HANSJÖRG PAULI

EIN BLINDER FLECK DER FILMMUSIKTHEORIE

ESSAY

Ein vielgeschmähtes Beispiel zum ersten: Der Tod in Venedig von Luchino Visconti mit dem Adagietto aus Mahlers 5. Sinfonie.1

Das Stück setzt ein mit Beginn des Films. Wer es nicht kennt, mag es mit Filmmusik verwechseln - wofern er zum Stichwort Filmmusik einigermaßen zwanghaft assoziiert, was in Hollywoods Studio-Ära diesbezüglich produziert wurde. Wohllaut, Streicherklang, hauptstimmen-orientierter Satz, spätromantisch-gefühlvolle Melodik, klar tonale harmonische Verhältnisse: das alles paßt ins Bild, das man sich so macht. Wer es dagegen kennt, weiß nicht recht, was er sich denken soll. Schöne Musik, als akustischer Vorgeschmack auf die Schönheiten Venedigs (die freilich noch nicht ins Blickfeld gerückt sind)? Mal sehen.

Später eine Rückblende: Aschenbach, nach seinem Zusammenbruch, in München; im Zimmer steht ein Flügel, an dem sein Freund und alter ego Alfried das Adagietto anspielt, während er, Aschenbach, von der Sanduhr in seines Vaters Haus erzählt, und davon, wie die Zeit verrinne, unmerklich zunächst, und dann immer schneller. Die Musik ist Bestandteil der Szene, Bildton, steht von ihrer Erscheinungsform her auf gleichem Niveau wie Aschenbachs Monolog: man sieht Alfried spielen, man sieht Aschenbach sprechen - Filmmusik ist das nicht (und klingt ja auch nicht so), sondern selber Rede.

Noch später, und wieder in Venedig: Wir, die Kinobesucher, wissen inzwischen, wie es um Aschenbach steht, daß er dem schönen polnischen Knaben Tadzio verfallen ist, sich zu verlieren droht an Gefühle, Leidenschaften, die er aus seinem Leben getilgt zu haben glaubte; dieser Gefahr kann er sich nicht aussetzen; weg, so schnell wie möglich! Ein Motorboot bringt ihn über den Canale grande zum Bahnhof. Dazu das Adagietto jetzt wieder im Original, für Streicher und Harfe. Und schon an dieser Stelle kehrt es keineswegs mehr nur Schönheit nach außen, sondern hört sich (zumindest auch) an wie eine klingende Metapher auf Aschenbachs Verfassung: die metrisch-rhythmischen Unregelmäßigkeiten, in der Harfe (Wechsel von Duolen und Triolen, nicht selten mit Pausen auf den betonten Taktzeiten), in den grundierenden Stimmen der tiefen Streicher (Celloeinsatz erst auf dem zweiten Viertel von Takt 2, nachdem die Bratschen regulär auf dem ersten bzw. dritten von Takt 1 eintraten), im Einstieg in die Melodie der ersten Violinen (molto ritenuto) - sie verhindern, daß die Musik zu schnell Tritt faßt; das ist, als wenn einer keinen festen Boden mehr unter den Füßen hätte, etwa im tiefen Sand ginge, und der Sand rutschte ihm bei jedem Schritt weg.

Auf dem Bahnhof entdeckt Aschenbach, daß die Gepäckstücke in die verkehrte Richtung weitergeleitet worden waren; er nimmt’s als ein Zeichen des Himmels und beschließt, genauso überstürzt, wie er die verfrühte Heimreise beschlossen hatte, zurückzufahren ins Hotel am Lido. Das Adagietto, das mit der Bahnhofsszene abbrach, wird wieder aufgegriffen und weitergeführt; es legt sich wie eine Klammer um die beiden komplementären Episoden, die Aschenbachs Zerrissenheit unmittelbar sinnfällig machen. Verheißt die Schönheit der Musik dem Zurückkehrenden nun Glück, das Glück, das ihm bislang versagt geblieben ist?

