, als schlafend erzielbar wäre; die vom rosa Dämmerlicht umschmeichelte Materialität der Stoffe und der Landschaft; die nicht mehr analysierbare Quelle des Lichts, das da wie eine Klangfarbe das Fleisch umschmeichelt - all das bildet eine Cinematographie der Sinnlichkeit aus in diesem Gemälde des Maestro Giorgione und kreiert im Jahr 1510 eine veritable Muse des Tonfilms! Denn paradoxerweise stellt sich die Frage, wo denn die Musik stecke, die da in den Bildern auftönt, erst seit die Musik der Leinwand nicht länger leibhaftig zu Füßen sitzt, sondern scheinbar restlos in ihr aufgegangen ist.
Setzen wir uns ins Kino und warten wir, bis das Saallicht erlöscht. Gezeigt wird Godards Vivre sa vie. Das Signet des Verleihers leuchtet kurz auf, aber der Film scheint dennoch nicht anzufangen. Wie Blinde starren wir auf das dunkel aufleuchtende Nichts, das die Projektionslampe, von Schwarzfilm geblendet, auf dieses leere Quadrat vor unseren Augen wirft. Dann ertönen Klänge von diesem Nichts her. Und aus dem Schwarz der Leinwand sondert sich eine Silhouette ab, die Umrisse eines Frauengesichts, mal von vorne, mal von der Seite gesehen, und bei jedem Einstellungswechsel kurz von dieser gleichen Musik begleitet, als würde Orpheus seine Euridyke Schritt für Schritt aus dem Schattenreich führen. Die kurze musikalische Phrase wird die Frau während des ganzen Films, in dem zumeist eine gespenstische Stille herrscht, kaum jemals verlassen. Nur ihren Tod muß die Frau ohne Musik antreten. Stumm fährt das Auto wie ein Henkerwagen an dem Fabriktor mit der Aufschrift „Enfers et fils“ vorbei. Kurz darauf wird sie erschossen. „Ende“ sagt der letzte Bildtitel, und erst dann und erneut im Dunkel spricht die Musik wieder, ertönt in doppelter Hinsicht von jenseits des Films.
Schön und gut, aber wo liegt denn dieses klangliche Jenseits? Weiß jemand den Weg dorthin? Ich sage Ihnen: Wir gehen nicht eher aus diesem Kino heraus, als daß wir ihn nicht gefunden haben, den Platz, wo die Klänge daheim sind! Schauen wir uns die ganze Konstruktion nochmals in Ruhe an: Da sind also ein Bildausschnitt und ein Ton, eine Bild- und eine Klangfläche sozusagen, und beide sind übereinander gelagert, wenn auch nicht deckungsgleich! Nicht ganz. Gerade bei einer guten, richtig installierten Tonanlage im Kino kann man feststellen: Das Klangbild ist um Entscheidendes größer als das optische Bild, als jenes Rechteck der Projektion. (Übrigens: Das Phänomen radikalisiert sich noch beim Video: Zieht man sich den Film, wie es neudeutsch heißt, vom Bildschirm und, den Mitbewohnern zuliebe, am Kopfhörer rein - und die letzten Godards sind nur so voll entschlüsselbar -, wird einem vollends bewußt, daß das Bild nur einen Ausschnitt der gebotenen Information enthält, während der Ton eine wesentlich panoramahaftere, entgrenztere Räumlichkeit aufweist.) Mit anderen Worten: Musik und Geräusch klingen auch dort noch, wo das Bild schon längst an seine Grenzen stößt. Und mag die Kamera noch so weit seitwärts ausschwenken, nach links und nach rechts fahren oder auf einen Kran hochsteigen - den Klang holt sie nie ganz ein.
Das aber hat Konsequenzen, denn das Außerbildliche ist nicht einfach ein Bereich außerhalb des Films, es ist eines der wichtigsten Bereiche des Films! Es enthält all das, was nicht, oder besser noch nicht ins Bild geraten ist. Das Außerbildliche, das out-offield, speist den Film gewissermaßen mit Außenwelt, es ist seine unerschöpfliche Vorratskammer. Und der Ton scheint dabei den Laufburschen zu spielen. Er kündigt an, was bereits da ist, aber noch nicht im Bild; klanglich schon präsent, aber noch unsichtbar. Wie die Schritte von jemandem, der im nächsten Augenblick vor die Kamera treten kann. Daß der Ton unüberhörbar der Wortführer ist alles dessen, was in einer Einstellung nicht ins Blickfeld gerät, weiß jeder am Set. Denn im von Jahr zu Jahr höher werdenden Rauschpegel haben die Filmer am realen Drehort all das zu Gast, was sie gerade nicht filmen, was in ihrem Film weder Platz hat noch darin findet. Es ist, als würde der Rest der Welt, vor Eifersucht geschüttelt, einem an der Tür rütteln und pausenlos Einlaß erflehen. Aber da darf kein Regisseur weich werden! Ja nicht! Es hätte kein Ende sonst. Filmen heißt nun mal, sich sein eigenes Stück Kuchen aus dem weißen Rauschen der Welt herausschneiden; auch wenn sich Godard mit Händen und Füßen gegen diese Tatsache wehrt. Aber darauf kommen wir noch, keine Angst. Vorläufig sind wir immer noch dabei, jenen Ort ausfindig zu machen, wo im Film - verflixt noch mal! - die Musik haust. Einiges wissen wir jetzt schon. Zum Beispiel wissen wir jetzt, daß sie dort, wo sie sich breit macht, mehr Platz braucht, als das Bildkader zu bieten hat. Zudem ist sie unsichtbar! Genau, das wissen wir auch schon. Gerade das unterscheidet sie eben vom Geräusch. Schritte werden nämlich zu Schuhen, sobald sie die Szene betreten, aber das Tremolo, das den Mörder ankündigt, wird das etwa zum Messer? Eben. Es gibt also einen Unterschied zwischen Musik und Geräusch, auch wenn sie sich immer wieder irgendwo zwischen Bildausschnitt und dem Außerbildlichen treffen und vereinen mögen. Aber während Geräusch restlos zu einem optischen Ereignis werden kann, ist die Musik einfach nicht dazu zu bewegen, vor der Kamera zu erscheinen. (Denn spielende Musiker zu zeigen, ist etwas anderes, als die Musik selber sichtbar zu machen, auch das werden wir noch erfahren.) Nein, es bleibt uns nichts anderes übrig, als jenen offensichtlich ebenso wichtigen wie undurchsichtigen Bereich des Außerbildlichen selbst auszukundschaften.
Der Filmtheoretiker Noël Burch unterscheidet zwei Typen, zwei Arten, im Film jenseits des Bildes zu sein, und zwar eine konkrete und eine imaginäre. Konkret wäre alles, was sich ohne weiteres auch vor die Kamera locken ließe, imaginär der ganze Rest, der nie ins Blickfeld gerät und der Burch zufolge nichts weniger als die Unendlichkeit des Universums darstellen soll.4 Im Ton sind beide filmisch vertreten, das Geräusch als das jederzeit auch visuell Konkretisierbare, die Musik als Statthalterin des Imaginären, als das, was zwar anwesend ist, aber sich dem Blick entzieht. Damit wäre endlich ihr Ort ausfindig gemacht: Sie befindet sich einfach hier und nirgendwo zugleich! Sie haust im ewigen Dazwischen, ein Engel der Verkündigung im Schattenreich des Films. Es lohnt sich, zu solch ehrwürdigen Begriffen zu greifen, denn die Handlungen, die von Musik signalisiert werden, sind von einer grundsätzlich anderen Qualität als jene, die von Geräuschen begleitet auf die Leinwand geschickt werden. Denn während Geräusche ein Ereignis ankündigen, verkündet die Musik immer gleich das Schicksal. So wie der Trittschall bloß den Schuhen des Mörders vorausgeht, das Tremolo aber seinem Messer.
Das hat Godard in einer ebenso witzigen wie ingeniösen Szene vor Augen geführt. In Sauve qui peut (la vie), jenem Film, in dem immer wieder gefragt wird, woher die Klänge kämen, die man da im Kino hört, tritt die Musik zweimal leibhaftig vor die Kamera. Mit verheerenden Folgen, wie sich zeigen wird!
