LORENZO HELBLING

LYNX — ENDSCHAFT (FRANZ REICHLE)

SELECTION CINEMA

Seit Anfang der siebziger Jahre gibt es in der Schweiz wieder freilebende Luchse. Sie wurden vom Menschen angesiedelt, nachdem er sie erst ausgerottet hatte. Beobachtungsprgramme mit einem Riesenaufwand an Hightech begleiten die Wiederansiedlung, diese Wiederherstellung natürlicher Zustände, denn „unser verlorengegangenes Wissen überbrücken wir dank hochspezialisierter Technologie“. Forscher mit Flugzeugen und Funkgeräten machen sich auf die Suche nach dem Luchs. Der Filmer Reichle schliesst sich ihnen, mit einem Infrarotgerät bewaffnet, an. Mit diesem gelingen ihm ungeheuer eindrückliche Aufnahmen des Luchses, wie er sich in seiner ganzen stummligen Eleganz vorsichtig dem Köder nähert. Doch diese Infrarotaufnahmen kommen erst gegen Ende des Filmes, dessen Absicht es nicht ist, ein isolierendes Porträt des Luchses zu liefern. Reichle interessiert der Luchs in seiner Umgebung, einer Umgebung, die vom Menschen beherrscht ist, ihn interessiert auch der Platz, den der kaum sichtbare und deshalb umso bedrohlichere Luchs, das wilde Tier, das sich vom selben Futter ernährt wie wir, in unserer Phantasie einnimmt.

Der Walliser Schafhalter Locher hat einen anderen Zugang zum Luchs. Da dieser ihm ab und zu ein Schaf stibitzt, hat der dem Luchs „Endschaft“, d.h. endgültige Ausrottung geschworen. Behörden, WWF und alle, die an der Wiederansiedlung beteiligt sind und meist in den Städten wohnen, wünscht er, der die Schafe noch von Hand schert, da diese es so lieber haben, zum Teufel. Kein Verständnis also für den Luchs von dem, der mit ihm die Lebenswelt und Naturnähe teilt. Reichle lässt den Schafhalter kommentarlos sprechen, seine Wut ausdrücken. Diese Wut mag schwer verständlich und dumm erscheinen. Sieht man

jedoch seinen Contergan-verkrüppelten Sohn - „nur eine einzige Tablette, die mir der Dorfapotheker während der Schwangerschaft gegeben hat, er kann ja auch nichts dafür“, erzählt seine Frau so lässt sich etwas vom Druck erahnen, dem dieser Mensch, der die Asylanten für Simulanten hält, in seinem Leben ausgesetzt ist, und Kommentare werden schwierig.

Lorenzo Helbling
geb. 1958, studierte Geschichte und Sinologie in Zürich und Shanghai, Lizenziat über den Film in China, lebt in Zürich.
(Stand: 2019)
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