In voller Länge erklingt das Adagietto im letzten Drittel des Films, und einzig hier - zu einem Zeitpunkt, in dem kein Zweifel mehr bestehen kann, daß es Aschenbach, dem Liebenden, verwehrt bleiben wird, das Glück zu finden: daß er unfähig ist, seinen Gefühlen nachzugeben, sie zu leben. Da sitzt er denn beim Friseur, läßt sein Aussehen mit Hilfe von Salben und Schminken verjüngen; gleich wird er sich Tadzio an die Fersen heften, auf dessen Gängen durch die Stadt, von der er mittlerweile weiß, daß eine Cholera-Epidemie über sie hereingebrochen ist. Und wieder erfahren wir die Musik partiell anders: als eine klingende Metapher jetzt auch auf Aschenbachs Verhalten. Der Vordersatz der Melodie, einprägsam, stellvertretend damit fürs Ganze, besteht aus einer Kette von kleinen Phrasen, deren jede auftaktig, mit einem Einatmen, einem Luftholen, beginnt; dem müßte ein Sich-Verströmen, Sich-Aussingen folgen; dazu kommt es nicht: die ersten vier Phrasen werden allesamt kurzgeschlossen, gekappt. Sie münden nach einem, spätestens zwei Takten in einen dissonierenden Vorhalt, bleiben einen Augenblick noch in der Schwebe, um sich dann nach allen Regeln der Kunst (bzw. Harmonielehre) aufzulösen, leit- tönig nach oben oder mit einem Sekundschritt nach unten; das ist, als wollte einer ausbrechen und würde, kaum hat er die ersten Schritte getan, zurückgepfiffen: ein Opfer eingeborener Konventionen.

Je weiter die filmische Erzählung fortschreitet, um so mehr entnehmen wir der Musik. Was wir ihr entnehmen, steckt in ihr drin, ist nicht an die filmische Erzählung gebunden, wird lediglich durch deren Fortschreiten hervorgetrieben.

Ein wenig beachtetes Beispiel zum zweiten: Barry Lyndon von Stanley Kubrick, unter anderem - wie gleich deutlich werden wird: unter sehr vielem anderem - mit dem (verkürzten) Andante con moto aus Schuberts Klaviertrio in Es-Dur [D929].2

Jugend in Irland: irische Musik, teils authentisch, teils nachgeahmt; traditionelle Instrumente, durchweg zu zweien gruppiert. Dazwischen eine dreistimmige Ballade für Flöte, Harfe und Fiedel. Sie begleitet eine erste Szene, in der von des mittellosen Redmond Barrys Liebe zu seiner Cousine Nora Brady die Rede ist (buchstäblich: nämlich im Kommentar) und gezeigt wird, wie Nora mit dieser Liebe spielt; sie wird wiederholt zum Geturtel zwischen Nora und dem begüterten englischen Captain Quinn, dem älteren Rivalen, mit dem sich Barry schließlich schießt und den er, wie er annehmen muß, im Duell tötet - nun wähnt er die Schergen hinter sich her und flieht.

Als englischer Soldat im Siebenjährigen Krieg beginnt er seine Laufbahn: dazu „British Grenadiers“ und ähnliches, militärische Umgangsmusik, gepfiffen und getrommelt. Lange hält es Barry jedoch nicht beim gemeinen Fußvolk. Er desertiert, zieht hoch zu Roß in der gestohlenen Uniform und mit den Papieren eines englischen Offiziers in preußisch besetztes Gebiet ein: dazu der „Hohenfriedberger Marsch“ mit großem Militärorchester. Auf dem Weg eine flüchtige Affäre mit Lieschen, einer jungen deutschen Frau; dazu, und auf Anhieb eher überraschend (weil im Widerspruch mit dem Prinzip der regionalen und/oder sozialen Entsprechung, dem bis dahin die Auswahl der Musiken folgte), eine weitere Wiederholung der Trio-Ballade aus dem irischen Teil.

Die Preußen entlarven Barry, zwingen ihn, nun wieder als einfachen Soldaten, in ihre Dienste; der „Hohenfriedberger“ wechselt konsequenterweise von der Darbietungsform zurück in die Umgangsform: getrommelt und gepfiffen untermalt er ein Scharmützel, in dem Barry seinem Hauptmann Potz- dorf das Leben rettet. Dann geht der Krieg zu Ende. Dank Potzdorfs Fürsprache und Beziehungen wird Barry vom preußischen Polizeiminister als Spitzel eingestellt; ab sofort verkehrt er in besseren Kreisen — schon zu den ersten Bildern aus seiner neuen Umgebung hören wir zwar immer noch Marschmusik, indessen höfische und nicht mehr militärische: aus dem 2. Akt von Mozarts „Idomeneo“.