Eine der ersten Szenen spielt in einem Hotelzimmer. Ein Mann telephoniert, und dazu erklingt die Stimme einer Operndiva. So weit, so üblich. Doch bald merkt der Zuschauer: Die Frau singt zwar von außerhalb des Bildes, aber das ist in diesem Fall schlicht und ergreifend das Badezimmer von nebenan. Und schon stört sie! Verärgert klopft der telephonierende Mann gegen die Wand und - gesittet, wie die Klänge sind - verstummt der Gesang. Kurz darauf verlassen beide das Hotel, Mann und Diva. Doch letztere übt schon wieder die geläufige Gurgel. Belcantisierend nimmt sie den Lift und sinkt singend auf Rolltreppen durch eine Einkaufshalle dem Ausgang zu. Es ist nicht zum Zuschauen! Zum Glück sieht man auch fast nichts, denn raffinierterweise läßt Godard, statt das weißgott anstrengende Vokalisieren der Diva in Nahaufnahmen zu decouvrieren, die szenische Präsenz ihres Gesangsaktes bewußt im Zwielicht, indem sie entweder singend im Gegenlicht erscheint, oder in einer riesigen Totale auf wenige sich bewegende Farbpunkte reduziert wird. So entsteht ein äußerst witziges Spiel mit der Angemessenheit von Filmmusik. Die gleiche Arie, als Tonkonserve den gleichen Bildern unterlegt, hätte durchaus passend das gutbürgerliche Ambiente des Hotels unterstrichen; in denselben Räumen aber real ausgeführt, wirkt sie auf einmal völlig daneben. Und gerade weil Godard einen im unklaren darüber läßt, ob die Frau nun wirklich singt oder nicht (und damit die Grenze zwischen Im-Bild-Sein und Außer- dem-Bild-Sein raffiniert verwischt), macht er diese grundlegende Zwitterhaftigkeit der Filmmusik transparent: Sie gehört zum Film und hat dennoch in ihm keinen Platz. Aber sie spielt Schicksal! O ja, das tut sie! Und wie!
Denn das Nicht-von-dieser-Welt-Sein der Sängerin hat noch eine zweite, eine tragische Bedeutung, wie erst das Ende des Films enthüllen wird. Sie ist der Todesengel des Mannes, den sie da begleitet. Wie Atropos führt sie ihn ein in einen Film, den er nicht überleben wird. Und wenn der Tod ihn einholt, erscheint ein zweites Mal die Musik, diesmal in einem Hinterhof deplaziert und wie vom Himmel gefallen, um dem Helden einen Abgesang zu widmen. Die befremdliche Diva, die ebenso unmotiviert aus dem Film wieder verschwindet, wie sie darin aufgetaucht war, und die keine andere Funktion zu haben schien, als den Hauptdarsteller - einen Mann namens Godard und seines Zeichens ebenfalls Filmregisseur - in den Film einzuführen, stellt sich im nachhinein als Walküre heraus, die dem Godardschen alter ego die „Forza del Destino“ vorsingt. „Zeige Deine Macht, Schicksal“, wird bald darauf, einen Satz Beethovens zitierend, eine Bratschistin in Prénom Carmen murmeln. Und der Film, der auf jenen mit dem Tod des Regisseurs unmittelbar folgt, Passion, wird voller Requiemklänge sein. Und siehe: Auch da begegnet ein Filmregisseur einem Engel, aber bezeichnenderweise nicht (wie es die Musikauswahl in diesem Film geradezu anbietet) zur Musik einer Totenmesse, sondern zu den weit unverfänglicheren Klängen des Dvoràkschen Klavierkonzerts. Schließlich hat Godard, der im Jahre 1973 einen ähnlich schweren Autounfall erlitt wie sein Namensvetter in Sauve qui peut, im Gegensatz zu diesem überlebt, so daß er sein Ringen mit Engeln wieder für wesentlich ungefährlichere Schicksalsschläge aufsparen kann, wie sie ihm der Schaffensprozeß in Hülle und Fülle zu bieten scheint.
II
Bildlich gesprochen: Die Musik ähnelt dem Infrarot, sie ist gewissermaßen am Rand des Visuellen zu orten, dort, wo die Lichtwellen in Wärme übergehen. Die Geräusche wären dann am anderen Ende des Sichtbaren zu suchen und dem Ultraviolett gleichzustellen, das sich - jeder Kameramann weiß es — wie ein Nebel, wie ein die Bilder verunklärender Schleier auf den Film legen kann. Vor allem in der Nähe von Wasseroberflächen geschieht das leicht. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß das Geräusch sich in Godards jüngsten Filmen mit dem Meer verbündet hat, daß es dort mit den Wellen in einem unablässigen gemeinsamen Kampf gegen Klarheit und Eindeutigkeit sich verschworen zu haben scheint. Geräusch und Meer sind geradezu zu einer verschwisterten Metapher des Ungeordneten, des Chaos geworden; Sinnbilder jener Totalität, die das Kameraauge zwar dauernd umringen, aber nie ganz erfassen wird. Zweimal schon hat Godard den Lautréamontschen Lobgesang auf den großen Unbekannten in seinen Filmen zitiert: „Je te salue, vieil Océan“5
Auch die epidemische Redseligkeit in diesen Filmen, wovon im Ohr des Zuschauers oft nur ein vom Wortsinn abstrahiertes Dröhnen übrigbleibt, dieser Plapperbandwurm aus hochpoetischen Zitaten, philosophischen Sentenzen und Kalauern ist jenen Geräuschbädern verwandt, die, wie das Meeresrauschen und das Autobahntosen, den Urschlamm sämtlicher Geschichten verkörpern. In derart amorphen Grauzonen, die das Godardsche Universum überziehen wie die blinden Flecken die ersten Mercatorschen Weltkarten, ist die massa confusa des Unentdeckten, des Noch-nicht-Gestalteten immer gegenwärtig. Von Sauve qui peut (la vie) über Prénom Carmen und King Lear bis zum neuesten Glanzstück Nouvelle Vague schlagen der Atlantik und der Genfersee ihre Wellen, als wären sie bloß die Strophen einer einzigen, unaufhörlichen Ode. Wie Strandgut spülen die Klänge das Szenische ans Ufer des Sichtbaren, als wäre es bloß Abfall und auch der Film nur das Resultat einer Überschußproduktion der endlosen Wellenbewegung seiner Klänge. Und eine Arbeitsteilung herrscht da zwischen Geräusch und Musik wie die zwischen Echolot und Netz. Musik, die schöne Fischerin, darf die Bilder ans Land ziehen, die die Geräusche signalisiert haben, darf sie bergen aus dem Dunkel der Meerestiefe. Ja, das Meer ist bei Godard zu einer zentralen Metapher geworden für das Außerbildliche, für jenes filmische Territorium, wo wir schon den Klang geortet haben. Es ist ein Versuch seiner Visualisierung, wie die Unschärfe, der Schwarzfilm und der blaue Himmel.
Passion fängt mit einem ebensolchen Himmel an. Zu den Anfangstakten von Ravels „Klavierkonzert für die linke Hand“ schweift die Kamera suchend den Luftraum ab. Wie ein Ariadnefaden zieht sich eine Flugzeugspur durch das ungestaltete Wolkenlabyrinth. Dann trägt die Suche erste Früchte: Bilder tauchen auf, stumm noch, wie bloß vom tiefen Klang des Orchesters empor ans Licht gehoben: Eine junge Frau in einer Fabrik; ein Mann im Auto und dieselbe junge Frau auf dem Fahrrad daneben; ein etwas eleganteres Paar, in irgendeine Aktion verwickelt. Bilder, sinnlos zunächst, wie das Strandgut am Meeresufer, aber ein erster Fang ist gemacht. Ab jetzt wird der Film seine Kreise immer enger ziehen, behutsam und allmählich das unermeßliche Gebiet jenseits des Filmausschnitts mal ein-, mal ausgrenzend. Dabei schneidet Godard mit Vorliebe hart und abrupt in die Töne hinein. Das läßt Einlullendes erst gar nicht aufkommen und macht die manuelle Arbeit am Film unüberhörbar. Es tönt, als hätten die Klänge sonst keinen Platz hier, als wären sie eine Nummer zu groß für den Film, als müßten Musik und Geräusch zuerst rabiat zurechtgeschnitten werden, bevor sie in das Prokrustesbett des Bildkaders hineinpassen.
Es wird höchste Zeit, daß wir etwas Schabernack mit unseren Einsichten treiben. Wenigstens ist Godard danach immer wieder zumute, und wer will es ihm verübeln. Also schalten auch wir uns ein, in einen Film beispielsweise aus dem Jahre 1967, genannt Weekend.
