Seit Anfang dieses Jahres ist ein Gesetzesartikel in Kraft, der sich gegen die Darstellung grausamer Gewalttätigkeit in Ton- und Bildmedien richtet. Dieser Artikel des schweizerischen Strafgesetzbuches hat folgenden Wortlaut:
Art. 135. Wer Ton- und Bildaufnahmen, andere Gegenstände oder Vorführungen, die, ohne schutzwürdigen kulturellen oder wissenschaftlichen Wert zu haben, grausame Gewalttätigkeit gegen Menschen oder Tiere eindringlich darstellen und dabei die elementare Würde des Menschen in schwerer Weise verletzen, herstellt, einführt, lagert, in Verkehr bringt, anpreist, ausstellt, anbietet, zeigt, überlässt oder zugänglich macht, wird mit Gefängnis oder mit Busse bestraft [...]
Anlass zu diesem Strafgesetzbuch-Paragraphen war die Forderung nach einem umfassenden Verbot von „Videokassetten mit verrohenden, jede Menschenwürde missachtenden Gewaltdarstellungen“ (Motion Zbinden vom 30. November 1982). Was damals Eltern, Erzieher, Kirchenkreise und Politiker skandalisierte, war die Existenz von „Videoschund“ (Franz Joseph Strauss) mit seiner „exzessiven und ausführlichen Darstellung von Gewaltakten“, waren „Horrorfilme über lebende Tote, die nicht sterben können und andere anfallen“, waren „Spielfilme, die ihre Spannung vor allem aus der physischen Bedrohung der Person ziehen“.1 Im Zuge der StGB-Reform im Bereich der Strafbestimmungen gegen Leib, Leben und Familie, verabschiedete 1985 der Bundesrat einen entsprechenden Artikel zuhanden der Räte. In der Detailberatung im Nationalrat vom 7. Juni 1989 wurde die vom Bundesrat unterbreitete und vom Ständerat zum Beschluss erhobene Fassung fast unverändert übernommen. Eine Mehrheit hielt daran fest, „Gewaltdarstellungen generell, über den Jugendschutz hinaus, zu kriminalisieren“.2 Dem Antrag Loeb („Verletzung der elementaren Würde des Menschen in schwerer Weise“) wurde zugestimmt. Bei der Eventualabstimmung über den Geltungsbereich (Medienträger) obsiegte der Antrag Nabholz (generell Bildaufnahmen) „mit offensichtlichem Mehr“ über den Antrag Bodemann (nur Videos). „Definitiv entschied sich der Rat aber für den durch den Antrag Petitpierre (Ausklammerung der Schriften) korrigierten Text von Bundesrat/Ständerat/Kommissionsmehrheit ebenfalls mit einem offensichtlichen Mehr“.3
Dass man mit dieser „frankenmässig billigsten Lösung“ (Angeline Fankhauser) nicht glücklich war, belegen die ersten Reaktionen. Man stiess sich an der vagen Formulierung, die bei allem sprachlichen Aufwand nach einer interpretatorischen Eingrenzung des inkriminierten Sachverhaltes verlangt. So ist der Verband Schweizerischer Filmgestalter (zusammen mit der Eidgenössischen Filmkommission, dem Schweizerischen Videoverband und dem Schweizerischen Filmverleiher-Verband) zwar der Ansicht, dass „Brutalos“ verabscheuenswürdig seien, vermisst jedoch im neuen Strafgesetzartikel 135 eine genauere Definition über das Wesen „grausamer Gewalttätigkeiten“.4 Von den Befürwortern der neuen Strafbestimmung wurde denn nicht so sehr die Gesetzesbestimmung als vielmehr die darin zum Ausdruck kommende Intention gewürdigt. Der Artikel richte sich in erster Linie gegen die zusammenhanglose, unbegründete, exzessive und selbstzweckhafte Darstellung von brutalen und grausamen Handlungen.5 Und dass die Erwachsenen von der Gesetzesbestimmung nicht ausgenommen sind, wird als ein notwendiges Opfer verstanden. Sie hätten im Sinne eines „geistigen Umweltschutzes“ auch ihren Beitrag zu leisten, nicht zuletzt „um die Beschlagnahmung der Brutalos an der Grenze zu ermöglichen“. Die Gefahr einer „Kulturzensur“ wird zwar eingestanden, aber immerhin liessen sich „Gewaltdarstellungen eindeutig an ihrer Lüsternheit, Gemeinheit und ihrem Appell an niedere Instinkte sowie ihrer Bildführung (widerliche Grossaufnahmen, bildhaftes Ausweiden von Details)“ erkennen.6
Der Übergang einer Schriftkultur zu einer visuellen Kultur hat sich nach Roger Willemsen auch in der öffentlichen Einschätzung ihrer Gefährlichkeit vollzogen: „Anstoss nimmt das publizistische Bewusstsein unserer Tage immer an den Bildern der Gewalt, nicht an der Verschriftlichung des Horrors; [...] gefährlich ist ein Text immer nur, wenn er politisch wird, Bilder dagegen brauchen nur drastisch zu sein.“7 Aber nicht nur in seiner Begrenzung auf „Ton- und Bildaufnahmen“, auch in seiner Fixierung auf das Sichtbare, auf die Oberfläche („eindringlich darstellen“) reflektiert der neue Strafgesetzartikel einen Gewalt-Diskurs, den es im einzelnen zu belegen gilt. Und - dies eine weitere Beobachtung — strafwürdig ist nur das Fragment, das Bild, die Aufnahme, nie aber der ganze Film.