Der Chevalier de Balibari, Lebemann, Spieler, mutmaßlicher Spion im Dienste Österreichs, auf den Barry angesetzt wird, erweist sich bei näherem Zusehen als gebürtiger Ire: Grund genug für Barry, sich ihm anzuvertrauen. Die beiden tun sich zusammen, überlisten die preußische Polizei, verlassen Potsdam, ziehen als Glücksspieler durch Europa - zu einer ersten, intimeren Szene am Kartentisch die Cavatina aus Paisiellos „II Barbiere di Siviglia“ (adaptiert, mit eingezogener Singstimme), zu einer zweiten, personenreicheren, die nämliche Cavatina im Original, zur dritten und letzten im Spielcasino von Spa dann der langsame Satz aus dem Schubert-Trio. Warum nicht mehr die Cavatina? Weil es nicht mehr in erster Linie ums Glücksspiel geht und um die jungen Herren von Familie, die sich damit die Langeweile vertreiben, vielmehr um Redmond Barry, der das Reisedasem satt hat, nach einem Leben in einiger Ruhe (und einigem Luxus) begehrt, am liebsten inmitten des englischen Adels, und, um dahin zu gelangen, der ebenso reichen wie schönen Lady Lyndon zielstrebig den Hof zu machen beginnt - auf den baldigen Tod ihres um vieles älteren und bereits ziemlich klapprigen Gatten vertrauend.

Warum aber ausgerechnet Schuberts Trio-Satz? In diesem Satz laufen an dieser Stelle der filmischen Erzählung drei Entwicklungsstränge ineinander.

Als ein Stück Kammermusik steht er ein für die nach allgemeiner Übereinkunft vornehmste Sparte der autonomen Musik, was nach wie vor weitherum heißt: der Musik schlechthin. Getreu dem mit großer Konsequenz exponierten und bis dahin nur ein einziges Mal markant durchbrochenen Schema der Auswahl und Zuordnung der Musikstücke signalisiert er den Aufstieg des Abenteurers Redmond Barry in die höchsten Sphären der Gesellschaft.

Zugleich reiht er sich ein in die Reihe der Marschmusiken: nach den englischen und preußischen, nach dem (seinerseits wiederholten) Mozartschen Marsch prägt sich der Marsch-Duktus der einleitenden Klaviertakte (2/4-Andante, in Achteln artikuliert, staccato, das vierte Achtel in punktiertes Sechzehntel sforzato mit nachfolgendem Zweiunddreißigstel aufgelöst) stärker ein und klingt länger nach als in Konzertaufführungen, in denen beiläufig das Tempo nicht selten verschlampt wird. Die englischen Märsche, die preußischen, der Mozartsche mit, begleiteten aber Szenen, in denen Redmond Barrys Tun und Treiben darin bestand, daß er Befehle entgegennahm und ausführte. Der Marsch-Duktus des Schubertsatzes deutet damit an, daß Barry noch da, wo er sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen vermeint, fremdbestimmt bleibt - wie der zweite Teil von Kubricks Bilderbogen zeigen wird. Er ist Denk- und Verhaltensmustern ausgeliefert, die nicht die seinen sind, deren Herkunft er auch nicht durchschaut und an denen er deshalb zerbricht.

Als Komposition für drei Instrumente schließlich verbindet sich das Schubertsche Andante mit der irischen Trio-Ballade des Anfangs. Die Verbindung kommt, über die beträchtliche Zeitspanne hinweg, die seine erste Verwendung von der letzten der Ballade trennt, zustande dank der Identität der Situationen: Beziehungen in jedem Fall zwischen Mann und Frau. Die Ballade erklang zu den Szenen zwischen Nora und Barry, Nora und Captain Quinn, Barry und Lieschen, und profilierte sich dabei nicht etwa bloß als Begleitmusik zu Liebesszenen, sondern als Chiffre für (fingierte) Liebe aus Berechnung. Diese inhaltliche Besetzung teilt sich dem Schubertschen Andante mit. Nicht, weil sie in der Musik schon drin stecken würde; im Gegensatz zum oben erwähnten Marsch-Duktus hat sie mit dem Text, dem Notentext nicht das geringste zu tun; sie verdankt sich ausschließlich der Einbindung in einen aus Bildern und Tönen entsprechend gefügten Zusammenhang.

Daß in einer Musik, die auf dem Prinzip der Entwicklung aufbaut, die Wiederkehr eingangs exponierter Motive, Themen, Klanglichkeiten nicht als pure Repetition erfahren wird (nicht einmal da, wo es sich um textgetreue Wiederkehr handelt), ist eine Binsenwahrheit. Entwicklung hinterläßt Spuren; die Spuren haften an den Figuren, über die der Prozeß hinweggegangen ist oder an denen er vollzogen wurde; wo die Motive, Themen, Klanglichkeiten wieder in ihrer ursprünglichen Gestalt auftauchen, nachdem sie einzeln weitergesponnen oder miteinander gekreuzt, ineinander überführt, auch nur aufeinander losgelassen wurden, geben sie mehr preis und anderes als zuvor.