Was wir sehen, ist ein Landweg. Er verläuft quer zur Kameraachse, verschwindet also links und rechts aus dem Bild. Gegen die Mitte hebt sich an der gegenüberliegenden Seite des Weges der Boden etwas an, um dahinter, für uns unsichtbar, zu einer Mulde abzufallen. Alles zusammen eine ideale Versuchsanlage für unser kleines Spiel. Denn in dieser Einstellung kann nicht nur von der Seite auf- und abgetreten werden, sondern, dank des Grabens, auch im Bild selber. So, jetzt plazieren wir noch eine Frau und einen Mann an den Wegrand, und dann legen wir los. - Ah, da erklingt schon das erste Geräusch von außerhalb des Bildes! Und tatsächlich fährt ein Sportwagen vor. Die Beifahrerin, die wohl noch nie in ein derartiges Bild geriet, will vom Mann wissen, ob er sich „in einem Film oder in der Wirklichkeit“ befinde; was Anlaß zu einer kleinen Disputation gibt. Dann fährt das Fahrzeug wieder aus dem Film hinaus. Und die Frau steigt in die Mulde, um so ihrerseits — aber im Bild - aus dem Bild zu verschwinden. Schritte werden hörbar. Musik übernimmt deren Metrum und schickt einen Landstreicher vor die Linse. Statt rechts wieder zu verschwinden, dreht er sich kurz vorher um und bittet den Mann um Feuer. Dieser schnauzt ihn bloß an, worauf der Clochard, musiksynchron wie die Puppe auf einer Spieldose, sich der Mulde zuwendet und hineinschaut. Mit „Gehört das Weib Ihnen?“ versucht er die karge Konversation abermals in Schwung zu bringen. Vergeblich. Der Mann reagiert jetzt überhaupt nicht mehr. Also läßt sich der Landstreicher in den Graben hinunterrutschen. Genau in dem Moment bricht die Musik ab, als würde sie ihn, wie ein Kran seine Last, im Graben abladen. Stille. Dann klingt das Schreien der Frau. Unser Mann jedoch verharrt vollkommen unbeteiligt in seiner Position, als gälte in diesem Film das Sprichwort des Tauben: „Aus dem Auge, aus dem Sinn.“ Flugzeuglärm erklingt. Ins Bild fährt aber dennoch wieder ein Auto. Kurzes Hupen besiegelt die Metamorphose. Mit einem erneuten Einsatz von Musik steigt der Landstreicher wieder aus dem Graben und schaut, während er seinen Mantel zuknöpft, zum Mann hinüber. Dazu fährt die Kamera nach links, den Weg entlang, bis beide außerhalb des Bildes sind. Inzwischen ist die Musik schnittartig vertauscht worden mit dem abermaligen Motorgeratter des Flugzeugs. Doch nichts dergleichen gerät ins Bild. Weder Flugzeug noch Auto noch sonst was. Unverrichteterdinge fährt die Kamera den leeren Weg wieder zurück. Es ist, als ob die Musik ihr dabei ermutigend auf die Schultern klopft. Am Ausgangspunkt der Kamerafahrt ist mittlerweile die Frau aus dem Graben wieder aufgetaucht und streckt die Glieder. Ohne daß sich etwas auf der Tonspur merkbar verändern würde, hebt sie plötzlich den Kopf, als höre sie etwas, was wir nicht hören, schnellt nach vorne zur Wegmitte und winkt heftig mit den Armen nach links. Und von dort taucht doch tatsächlich ein Auto auf!
Der Ton, Sie haben es bemerkt, öffnet der Filmwelt die Fenster. Wer weiß, was dank ihm im nächsten Moment wieder hereinflattert! Das Bewußtsein für die latente Präsenz des Außerbildlichen beim Zuschauer dergestalt aktivierend, relativiert Godard zugleich die Geschlossenheit des Films. Denn es klingt von draußen manches in die Bilder herein, was darin keinen Platz findet. In ein und demselben Vorgang aber - auch das zeigte die vorangegangene Szene - ist der Ton mit dem Abschotten der filmischen Welt von der realen beschäftigt. Durch eine fast ritualisierte Benützung weniger Töne und Geräusche nagelt Godard paradoxerweise sogleich wieder zu, was er just mit Tönen und Geräuschen aufgestoßen hatte. Er ordnet, kurz gesagt, das Chaos mit eben jenen Mitteln, die das Chaos entstehen ließen. Wir werden darauf zurückzukommen haben, wenn wir die Organisation der Töne im Film genauer anschauen werden. Zunächst aber müssen wir uns wirklich um die Musik kümmern!
Denn woran soll die sich nun halten, die Arme, inmitten all dieser Bilder, in die sie unverschuldet hineingeweht wurde? Denn hier schließlich ist nicht ihr Ort. Ihr Leib ist anderswo. Was bleibt ihr also anderes übrig, als wie ein Parasit sich innerhalb der Bilder einen neuen Leib zu suchen, in dem sie wenigstens temporär wohnen kann. Was bevorzugt die Musik? Als anständiger Parasit bevorzugt sie Hohlräume. Sie liebt die Leere! Verständlicherweise, denn eine Leere im Bild ähnelt eben noch am ehesten dem, was nicht im Bild ist. Nennen wir es also Heimweh, wenn sie zu Wolken, Landschaftstotalen und verlassenen Gegenden und Räumen eine größere, innere Beziehung hat als, sagen wir, zu Lastwagen und Vorratskammern. Und wo keine Leere vorhanden, sucht sie sich eben Ersatz, beispielsweise bei den Menschen im Film, nistet sich in deren psychischen Hohlräumen ein und mimt dort, einer Bauchrednerin gleich, den inneren Monolog des parasitär besetzten Körpers; macht das Gezeigte zum Resonanzkörper des Gehörten und zeigt, wie ein Stimmungsbarometer, den inneren Druck der Figuren an. „Ach, Madame“, seufzte Diderot schon in seinem „Brief über die Blinden“, „wieviel suggerieren uns doch unsere Sinne, und wie schwer fiele es uns ohne Augen, anzunehmen, daß ein Marmorblock weder denkt noch fühlt!“6 Denn, unter uns gesagt, es ist der Musik vollkommen gleichgültig, ob das Besetzte, das sie zu beseelen vorgibt, ein Mensch oder ein Baum ist, entscheidend ist nur: Es hat Hohlräume. Nehmen wir als Beispiel einen besonders prominenten Hohlraum, nehmen wir Alain Delon, und führen wir ihn mit einem, dem Umfang nach, besonders prominenten Baum zusammen - schon stecken wir mitten in der Schlüsselszene von Godards Nouvelle Vague:
Langsam fährt die Kamera seitlich eine hügelige Landschaft ab, die jetzt in der Tiefe von einem Weg durchschnitten wird. Sämtliche Umweltgeräusche sind auf der Tonspur so gut wie eliminiert, nur ein elegisches Violoncello, sanft von Gitarrenarpeggien gestützt, begleitet das Erscheinen zweier Gegenstände, die wie winzige sich bewegende Punkte in dieser Landschaft auftauchen. Ein Mann, der sich - wie sich herausstellen wird - seine Schuhe bindet, und, noch weiter im Hintergrund, ein herannahender Lastwagen. Die fast vollkommene Geräuschlosigkeit, der Tonfall der Musik sowie die Art, wie die Szene fotografiert ist, vermitteln den Eindruck, als erschienen hier zwei, die nicht von dieser Welt sind. Und tatsächlich: Im Verlauf des Films wird kaum ein Hinweis darauf unterlassen, daß dieser von Alain Delon dargestellte Mister Lennox, der hier noch so demütig seine Schuhe bindet, ein Jenseitsgesandter ist, eine Art Jesus-Travestie. Aber vorläufig schiebt sich ein gewaltiger Baum vor den neuen Messias und ein Hügel vor den Lastwagen und fegt so das Bild wieder säuberlich leer. Ein Zwischentitel erscheint: „Incipit Lamentatio“ steht darauf zu lesen, und wie gerufen hebt das Klagen denn auch an, wenn auch bloß in Form zweier gehaltener Autohupen, die sich in die Musik einfügen, als wären sie dort von Anfang an vorgesehen gewesen.
