Die Zeiten, wo Themen weitflächig angeschnitten und auf einer überindividuellen, gar gesellschaftlichen Ebene bearbeitet wurden, sind nicht die jetzigen. Vielleicht muss man sich auch vermehrt dem Individuum zuwenden. Bei vielen neuen Schweizer Dokumentarfilmen jedenfalls steht ein Individuum im Zentrum, es scheint, dass es jede irgendwie interessante Person, jede spezielle Lebensweise noch zu dokumentieren gilt. Viel vom Geist der alten Zoologen, die unermüdlich die letzten Exemplare einer Tierart für ihre Sammlung schossen, haftet diesen Filmen an.
Ich lebe gern, ich sterbe gern - der Filmtitel macht klar, dass es hier radikal um ein Individuum geht. Der Film dokumentiert und vergegenwärtigt die Figur des Fernsehjournalisten, Homosexuellen, Aids-Opfers und ersten Präsidenten der Aids Hilfe Schweiz, André Ratti, der 1985 mit seinem öffentlichen Bekenntnis - „Ich heisse André Ratti, bin 50 Jahre alt, homosexuell und ich habe Aids“ - zur Popularisierung der Aids Diskussion in der Schweiz beigetragen hat. Der Film begleitet Ratti in seiner letzten Lebensphase und geht dem Hauch nach, den er bei seinen Freunden nach seinem Tod hinterlassen hat. Präsentiert wird Ratti in einer Collage aus TV- Archivaufnahmen, Spielszenen aus dem Strichmilieu und Gesprächen mit Freunden und Bekannten. Eigentümlich privat und persönlich stehen die Aussagen der Freunde und Freundinnen. Claudia Acklin ist es anscheinend gelungen, in dem von Rattis Persönlichkeit vorbereiteten Terrain, die richtige Nähe (oder Distanz?) für ein gutes Gesprächsklima zu finden. Dieses Klima ist auch für den Zuschauer spürbar, es bleibt ihm immer Raum zum Atmen.
Sexualität, Homosexualität, Sterben und Aids werden im Film angesprochen. Doch eine Auseinandersetzung mit diesen Themen findet nicht statt. Dazu ist Ratti, wie er gezeigt wird, zu speziell, zu egomanisch. So ist der Film einfach ein Porträt einer Person, für die Inehole und (wieder) Produzieren zentrale Beschäftigungen waren. Einer Person, deren Leben zwischen dem Rampenlicht der TV-Studios und der Laterne des Strichs, zwischen Inszenierung und Momenten der Authentizität verlief, und bei der der Zwang und der Versuch, etwas zu sagen, konkurrierte mit den fehlenden Worten.