Was für die Musik gilt, trifft selbstverständlich auch auf die Filmbilder zu. Sinnstiftende und sinnverändernde innermusikalische Vorgänge haben ihr Gegenstück in innerfilmischen Vorgängen wie der Ausprägung einer spezifischen Bilderwelt und -spräche. Darüber hinaus konkretisiert sich in den Bildern eine Story, die ihrerseits fast immer auf Entwicklung gründet, somit einen dramaturgischen Prozeß in Bewegung setzt, der auch gleich wieder den innerfilmisch aquirierten Sinn von Einstellungen und Arrangements modifizieren kann. Und es trifft zu auf das Verhältnis zwischen visueller und akustischer Schicht. Nicht nur sind weder Bilder noch Töne stabile Zeichen, sondern es können Zuordnungen von Tönen zu Bildern Färbungen annehmen, die sich weder aus den Tönen noch aus den Bildern noch aus ihrer Verbindung allein erklären lassen, sondern einzig aus der Stellung beider und ihrer Koppelung im narrativen Kontext.

Merkwürdigerweise hat die Filmmusiktheorie davon bis heute kaum Notiz genommen. Sie operiert fast ausnahmslos mit einem statischen Form-In- halts-Modell. Noch der Grund-Satz aus Zofia Lissas Ästhetik der Filmmusik, wonach die Bilder die zugehörige Musik vergegenständlichen, während im selben Zug die Musik die Bilder verallgemeinert3, lädt förmlich dazu ein, in vertikalen Schnitten zu denken. Obschon er nicht so gemeint war.

Verständlich wird solche Fixierung freilich aus dem Gang der Geschichte. Filmmusik ist ins Gespräch gekommen (und innerhalb von wenigen Jahren kodifiziert worden) etwa zur selben Zeit, in der entstand, was man gemeinhin als Filmsprache bezeichnet: Montage also, der die Fragmentierung der Szenen in wechselnde Einstellungen vorangeht - nachdem die vom Theater übernommene Fragmentierung einer Story in eine Abfolge von Szenen bereits bei Méliès den Beginn des Erzählens überhaupt angezeigt hatte. Genaugenommen gab es dergleichen zwar schon früher (wie es die musikalische Begleitung von Filmen schon gegeben hatte, bevor sie Gegenstand verbaler Erörterung wurde): Man erinnere sich an Porter, an die legendäre Schule von Brighton. Heute weiß man, daß ähnliche Versuche auch anderwärts, ja eigentlich fast allenthalben unternommen wurden. Gebündelt wurden die Ergebnisse indessen doch wohl erst mit der Industrialisierung (und Internationalisierung) des Filmwesens, mit dem Durchbruch des exportbestimmten Langspielfilms, in den Jahren also um 1910; wie rasant es danach (und als Folge solcher Bündelung) weiterging, bei Griffith beispielsweise, ist bekannt.

Daß auch die Kodifizierung der Filmmusik mit der Industrialisierung des Filmwesens in engstem Zusammenhang gesehen werden muß, und insofern mit der Herausbildung der Filmsprache nicht nur zeitlich koinzidiert, habe ich an anderer Stelle dargelegt.4 Ich möchte hier zusätzlich die These wagen, daß sie jene maßgeblich beförderte (wobei von „wagen“ streng genommen nicht die Rede sein kann: Es gibt zur frühen Filmmusikpraxis nur wenige Zeugnisse, so daß sich die These kaum widerlegen läßt - allerdings auch nicht verifizieren).

Das Publikum der Penny Arcades und Nickel-Odeons von anno dazumal war alles andere als kunstsinnig; soviel steht fest. Daß da etwas von Grund auf Neues entstand, vor seinen Augen, war ihm unwichtig; wenn es, wie im Zusammenhang mit Porters Pioniertaten berichtet wird, auf einzelne Einstellungen direkt ansprach5, so heißt das noch nicht, daß es das Prinzip (der Fragmentierung der Szenen in Einstellungen) akzeptiert, auch nur begriffen hätte - eher das Gegenteil. Aus den Bilderfolgen die Szenen zu rekonstruieren, derweil die Erzählung ihren Fortgang nahm, dürfte ihm einige Mühe bereitet haben, und zwar um so größere Mühe, je länger die Erzählungen wurden und je komplizierter und kurzteiliger ihre Auflösung.