In einer sehr kurzen Einstellung sehen wir Delon und den Lastwagen plötzlich sehr nah. Alle Idylle ist aus der Szene gewichen. Das Gefährt braust an der Kamera vorbei, und nur knapp kann Delon Schutz bei jenem mächtigen Baumstamm finden, der ihn vorhin so liebevoll in der Landschaft verdeckte. In dessen Krone funkelt die Sonne, und während die sarkastische Lamentatio der Autohupen andauert, fährt die Kamera die Aste des Giganten ab. Als halte die Zeit den Atem an, als dehnte sich die Panik bis zum molto grave, wechseln jetzt Bildfragmente des (Beinah-)Unfalls mit der optischen Zelebrierung des Baumes ab. Gleichgültig gegenüber dem Schicksal eines Menschen fährt die Kamera, getragen von den im Lärm wieder auftauchenden idyllischen Klängen des Instrumentalduos, vom Tatort weg, am Baum entlang in die sonnenüberflutete Landschaft. Doch in der nächsten Sekunde schon füllt sich das Filmkader vollständig mit der vorbeirasenden Seitenwand des Camions, unmittelbar gefolgt von einem Sportwagen. Rasch kurvt die Kamera nach vorne um den Baum herum und legt den Blick auf die Straße frei, wo jetzt das zweite Auto fast auf den vorausfahrenden Wagen auffährt, bis es mit quietschenden Bremsen in einer hübschen Staubwolke zum Stillstand kommt; ein Ereignis, das verhalten im Cello nachklingt. Der Sportwagen manövriert rückwärts, und die Kamera startet zu Gitarrenklängen einen neuen Hymnus auf den Baum. Delon taucht wieder auf, nachdem er mehrere Einstellungen lang wie aus dem Film verschwunden war. Er streckt seine Arme am Baum wie Christus am Kreuz. (Später wird Godard ihm gar, und nicht ohne blasphemischen Sarkasmus, die untergehende Sonne hinter das angegraute Haar stecken wie des Heilands Aureole.) Mittlerweile hat der Sportwagen am Fuß des Baumes geparkt, und während die Fahrerin etwas benommen herumschaut, klingt aus ihrem Autoradio ein Popsong, der uns den letzten Zweifel nimmt, daß es sich bei Delon um einen Himmelsboten handelt. „When will you be landing?“ es da. Und weil jetzt, dank dem Liedchen, der Überirdische eh schon mit dem weiblichen Verlangen verkoppelt worden ist, nimmt es auch nicht wunder, daß sich die Frau im nächsten Moment Hals über Kopf in den Herrn im Gras verliebt, und mag sie dabei auch noch so verwundert „Dolce miracolo!“ flüstern; schließlich lief die Botschaft wenige Augenblicke zuvor über den Sender. Die Leute hören halt nicht aufmerksam genug Radio! Übrigens: Weil des Schwimmens nicht mächtig, wird Gottes Sohn nach vierzig Minuten film-irdischen Daseins ertrinken, und wenn er wenig später seinen Ostertag erlebt und, wie aus dem entsprechenden Ei gepellt, als Geschäftsmann wiederkehrt — denn der christlichen Legende zufolge muß Gottes einziger Nachwuchs ganz und gar Mensch werden - gewinnt er zwar sofort die Sympathien des big business, aber verscherzt sich jene der Musik. Erst am Ende des Films, als ihm die Geliebte in einer witzigen Profanierung der Fußwaschung, die Schuhe bindet, erst dann vereinigt sich das Treiben des Menschensohns auf Erden wieder mit den Klängen, wird der Held erneut von jenem Cello-Gitarre-Duo begleitet, das ihm in der Anfangssequenz zur Seite stand, als er, der Jenseitsgesandte, sich noch selber die Schuhe binden mußte. Worauf beide, in Liebe und Sportcoupe vereint, in den sicheren, wenn auch verklausuliert für das Jenseits des Filmendes aufgesparten Tod rasen. „Consumatum est“ (Es ist vollbracht) höhnt der letzte Zwischentitel.
III
Musik hören ist wie Blicke auf das Abwesende werfen. Zumal in Filmen von Godard, der auch die Geräusche mit Vorliebe ohne die dazugehörigen Gegenstände vorführt, sie gewissermaßen entleibt. Der Anfang von Soigne ta droite zeigt einen Blick von hoch über den Wolken auf die Erde hinab. So muß die von Delon verkörperte Person die Welt gesehen haben, bevor sie ihr Schuhwerk auf sie aufsetzte. Es ist die Perspektive der Entrückung, der Blick von jenseits des Films auf seinen Gegenstand, die Welt - ein musikalischer Blick sozusagen. Dazu ertönt dann allerdings das genaue Gegenteil eines „fernen Klangs“, nämlich das aufdringliche präsente Klingeln eines Telephons, und eine Stimme stellt, die Leibhaftigkeit des Klangs mit der Entrücktheit des Bildes lapidar verbindend, fest, daß da ein Telephon läutet am Ende des Jahrhunderts.
Der Klang ist leibhaftig abwesend. Man muß schon zu derartig dialektischen Formulierungen greifen, um das zu beschreiben, was im Kino vor sich geht. Da täuscht ein Ton greifbare Nähe vor und das, was er signalisiert, ist nicht da. Aber die Simulation des Abwesenden gerät täuschend, das muß man dem Ton lassen. Man schaue dagegen nur mal einen Stummfilm wirklich stumm an, vor allem wo auf der Leinwand die Leute reden! In Vivre sa vie hat Godard es in extenso vorgeführt: Die Menschen werden zu Gespenstern, mehr noch, alles, was gezeigt wird, bekommt den somnambulischen Zauber einer Geisterwelt. Erst der Ton macht das Schattenspiel leibhaftig. In Nouvelle Vague schweigen die Personen oft, wenn sie im Bild sind, obwohl auf der Tonspur das Reden weitergeht. Und sofort wirken sie abwesend, wie Fremdkörper in einer Welt, in die sie nicht hineingehören. Doch kaum öffnen sie den Mund, kaum vermählen sich Ton und Bild, wechseln die Figuren aus ihrer Nicht-Zeit ins Präsens und werden sie unsere Zeitgenossen.
„Er hofft ihre ganzen Körper zu sehen, ausgestreckt über ihre Stimmen,“ heißt es in King Lear. Der Klang im Film ist demnach nicht zuletzt auch Körperersatz. Sogar der Nacktheit verleiht ein Streicherklang dort erst ihre Sinnlichkeit. Das ist ein Paradox ganz nach Godards Geschmack: Ausgerechnet die Töne, die wir gerade mühsam im Jenseits der Bilder geortet haben, verleihen diesen ihre Diesseitigkeit! Und beileibe nicht durch den Kontrast. Im Gegenteil: Der Ton ist ein Ersatz für den im Kino nicht in Anspruch genommenen Tastsinn. Er täuscht vor, daß der Zuschauer das berühren kann, was er sieht, daß es wirklich da ist und nicht bloß eine ingeniöse optische Täuschung. „Ich öffne die Augen dem Licht und sehe zunächst nur lichten und buntfarbigen Nebel,“ schreibt Etienne de Condillac in seinem 1754 erschienenen „Traktat über die Empfindungen“. „Ich taste, schreite vor, taste abermals: Ein Chaos entwirrt sich allmählich meinen Blicken. Das Tastgefühl zerlegt gewissermaßen das Licht, scheidet die Farben, verteilt sie auf die Dinge, erkennt einen hellen Raum und in diesem hellen Raum Größen und Gestalten, leitet meine Augen bis zu einer gewissen Entfernung an, eröffnet ihnen den Weg, auf dem sie weit über die Erde hinblicken und bis an den Himmel reichen werden; es breitet mit einem Worte vor ihnen das Weltall aus. Alsdann schweifen sie anscheinend mit Lust durch unermeßliche Räume, befassen sich mit Dingen, bis zu denen der Tastsinn nicht reichen kann, messen sie und scheinen, indem sie dieselben mit erstaunlicher Geschwindigkeit durchlaufen, der ganzen Natur nach meiner Willkür Dasein zu nehmen oder zu geben. Durch die bloße Bewegung meines Augenlides schaffe oder vernichte ich alles, was mich umgibt.“7
Einbildungskraft ist für Condillac die fast leibhafte Erinnerung daran, die Dinge berührt zu haben. Auf das Kino übertragen hieße das, daß dort, quasi als Stellvertreter des ausgeschlossenen Tastsinns, der Ton die Rolle der Einbildung spielen muß, daß für uns im Klang, der den Bildern beigefügt ist, die Erinnerung daran aufgehoben ist, das Gezeigte auch selbst einmal berührt zu haben. Deshalb unterläßt Godard nichts, nicht mal das Gewalttätigste, um den Tönen in seinen Filmen den Eindruck physischer Präsenz zu verleihen. Seine Filme sind voll von taktilem Schall: Gewehrschüssen, zugeknallten Autotüren, Möwenkreischen, Motorenlärm, dem Brausen der Brandung, dem Dröhnen von Flugzeugen - und penetrantem Telephonklingeln eben.