Den Pianisten jedenfalls, die in den Nickel-Odeons für die Musikbegleitung sorgten, machte das zu schaffen. Das läßt sich der Tatsache entnehmen, daß die ersten Hilfsmittel, die ihnen die Filmindustrie selbst an die Hand gab, die ersten cue sheets, die Edison Kinetogram im Herbst 1909 veröffentlichte, nicht etwa bestimmte Musikstücke vorschlugen, also noch nicht in die Repertoire-Bildung eingriffen, sondern offenbar Dringlicheres leisteten: Sie benannten die Szenen, aus denen sich die jeweils neu erschienenen Filme aufbauten, bestimmten deren Charakter, und verlangten, daß jede Szene von einem Stück untermalt werde, dessen Dauer der Dauer der Szene und dessen Charakter dem Charakter der Szene entspreche. Die Differenzierungen aber, die die cue sheets bereits ein halbes Jahr später einführten, betrafen neben dem Bereich des musikalischen Repertoires immer auch den der szenischen Gliederung. Wo eine Szene beginnt und wo sie endet, wurde fortan nach dem Muster „von (Zwischentitel oder Einstellung) bis (Zwischentitel oder Einstellung)“ unmißverständlich festgehalten. Dabei fällt auf, daß szenische Einheiten bald als solche des Affekts und nicht des Orts der Handlung definiert sind.

Es hat tatsächlich den Anschein, als habe in der Frühzeit der Filmmusik deren erste und wichtigste Aufgabe darin bestanden, zuhanden des Publikums hinter der rasch sich verdichtenden Flut der Bilder und Einstellungen die Szenen wieder sichtbar (oder hörbar, spürbar) zu machen. Das aber könnte bedeuten, daß — im Gegenzug - den Regisseuren das Bewußtsein, auf die gliedernde und ordnende, mithin auch zusammenfassende Kraft der Musik vertrauen zu können, die Freiheit gab, die Technik der Montage weiter voranzutreiben. Ich spekuliere, gewiß - nur: daß gerade Griffith sich bis in Einzelheiten um die musikalische Ausstattung seiner Filme kümmerte, und nach ihm wieder Eisenstein, ist vielleicht doch mehr als ein Zufall.

Wie auch immer: Vollends festgeschrieben wurde die Tendenz, die Zuordnung von Tönen zu Bildern und überhaupt jegliche Form der audio-visuellen Beziehung schlicht in vertikalen Schnitten und rein statisch zu denken, als die vom Verleih ausgelieferten cue sheets ins Hintertreffen gerieten gegenüber verlagsgebundenen Hilfsmitteln, die nicht mehr werkspezifisch, sondern szenenspezifisch konzipiert waren - gemäß der Einsicht, daß die Fülle filmischer Neuerscheinungen sich allemal zurückführen lasse auf eine beschränkte Zahl von Standard-Szenen, daß es deshalb ausreiche, zu solchen Standard-Szenen Standard-Begleitmusiken anzubieten, und daß man deren detaillierte Auswahl und Verknüpfung je nach den Erfordernissen der anfallenden Filme getrost den Kinomusikern überlassen dürfe. Den Anfang machten 1913 die ersten Bände der Sam Fox Moving Picture Music. Giuseppe Becces Kinothek griff nach 1919 die Anregung auf und baute sie aus; das Allgemeine Handbuch der Filmmusik von Erdmann, Becce und Brav systematisierte sie, auch gleich sichtend, was dazu inzwischen geleistet worden war (1927, als in den USA schon der Tonfilm ins Gespräch kam). Das Verfahren unterschied sich im übrigen mit Blick auf den ästhetischen Ansatz in keiner Weise von der Praxis der cue sheets (die denn auch, sowie Kinomusik-Sammlungen in genügender Zahl Vorlagen, von deren Offerten fleißig Gebrauch machte); insbesondere blieb es dem Prinzip der Illustration (der Bilder durch die Musik, oder genauer gesagt der szenischen Charaktere durch musikalische Charaktere) so verhaftet wie jene.

Wenn von der Methodik her die Kompilation von Stummfilmmusik aus Kinotheken anders als in strikter Fixierung auf die Vertikale gar nicht hätte funktionieren können, so beinhaltete die konkrete Arbeit (des kompilierenden Kinomusikers) indes auch schon Schritte, die sehr wohl den Blick auf die Horizontale hätten lenken können. Ich kenne kein zeitgenössisches Kompilat, in dem nicht Musikstücke mehrfach verwendet würden - ob aufgrund bescheidener künstlerischer Erwägungen oder nur, um den (Proben-)Aufwand in Grenzen zu halten, mag dahingestellt bleiben. Mehrfachverwendung aber heißt Wiederholung. Und Wiederholung gibt es - siehe oben - streng genommen nicht, schon gar nicht, wo erzählt wird.

Die filmmusikalische Theoriediskussion der zwanziger Jahre nahm davon keine Notiz, obschon sie zumal in Deutschland beachtlichen Rang erreichte und auch ernst genommen wurde. Das mag überraschen, wird aber sofort einsichtig, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Diskussion vorwiegend branchenintern geführt wurde, von Musikern, die (selbst wenn sie, wie etwa Hans Erdmann, über eine wissenschaftliche Ausbildung verfügten) sich am Alltag in den Lichtspieltheatern orientierten. Und um den stand es, von ein paar großen Häusern abgesehen, nicht zum besten. Ihre wichtigste Aufgabe sahen denn die Autoren der einschlägigen publizistischen Organe - der Zeitschrift FilmTon-Kunst, des Handbuchs - ganz nüchtern darin, das Niveau alltäglicher Filmmusikproduktion oder -reproduktion zu heben. Daß diese Aufgabe sich überhaupt stellte, war ihnen andererseits Beweis dafür, daß nach wie vor weitherum noch nicht begriffen wurde, wozu Filmmusik gut ist. Folgerichtig zielten ihre anspruchsvolleren, die Darstellung größerer Zusammenhänge visierenden Texte mehrheitlich darauf ab, Filmmusik als Phänomen zu begründen und zu rechtfertigen.6 Und wo gelegentlich Außenstehende das Wort ergriffen, Kritiker wie Heinrich Strobel und Hans Heinz Stuckenschmidt oder Musikologen wie Hans Meersmann, taten sie es im Namen eines (von ihnen sonst durchaus relativierten) Autonomiebegriffs und redeten an der Sache wie an den Adressaten vorbei.

Nach dem Durchbruch des Tonfilms wollte von Theorie niemand mehr etwas wissen (was auch ein Indiz ist für den direkten Praxisbezug, den sie vormals hatte). Und Jahrzehnte später, als man wieder begann, über Filmmusik nachzudenken, schien die Rekonstruktion des historischen Prozesses vordringlicher. Sie war es wohl auch. Nur daß die Wiederentdeckung der alten Materialien und Methoden den Blick der Stummfilm-Archäologen notwendigerweise in die falsche Perspektive bog - oder weniger kategorisch ausgedrückt: so nachdrücklich auf den Zusammenklang von Szenen und Stücken, Bildern und Tönen verwies, daß erneut die dynamisierende Rolle der Horizontalen im komplexen Prozeß filmmusikalischer, filmischer Form-Inhalts-Werdung übersehen wurde.

Vgl. auch Kurt von Fischer, „Gustav Mahlers Adagietto und Luchino Viscontis Film Morte a Venezia", in: Verlust und Ursprung: Festschrift für Werner Weber, Zürich 1989, S. 44-52.

Vgl. auch Hansjörg Pauli, „Umgang mit Tönen“, in: Peter W. Jansen/Wolfram Schütte (Hg.), Stanley Kubrick, München/Wien 1984, S. 247-284.

Zofia Lissa, Ästhetik der Filmmusik, Berlin 1965, S. 70.

Hansjörg Pauli, Filmmusik: Stummfilm, Stuttgart 1981.

Lewis Jacobs, The Rise of the American Film: A Critical History, New York 1971, S.41.

Vgl. Ulrich Eberhard Siebert, Filmmusik in Theorie und Praxis: Eine Untersuchung der 20er und frühen 30er Jahre anhand des Werkes von Hans Erdmann, Frankfurt/Bern/New York/Paris 1990.

Hansjörg Pauli
geb. 1931, studierte Musik am Konservatorium in Winterthur, war Musikkritiker verschiedener Schweizer Zeitungen, Redakteur für neue Musik bei Radio DRS Zürich und schließlich Leiter der Musikabteilung im Fernsehen NDR Hamburg, seit 1968 freischaffender Autor und Filmemacher, lebt in Orselina (Tessin).
(Stand: 2019)
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