Wiederum zu Anfang eines Films (diesmal handelt es sich um Prénom Carmen) klopft Godard - er selbst spielt den Patienten einer Irrenanstalt - sämtliche Gegenstände seines Krankenzimmers ab. Debussy soll so Abschied von der Welt genommen haben. Mit einem Messer schlug er an Gläser: Der Klang als Beweis für die Körperlichkeit der Welt. „Mal vu“ hämmert Godard, kaum hat er die Welt auf ihren Schall hin abgeklopft, in seine Schreibmaschine. Doch genügt es ihm nicht, die Töne als Morsezeichen der Wirklichkeit seinen Filmen hinzuzufügen. Er will die ganze Leibhaftigkeit! Vor die Wahl gestellt, entweder blind zu werden oder seine Hände zu verlieren, würde dieser Filmemacher, wie er einmal gestand, allemal die Blindheit vorziehen!8 Also forciert er die Töne, bis sie einen fast anspringen; schneidet hart in die Klänge hinein, gleich, ob es sich dabei um Traktorgeräusche oder ein Streichquartett handelt. Denn je härter und willkürlicher der Schnitt, desto mehr physische Energie setzt er frei. Das lehrt die Erfahrung am Schneidetisch. „Ich will die Musik herausschnitzen“, hat er darum verlauten lassen, „Klangblöcke vorführen. Das interessiert mich: So weit zu kommen, daß ich den Klangraum aushöhlen kann. Schon beim Filmen von Instrumentalisten bekomme ich ein körperliches Gefühl von der Musik. Vor allem bei der Geige. Es sieht aus, als ob dort etwas herausgehobelt wird.“9
Im entleibten Schattenreich der filmischen Projektion geht der Klang gewaltsam auf die Suche nach dem verlorenen Körper. Aber die amputierte Sinnlichkeit des Kinos ist nicht wirklich wieder dranzuflicken. Man streichelt keine Brust dort, nur weil Schubert dazu klingt, und in die furios zugehauene Tür klemmt kein Zuschauer sich die Finger ein. Die körperliche Nähe ist eine fingierte, durch und durch künstliche.
Dennoch: Würde man einen Godardfilm mit einem Boxmatch vergleichen, so wären die Geräusche dort Schläge, die ausgeteilt werden und hart auf die Körper prallen, die Musik aber ähnelte mehr dem Tänzeln der Kontrahenten, bevor sie richtig zulangen. Ja, vielleicht ist es so am plausibelsten erklärt: Die Musik läßt die Schatten tanzen und verleiht ihnen auf diese Weise eine neue, die Wirklichkeit überhöhende Körpersprache. Übrigens: Condillac hat dieses Geheimnis schon vor zweihundert Jahren ausgeplaudert, als er beschrieb, wie die Musik „durch ihren Rhythmus unsere Körper anreizt, die Stellungen und Bewegungen der verschiedenen Leidenschaften einzunehmen.“10 Und das ganz konkret: Immer wieder verleitet das Hören von Musik, die Figuren in diesen Filmen zu tanzen. In allen Werken, in denen Godards ehemalige Lebensgefährtin Anna Karina die Hauptrolle spielt, wird getanzt, sobald in einer Szene Musik erklingt, und das wahrlich nicht, weil die Schauspielerin dafür eine auffallende Begabung mitbrächte. Noch in der viel später entstandenen Passion verleiten die Klänge von Dvoráks Klavierkonzert die in dieser Hinsicht auch nicht gerade von Apoll geküßte Hanna Schygulla zu einigen Tanzschrittchen, und umgekehrt sehen die wild-chaotischen Prügelszenen dort sofort wie Ballette aus, sobald Musik dazu klingt. Ich bitte Sie: Zeigt das nicht am schlagendsten, daß die Körperlichkeit, die die Klänge den Bildern verleiht, nicht länger von dieser Welt ist? Sobald sich Musik mit den Bewegungen der Personen auf der Leinwand synchronisierend verbindet, bekommen diese etwas Irreales, und mögen sie sich blutige Nasen dabei schlagen! Ihr Schattendasein, ihre Abwesenheit zur Zeit der Vorführung wird auf einmal betont. Das unterscheidet die Musik wieder von den Geräuschen und macht verständlich, warum Godard die beiden so pedantisch trennt: Was dem einen durch Aufdringlichkeit nicht gelingt, komplementiert die andere durch Entrückung.
IV
Die Bilder müssen sich bei Godard um die Klänge bemühen, nicht umgekehrt. Die Erzählfetzen, die vor allem den jüngsten Filmen ihren Verlauf geben, scheinen wie der Musik abgehört. „Das ist, was mich wirklich interessiert“, verriet Godard vor einiger Zeit einem Journalisten, „die Musik zu sehen, zu versuchen, das, was man hört, zu sehen.“11 Aber das ist leichter gesagt als getan, die Musik ist gar nicht so beredt, wie sie scheint. Was sehen Sie zum Beispiel, wenn Sie hören? Ich weiß, die Frage ist wenig seriös. Sie verspricht ebenso wissenschaftlich ergiebig zu werden, wie wenn ich fragen würde: Wie geht es Ihnen? Aber in der Kunst macht man manchmal die schönsten Entdeckungen, wenn man sich einfach blöd stellt und Sachen fragt, von denen alle sagen, daß sie nichts hergeben. Und wenn etwas die Qualität des Godardschen Schaffens charakterisiert, dann wäre es dies, daß hier ein unerreichter Virtuose des Mediums sich bei jedem Film von neuem einzureden scheint, er wüßte Hü von Hot nicht zu unterscheiden. Ein Schweizer Kameramann erzählte mir einmal, daß Godard ihm bei der Vorbereitung von Passion dauernd derart ahnungslose technische Fragen stellte, daß er, noch bevor der eigentliche Dreh anfing, das Handtuch warf. Stupiderweise muß man wohl sagen, denn dem bei jedem Film herbeigezwungenen Kraftakt, sich in einen Zustand der Unschuld und des Nichtbegreifens zu versetzen, verdankt das Godardsche Schaffen einen wesentlichen Teil seiner nicht ablassenden Erfindungskraft. Und es war denn auch mehr als ein Kalauer, als Godard dem larmoyanten Geständnis eines Kleinmeisters wie Woody Allen, beim Drehen gingen ihm jeweils die besten Ideen vor die Hunde, den kollegialen Rat gab, er solle halt so drehen, daß die Ideen sich nicht schon am Anfang, sondern erst am Schluß einstellen.
Also kann ich getrost meine Frage wiederholen: Was sehen Sie, wenn Sie hören? Ja, was sehen Sie, wenn Sie hören, Monsieur Godard?
„Ach, die Musik erzählt viele Geschichten und auf eine Art und Weise, die den Leuten sehr gefällt; sie schläfert ein und macht gleichzeitig wach. Aber wie man von einer Note zur anderen kommt und wie man eine Geschichte erzählt, das interessiert mich sehr.“12
„Mir beispielsweise kam die Idee des Banküberfalls“ - gemeint ist eine Szene in Prénom Carmen. - „beim Hören einer gewissen Stelle in Beethovens zehntem Streichquartett. Würden die Musiker aufhören zu spielen, ich hätte keine Ideen mehr!“13
Nun, letzteres mag vielleicht allzu höflich der Musik als Blut- und Organspenderin für das Godardsche Schaffen die Reverenz erweisen, - klar macht es dennoch, wie der Musik von diesem Cineasten eine Art Vor-Bild-Funktion eingeräumt wird. Musik geht bei ihm den Bildern voraus. Wie im Land der Blinden führen die Klänge die Ereignisse ans Licht, bringen sie zum Vorschein. Die Geschichte wird der Musik, zumal in einem Film wie Prénom Carmen, buchstäblich abgehorcht. Die Demonstration der Godardschen Methode gelingt hier besonders plastisch, weil die Musiker selbst dafür auf die Szene gebeten werden und so eine filmische Diagnose dieses Mit-Tönen-etwas-zum-Vor- schein-Bringen möglich wird. Es ist, als ob Godard, wie ein mit Stetoskop bewaffneter Arzt, der Musik gebietet, sich oben frei zu machen, und diese darauf im klinisch beobachteten Prozeß ihrer Erzeugung dem geschulten Ohr des Medikus keuchend und hustend Geschichte auf Geschichte auftischt.
Nehmen auch wir darum den Vorgang am Beispiel jener Streichquartett-Passage, in der laut Godard ein Bankraub stecken soll, einmal vor und beobachten, wie der musikalische Anschlag einen kriminellen freisetzen kann. Beim Hauptverdächtigen handelt es sich um den Durchführungsteil des ersten Satzes von Beethovens Opus 74, des sogenannten „Harfen Quartetts“, genauer gesagt um die Takte 77 bis Schluß. Gewiß, ein Banküberfall ist nicht unbedingt das allererste, was einem zu dieser Musik einfällt, aber davon einmal abgesehen, läßt sich nicht überhören, daß diese Stelle verschiedene dramatische Kurven durchläuft, die sie für filmmusikalische Zwecke durchaus verwendbar macht. Und in der Tat enthält schon das summarische Drehbuch zum Film einige ziemlich detaillierte Anweisungen, wie die Handlungsabläufe in der Bank mit den Klängen synchronisiert werden sollen. Da wird das Auftreten der Protagonistin taktgenau angegeben, oder es heißt etwa: „Das Schießen hat wieder angefangen, zusammen mit den schrecklichen und lärmenden Akkorden des zehnten Quartetts.“14 Und am Drehort war Godard, einem Augenzeugenbericht15 zufolge, peinlichst darauf bedacht, daß jeder szenische Ablauf rhythmisch und formal genau mit der von Band eingespielten Musik übereinstimmte. Immer wieder mußte die Darstellerin der Carmen eine Treppe synchron zu einer Pizzikatostelle hinabsteigen. Wenn auch das sich wegen des ohrenbetäubenden Ballerns der dazu abgefeuerten automatischen Waffen als eine schier unmögliche Aufgabe herausstellte.
Die pedantische Genauigkeit inmitten der Willkür kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sowohl Aufnahmeprotokoll wie Drehbuch eine recht konventionelle choreographische Umsetzung beschreiben. Der Arbeitsvorgang ähnelt jenem auf einer Musikbühne: die Musik wird gestisch nachgespielt. Im Film hat das allerdings den Nachteil, daß wegen des in diesem Medium größeren Gewichts des Bildlichen die Musik zu reiner Begleitung herabgewürdigt würde und Godards ursprüngliche Absicht, die Musik den Bildern vorausgehen zu lassen, für den Zuschauer nicht mehr nachvollziehbar wäre. Tatsächlich aber sieht die Szene, wie sie dann im Film erscheint, entscheidend anders aus. Die wichtigste Wandlung bewirkt das reale Erscheinen des Streichquartetts, und zwar - als weitere entscheidende Maßnahme - nicht in Form einer Konzertverfilmung, sondern eines halb dokumentierten, halb inszenierten Probenmitschnitts. Denn auf einer Probe muß sich die Musik zwangsläufig zum Szenischen hin öffnen: Dialoge treten auf, weil die Interpretation halt auch besprochen werden muß, und die Blicke und Gesten sind naturgemäß vielfältiger als während einer ununterbrochenen Aufführung. Damit hat der Filmemacher sozusagen schon einen Fuß in der Tür. Da bricht etwa der erste Geiger das Spiel ab und sagt: „Das ist die Durchführung. Jetzt wird es viel dramatischer.“ Und weil dazu die vor einer Bank patrouillierende Gendarmerie gezeigt wird, bezieht sich diese Bemerkung gleichermaßen auf die musikalischen wie auf die filmischen Ereignisse, die da kommen werden. So verwundert es auch nicht, daß ein ausgezählter musikalischer Auftakt nicht Musik in Gang setzt, sondern das Startzeichen für den Beginn des Überfalls liefert. Dadurch wird die Musik in eine neue Beziehung zu den Ereignissen gestellt. Das geht bis zu Wortspielen, etwa, wenn einer der Räuber „D’accord!“ ruft, als würde er neue Munition aus dem Musikzimmer anfordern. Auf der verbalen Ebene ist eine weitere Verkettung durch die Hereinnahme von Zitaten aus Beethovens Tagebuch gegeben, die von einer Bratschistin gesprochen werden. Im filmischen Zusammenhang wird etwa Ludwigs Hadern mit dem Schicksal zur Beihilfe zu kriminellen Handlungen profaniert, etwa, wenn es heißt: „Handle an Stelle zu fragen!“ was sich die Bankräuber denn auch kein zweites Mal sagen lassen. Die Bratschistin, die jene und ähnliche Aufrufe auf ihrem Pult liegen hat, ist die fünfte im Quartett und damit eindeutig überzählig. Godard hat sie unter die Spielenden gemischt, weil er, mit ihrer Hilfe, eine weitere musikalische Vorgabe zum Szenischen überdeutlich heraussteilen möchte: die gestischen Bewegungen des Musizierens. „Mit dem Körper!“ ruft der Primarius leitmotivisch schon zu Anfang des Films. Indem die Bratsche spielende Schauspielerin nur zum Schein musiziert, kann sie - die Gesten übertreibend - das einzig Sichtbare an Musik, ihre Erzeugung, hervorheben, um damit Aktionen auf der szenischen Ebene vorzubilden. Die Geste wird so die Fortsetzung der Musik mit anderen Mitteln. In der Banküberfallszene ist dieser gestische Bezug zwischen musikalischem und szenischem Spiel vielleicht weniger deutlich als in anderen. Für die später im Film auftauchende Liebesszene etwa hat Gilles Deleuzes in seinem philosophischen Standardwerk über das Kino, das er schlicht „Cinéma“ nannte, den Sachverhalt präzise beschrieben:
„In Prénom Carmen beziehen sich die Haltungen des Körpers fortwährend auf eine musikalische Geste, die jene unabhängig vom Verlauf der Geschichte aufeinander abstimmt, was die Haltungen aufhebt und in eine höhere Art von Beziehung zueinander stellt, aber zugleich all ihre Möglichkeiten freisetzt: Die Proben des Quartetts sind nicht darauf beschränkt, nur die Klangqualitäten des Bildes zu entwickeln und voranzutreiben, sondern auch die visuellen Qualitäten, in dem Sinn nämlich, daß die Kurve, die der Arm des Geigers beschreibt, die Bewegungen, die die Körper machen, während sie sich umarmen, verändert.“16
Godard selber hat das einmal überspitzt so formuliert, daß es in diesem Film „nicht wichtig (sei), ob man den Ton hört. Es ist die Bogenbewegung, die zählt.“17 Konsequenterweise wird das musizierende Quartett dann auch mal ohne Ton vorgeführt.
Doch damit ist das Beziehungsgeflecht immer noch nicht ganz aufgedröselt. Es bleibt noch zu untersuchen, wie sich das kompositorisch Vorgegebene zu dem gewissermaßen Nachgespielten verhält. Und da zeigt sich generell, daß, entgegen des Eindrucks, den Drehbuch und Beobachtungen am Drehort hinterließen, die musikalischen Ereignisse ihren szenischen Entsprechungen grundsätzlich vorgeschoben sind, was ja schon durch die Hinzunahme einer Quartettprobe präjudiziert wurde. Es entsteht eine Art kanonische Beziehung zwischen beiden. Am demonstrativsten hat Godard das in Nouvelle Vague bei den beiden Ertrinkensszenen vorgemacht, die die spiegelbildlichen Achsen der Handlung bilden. Hier erreicht die Musik ihren Höhepunkt, bricht gar ab, deutlich bevor das eigentliche Ertrinken vollzogen ist. So werfen die Bilder ihre Klänge voraus wie Schatten.
Aber zurück zu unserem Ausgangspunkt und jenem mit Beethovens Hilfe zu inszenierenden Banküberfall. Wenn wir jetzt eine analytische Synopsis der gesamten Sequenz, so wie sie in der Schlußmontage Gestalt angenommen hat, zu geben versuchen, dürfte schon in der komplexen Verzahnung der Mittel deutlich werden, mit welchem Einfallsreichtum hier auf den verschiedensten Ebenen Musik zum Animator der filmischen Arbeit gekürt wird: Zwei Polizisten bewachen eine Bank, einer von beiden ist, wie sich herausstellen wird, die männliche Hauptpersonen des Films, Joseph. In dem Moment, da dieser die Szene betritt, setzt die Musik ein - mit dem achten Takt der Durchführung, um genau zu sein.
Das Ostinato der Streicher untermalt das Auf und Ab der beiden Polizisten. Ihr kurzer Wortwechsel mündet in den Satz: „Nicht normal, was ist das?“ Dazu bricht die Musik abrupt ab, und die Szene wechselt zum Probenraum des Streichquartetts. Mit der Bemerkung „ein bißchen merkwürdig, ein bißchen gespannt“ setzt der erste Geiger, als würde er dem Polizisten antworten, den Dialog scheinbar fort. Gemünzt ist seine Replik allerdings auf die Musik, und wir stecken mitten in der Probe, in der kurz darauf der schon erwähnte Satz über die Durchführung fällt und „daß es jetzt viel dramatischer werden wird als üblich“. Worauf der ganze Anfang der Durchführung exakt bis zu jener Stelle, an der die Musik das erste Mal schon abbrach, vor laufender Kamera gespielt wird. Wir sind wieder da, wo wir zu Anfang waren, und konsequent wechselt die Szene zur Bank hinüber. Mit der Anweisung des Primarius: „Wir fangen wieder bei D an“, und seinem ausgezählten Auftakt nimmt weniger die Musik als vielmehr die Geschichte wieder ihren Anfang. Kleine faits divers stören den Polizisten Joseph in der Ausübung seines Bewachungsdienstes. Plötzlich kriegt er’s satt und feuert sein Gewehr in die Luft ab; was zugleich wiederum Startschuß für die Musik ist. Und abermals erklingt die Passage des Anfangs. Wir drehen uns musikalisch, wie der Polizist, im Kreise, treten zu Anfang der Durchführung auf der Stelle.
Dann schwemmt endlich die Welle eines Crescendos den Räuber in die Bank. Joseph wird überrumpelt, sein Kollege stürzt zu Boden. Synchron mit dem Aufprall ist die Musik kurz vor dem Erreichen ihres Fortissimo weggeschnitten worden. Die Bankräuber sind in den großen Schalterraum gerannt und halten mit automatischen Waffen Personal und Kunden in Schach. „Wir sehen uns in der Halle wieder“, ruft die Anführerin ihren Komplizen zu, — und wir befinden uns wieder bei Beethoven, zehn Takte später. „D’accord!“ antwortet der Ganove, kaum sind die ersten Töne hörbar. Dann ballert es zu Beethoven.
Bald darauf wechselt die Szene wieder zum Proberaum hinüber, wo jetzt die ersten 38 Takte der Durchführung, aller Dramatik zum Trotz und ohne weitere Unterbrechung, wiederholt werden. Eine ähnlich merkwürdige Dehnung einer aktionsgeladenen Stelle, bei der andere Regisseure dem Schnitt ein molto accelerando angedeihen lassen würden, haben wir ja schon bei der Montage des (Beinah-)Autounfalls in Nouvelle Vague feststellen können. Hier in Prénom Carmen wird aber deutlich, daß es sich dabei ebenfalls um ein der Musik abgeschautes Stilmittel handelt. Das alles erinnert doch verdächtig an die Gepflogenheiten bei einer klassischen Da-capo-Arie, wo selbst der aufbruchbereiteste Wüterich es sich nie nehmen läßt, des Zorngesanges Anfang in extenso, und mit Vorliebe noch figuriert, zu repetieren. Ähnlich wirkt das Einfrieren der Dramatik bei Godard; als würde jemand, der vom fünften Stock in den Tod springt, beim Sturz nochmal zurückblicken, um zu schauen, wie das Wetter so wird.
Doch zurück zum Proberaum, wo die Musik mittlerweile abgebrochen wurde und sich eine kleine Diskussion über ein Interpretationsdetail entspinnt. Darin spricht die fünfte Streicherin - unser Bogenstrich simulierendes stand-in - den schon erwähnten Beethoven-Satz vom Handeln-statt-Fragen, worauf die Szene wieder zur Bankhalle hinüberwechselt. Joseph schleicht bewaffnet durch eine Ansammlung verängstigter Kunden hindurch nach vorne. Dazu lärmt es, klingt Babygeschrei und - siehe da - ein weiteres Beethovenwort. Diesmal handelt es von der Erfüllung des Schicksals. So was zog schon immer Musik nach sich. Doch diesmal bricht sie sofort wieder ab. Dafür gibt es ein da capo beim Bankraub: Wir sehen nochmals die Einstellung, da Joseph nach vorne schleicht. Erst wenn er dabei ein Tischchen umstößt, legt auch die Musik wieder los, und zwar, den Rest der Durchführung überspringend, direkt mit der Coda. Die Pizzikati, die einst diesem Harfenquartett seinen zartbesaiteten Namen gaben, knallen jetzt wie Echos eines frenetischen Feuerduells durch die Halle. Schlimmer noch: Die Schüsse, die Bullen und Bankräuber miteinander dort wechseln, werden wie Lichtschalter benützt, die den wahrhaft schicksalsgeplagten Beethoven nach Belieben an- und ausknipsen. Aber, Geduld, Geduld, nach dem nächsten Startschuß für Opus 74 wird Garmen oben an der Treppe erscheinen, bewaffnet zwar und wild entschlossen, den ordnungshütenden Joseph mit Blei vollzupumpen, aber da ist das Magazin ihres Schießeisens am Ende, und darauf das seine auch, und so klicken die Schüsse, mit denen sie sich gegenseitig das Herz durchsieben wollten, ins Leere. Und treffen dennoch! Es ist Liebe auf den ersten Fehlschuß. Männchen und Weibchen lassen die Waffen fallen und werfen sich in die Arme. Zufrieden kann der alte Ludwig nach Es-Dur zurückkadenzieren und seinen Satz endlich zu Ende bringen.
Goethe hat einmal vom Streichquartett behauptet, daß man dort hören könne, wie sich „vier vernünftige Leute miteinander unterhalten“, und in einem verbreiteten Musiklexikon der Gegenwart wird die Gattung geradezu als das Beispiel per se „der idealen Weitsicht und des hohen Menschenbilds der Klassik“ hervorgehoben. Daß just das Streichquartett in Prénom Carmen zur Viererbande verkommt, die sich vom ersten Satz von Beethovens opus 74 zu einem Banküberfall inspirieren läßt, hat allerdings System bei diesem Meister der Profanierung. Seine von vielen gerügte Liebäugeleien mit den Ursprungsmythen des Christentums etwa sind, wenn man sie genau anschaut, äußerst listige Umpolungen - nicht unähnlich jenem Vorgehen von Zauberkünstlern, die sich gewisse Tricks aus dem Repertoire großer Vorgänger entlehnen, um ihnen, gerade dort, wo sie offensichtlich ausgeleiert sind, einen neuen überraschenden Dreh zu geben. Im Grunde ist schon das Vor-die-Kamera-Schleppen der Musik eine Profanie. Godard hat es immer wieder vorgeführt: Aus ihrer überlegen-behaglichen Position jenseits der Bilder ins Filmlicht gerückt, verhaspelt sich die schöne Cäcilia wie ein schüchternes Mädchen auf der Bühne einer Schulfeier, plappert nervös über Nebensachen, über Probenzoff und Bogenstriche, patzt liederlich, wie jener Klavierspieler, der in Weekend auf einem Bauernhof eine Mozartsonate herunterklimpert, stößt ab, wie jene durch leichte Sicht von unten betont schlechten Zähne der Sängerin in Soigne ta droite, wirkt apathisch wie die Rolling Stones in One plus one, oder eben bloß medioker, wie das mit Dattervibrato ausgestattete Pratquartett in Prénom Carmen. Vor die Kamera gezerrt, wandeln sich die Engel in Kanalarbeiter. Nur unbeobachtet in ihrem akustischen Jenseits kommt die Musik ungebrochen zu sich und kommentiert in ihrer nur schwer entschlüsselbaren Fremdsprache die Bilder. Während sie in Passion etwa im off mit Chören, Solisten und großem Orchester hantiert, tritt sie auf der Szene nur in Form einer winzigen Mundharmonika auf, die dann auch bald auf den Wecker geht. Und im Streichquartett von Prénom Carmen reduziert die stand-in-Dame im Ensemble den Musizierakt auf eine fast einfältige Zirkelbewegung des Bogens - ebensowenig wie das lapidare Gefinger an den Tasten eines Flügels in Nouvelle Vague fern von dem ist, wozu die Musik des off fähig ist. Wie widerwillig ins Bild gezerrt, wird die Musik dort sofort einem Entkleidungsakt unterzogen. Das Resultat ist so ernüchternd wie das Aufschlitzen einer Ziehharmonika in Hermann Burgers „Diabelli“-Erzählung, wo der Ich-Erzähler auch „ein für allemal wissen wollte, woher diese Musik kam, die mich zu Tränen rührte“, um im zerstörten Instrument enttäuscht „nur staubige Falten, faule Luft“18 zu entdecken. „Soviel Mühsal für eine simple Gitarrenmelodie!“ staunt denn auch der Off-Sprecher über die Probenwirren der Rockgruppe „Les Rita Mitsoukos“ in Soigne ta droite.
Also keine voreilige Versöhnung, keine Kumpanei zwischen Ton und Bild, kein frivoles Fraternisieren im schützenden Dunkel des Kinos! Und dennoch: „Ach, Frau Nachbarin, wie vieles verbindet uns hier.“ Und wenn es nur die Geste wäre! Die Geste? Aber klar doch! Sie ist das einzige konkrete Verbindungsglied, über das sich ernsthaft reden läßt in dieser Mesaliance. Denn in der Geste sind beide verbunden, die im Klang aufgehobene Körperlichkeit der Musik und jene Schattenleiber des Films. Der demonstrativ kreisende Bogen in Prénom Carmen macht bloß plakativ sichtbar, was ohnehin in den Klängen steckt.
„Ich sollte auf die Arie Et incarnatus est üben“, berichtet Hanna Schygulla über die Probenarbeit zu Passion, „mit dem Kopf zu dirigieren, so als ob die Musik aus meinem Kopf herauskäme. Und nachher wollte Godard den Jerzy hinzunehmen und wollte daraus eine Liebesszene machen. Er hat mir das Mit- dem-Kopf-Dirigieren vorgemacht. Ich habe dann verstanden, was er meint, diesen Ausdruck wie auf manchen Gemälden, etwa in der Kirche, wenn der Kopf nach hinten kippt. Dann kommt so eine gewisse Entrücktheit rein, ein ekstatischer Ausdruck. Ich soll aber mit Musik beschäftigt sein und nicht damit, Extase auszudrücken.“19 Schygullas Bericht zeigt anschaulich, wie Godard die Geste als Scharnier zwischen Klang und Bild benützt. Aber die Szene im Film geht noch einen Schritt weiter. Das von Musik genährte Gestikulieren, das die Schygulla beschreibt, ist nämlich nicht direkt im Film enthalten, sondern erscheint, als Videoaufzeichnung, auf einem Bildschirm. Und dem schauen die beiden Darsteller auf dem Bettrand sitzend wieder zu. So verdoppelt sich auf merkwürdige, scheinbar überflüssige Art ein und dieselbe Situation. Es sei denn... Es sei denn, man faßt diese szenische Verdoppelung als eine weitere Visualisierung der Beziehung zwischen Musik und Bild auf. Auf dem Schirm ist in der Gestik der Schygulla der Mozartsche Satz filmisch vorgeformt, aber sie hat noch keine Geschichte. Erst die Projektion dieser sichtbar gemachten Musik in den eigentlichen szenarischen Raum kann diesen Übertragungsakt des musikalischen Gehalts in Handlung zu Ende führen. Mit anderen Worten: Die ganze Szene ist eine Metapher für die Beziehung zwischen Musik und Film, so wie Godard sie erträumt: Mittels einer Visualisierung des Klangs hofft er optisch in Bereiche vorzudringen, die bis dahin nur der Musik Vorbehalten sind, und die wir, wie T. S. Eliot einmal ausdrückte,
„sozusagen nur mit den Augenecken ausfindig machen können und die wir nie richtig in den Schärfebereich des Blickes bekommen. In solchen Augenblicken stoßen wir an die Grenzen jener Gefühle, denen nur Musik Ausdruck verleihen kann.“20
Es sieht ganz danach aus, als mühe sich Godard nicht vergeblich ab. Und dennoch: Was er auch immer versuchen wird an Überlistungen, Vergewaltigungen, Verführungen und Zwangshochzeiten - die Ferne des Klangs im filmischen Raum, ihre Fremdheit wird bleiben. Die Musik weht von draußen herein in das filmische Gehäuse wie des Nachbarn Radio. Und wenn sie sich auch Mühe gibt, sich auf die Ereignisse dort ernsthaft einzulassen, bleibt immer ein Hauch von Unbeteiligtsein, ja Exotik haften, als wäre sie eine Thai-Tänzerin in einer helvetischen Bierschenke. Schlimmer noch: In King Lear klingt es geradezu, als wäre die Musik eingeschlafen unter den Bildern, als ob sie ihren Schatz, wie der Drache in Wagners „Siegfried“, auch schnarchend sicher horten kann. Fast bis zum Stillstand hinuntertransponiert, verstärkt sich ihr vorsprachlicher Charakter, was noch dadurch betont wird, daß auch Sprachaufnahmen zu einem in unverständlicher Tiefe raunenden Brei verlangsamt wurden. Nur selten reckt sich der Klang in die Höhe und gewinnt, für kurze Zeit, sprachähnliche Gestalt.
In diesem King Lear, dessen kahle Wälder von Möwengeschrei und Vogelzwitschern geradezu übervölkert sind, erklingen immer wieder auch Kirchenglocken. Während aber früher die Klangzeichen in ihrer möglichen Bedeutung nie explizit gemacht wurden, wird bei dem Kirchturmläuten der beabsichtigte Symbolgehalt expressis verbis mitgeliefert. Die Glocken erklingen nämlich immer dann, wenn Godard selbst in der Rolle des verrückt gewordenen Bilderforschers die Szene betritt. Gegen Ende des Films holt er zu einem größeren theoretischen Diskurs über das Kino und seine Bilder aus, worauf er, begleitet von den zu schierer Unkenntlichkeit verlangsamten Eröffnungsklängen der Matthäuspassion, das Zeitliche segnet. Kaum ist er tot, ertönt, inmitten eines Chors von Vogelstimmen, das Kirchturmläuten wieder, und eine Off-Stimme sagt:
,Ja, es waren Osterglocken. Die Bilder waren da wie neu, unschuldig, schüchtern und stark. Jetzt verstehe ich, daß dieses blutige Opfer nicht umsonst war. Jetzt verstehe ich durch seine Wörter die Wörter, die Paulus sprach, daß das Bild zur Zeit der Auferstehung wieder erscheinen wird.“
(Das neue Bild, nebenbei, das da entsteht - Lear trauernd über der Leiche seiner toten Tochter -, ist genau genommen gar kein neues, sondern, inklusive des aufgeschreckten weißen Pferdes, eine Neufassung des berühmten „Alptraum“-Bildes, das Johann Heinrich Füßli im Jahre 1751 malte. Godard liebt halt die logischen Kopfstände! Aber das - wie gesagt - nur nebenbei.)
Kehren wir lieber ein letztes Mal zurück zu den unterschiedlichen Funktionen von Musik und Geräusch in diesen Filmen.
Das Geräusch in einem Godardfilm verhält sich zur Musik wie die Schale zum Weichtier. Wie ein Lärmschild legen sich die Geräusche immer wieder über die Klänge. Statt zu untermalen, übermalt der Ton oft die Bilder, übermalt sie grau mit Rauschen, bewirkt so eine Verstopfung der Kommunikationskanäle durch das Zuviel an Strandgut, das sich da ansammelt; wie die Anhäufung von Sentenzen und schönen Sprüchen zu richtigen Schutthaufen des Unentzifferbaren. Immer wieder betäubt Lärm die Bilder, verschlammt den Film. Die Musik dagegen, ach, die Musik ist bei Godard ja von einer fast altmodischen Reinheit; sie wischt die Optik jeweils wieder makellos sauber. Die Putzfrau Cäcilia fegt die von unzähligen Zeichen verdreckten Bilder wieder rein. Entsemantisierung heißt ihr Fensterleder. Mit ihr legt sie jenseits des mit Zeichen bis zum Bersten aufgeladenen filmischen Diskurses Orte der Mehrdeutigkeit frei, schafft weitgehend neutralisierte Schalträume der formalen Gestaltung, in denen wenigstens vorübergehend die Besetzung der Bilder aufgehoben ist.
Reinigung und Verschlammung, ja, so in etwa hat sich die Arbeitsteilung zwischen Aschenbrödel und ihrer lärmenden Schwester im Filmhaus der Stiefmutter eingespielt. Godard ist da wie Diderot: Ein Chaotiker und Ordnungsfanatiker in einem. Beide verstehen, wie kaum ein anderer, die Kunst, gerade die Beliebigkeit als unabwendbar, die Abschweifung als zwingend und die Verschwendung als ökonomisch erscheinen zu lassen.
Die Reduktion der gesamten Tonmischung auf zwei, statt der üblichen 15 bis 30 Tonspuren, die er u. a. in Sauve qui peut betrieb, ist eine ebenso radikale wie willkürliche Methode, das Chaos zu ordnen. Sie wird beiden gerecht: Dem Chaos durch die Willkürlichkeit der Methode und der Ordnung durch die rigorose Selbstbeschränkung. Denn wie man es auch wenden und drehen mag: Ein Godard-Film bleibt von seiner Grundstruktur her eine höchst paradoxe Angelegenheit: Weltoffen bis zur Beliebigkeit, dem Inhalt nach, ist seine Form eine betont geschlossene. Konsequenterweise, denn auf Zelluloid oder irgendeinen anderen Bildträger gebannt, gerinnt auch das Endlose zwangsläufig zum Gehege. Die Montage, Godards eigentlicher Kompositionsakt, buchstabiert diesen Widerspruch immer wieder aus: Die unvermeidlich endgültige Festlegung des Bildmaterials im Schnitt wird durch eine arithmetisch anmutende Perpetuierung und Einkreisung des Materials zusätzlich verstärkt. Dagegen wird durch eine betonte Willkürlichkeit und eine Tendenz, Einstellungen weit über ihre dramaturgisch notwendige Länge hinaus stehen zu lassen, so viel wie möglich von dem Gefühl der Unendlichkeit und der ungefilterten Weltoffenheit wieder hergestellt. Schnittpunkt dieser paradoxen Montage des Offen-Geschlossenen ist eindeutig die Musik. Sie bildet in und aus sich heraus die beiden Extreme des Widerspruchs. Denn sie ist es zwar, die am prägnantesten dem Film Einheit verleiht - sei es dadurch, daß ihr Tonfall im Ausdruck auffallend eingeschränkt wird, sei es durch die filmischen Parameter bestimmende Anwendung ihrer R