In diesem Beharren auf einem qualitativen, inhaltlichen Gewaltbegriff verschliesst die Gesetzesbestimmung sich der Einsicht in die Gewaltförmigkeit des Mediums selber, die eben nicht ausschliesslich ein Merkmal des Horrorfilms ist. Dem Zuschauer wird beim Schauen auf die Leinwand etwas angetan, was dieser um so eher mit sich geschehen lässt, als er diese Nötigung lustvoll erlebt. Sergej M. Eisenstein fasst den Sachverhalt in einer Metapher der Beschädigung: „Im Ergebnis verspürst du, wenn du auf die Leinwand schaust, ein wonnevolles Gefühl, als ob dein Auge in die Greifer einer Zuckerzange genommen, sachte und zärtlich bald nach rechts, bald nach links gedreht und schliesslich mit einer vollen Kreisbewegung herausgeschraubt würde, um danach in die fassungslose Augenhöhle zurückgestossen zu werden.“8 Dem Zuschauer wird eine bestimmte Sehweise aufgezwungen. „Die Gewalt des Kinos liegt in der Verkümmerung der Zuschauerspontaneität, die sich höchstens resignativ, nicht aber durch direkten Einfluss aufs Medium bemerkbar machen kann.“9 Davon weiss der Zuschauer eines Horrorfilms um so weniger, als dessen manifeste Gewaltförmigkeit, als dessen personale Gewalt ihm den Blick auf die strukturelle verstellt.
Dieser Gewalt zu widerstehen, sie auszuhalten, macht beim Betrachten von „Gewaltfilmen“ den Reiz aus. Nicht das schlimme Bild ist wichtig, sondern es zu überstehen. „Das Ideal des Zuschauers ist es, die Maschine zu sein, die indifferent und ohne Zeichen von Subjektivität“ der Zergliederung des menschlichen Körpers Zusehen kann.10 Die klassische Aufmerksamkeit, die Anteilnahme und Einfühlung des Zuschauers haben hier keinen Ort mehr. An ihre Stelle treten ein Sich-Ausliefern und Preisgeben dem terrorisierenden Effekt gegenüber. Diese körperlichen Sensationen bedürfen keinerlei Psychologie; jedes einfühlende Mitleid würde das Zuschauen verunmöglichen. Und in eben dieser Haltung ist der Zuschauer dem gefühlskalten massakrierenden Psychopathen auf der Leinwand nicht unähnlich. Dessen instrumentelles Verhältnis seinem Opfer gegenüber, worin das alltägliche Leistungsprinzip (immer noch) seine Geltung behauptet, hat seine strukturelle Entsprechung in der „Unempfindlichkeit“ des Zuschauers. Das Leistungsprinzip, dem Jungen wohl mehr als Mädchen nachleben, liegt darin, starke Erlebnisse wie Angst unter Kontrolle zu behalten. „90% des Horrors ist die Erwartung.“11 Die Kenntnis des Genres des Horrorfilms, das Wissen um den medialen Rahmen — ein Film hat seinen Anfang und seinen Schluss - erleichtern diese Mutprobe ungemein. „Manchmal zittere ich ganz schön. Aber ich weiss ja, wie es ausgeht. Ich habe mal ’ne Reportage darüber gelesen, wie die solche Filme machen. Da kann man doch darüber nur lachen.“12 Diese Aussage der vierzehnjährigen Renate B. in einem Interview mit Jan-Uwe Rogge handelt von eben dieser Lust, eine simulierte Angstsituation zu bestehen. Sie zeigt auch, wie Jugendliche über eigene Strategien verfügen, um sich von bedrohlichen Medieninhalten zu schützen. Das Wissen um die simulierte Situation ist bei ihnen allgemein. In diesem Wissen unterscheiden sie sich möglicherweise von ihren Fürsprechern, von den Erziehern und Pädagogen. Während diese noch das Aufkommen des Fernsehens erlebt haben, wurden jene in eine Welt geboren, in der es Fernsehen schon immer gab. In Diskussionen wird von Jugendlichen immer wieder das Argument gebracht, bei den Filmen handle es sich ja um eine Fiktion. Die Szenen seien von Schauspielern gespielt und so weiter. „Die Fähigkeit, zwischen Medienbildlichkeit und ’echter Wirklichkeit' unterscheiden zu können, wird sogar zu einer Art übergreifendem Statusmerkmal des Medienbenutzers, und an den Horrorfilmen kann man sich diesen Status demonstrativ erwerben.“13 Die Unempfindlichkeit dem Horror gegenüber wird von ihnen als eine Art Unterscheidungsfähigkeit interpretiert. Und hat nicht Thomas von Aquin das Mitleid (misericordia) für eine Untugend gehalten, weil es das umsichtige Denken und Bedenken (consilium) behindere?
Furcht und Schrecken treten nicht mehr, wie es noch die klassische Dramentheorie verlangt, als reinigende, das Mitleid(en) befördernde Affekte auf, sondern als Prüfsteine der eigenen Unempfindlichkeit.
Karl Heymanns (1968) Hypothese über die Wirkung naturalistischer Darstellungen des Grauenhaften sei hier angeführt, um jene Dynamik zwischen jugendlichem Betrachter und Schreckensbild zu erklären. Dieser werde etwa beim Betrachten eines Bildes eines entstellten menschlichen Gesichts in einer Illustrierten sich mit Abscheu und Ekel davon abwenden (rascher umblättern oder das Heft weglegen). Die erste Reaktion auf den „Gestaltzerfall“, insbesondere des Gesichts als erstes frühkindliches Beziehungsobjekt, ist die spontane Identifizierung mit dem dargestellten Leid. „Angesichts der Ungeheuerlichkeit spürt der Jugendliche jedoch, dass die Abwendung nicht ausreicht, um das Grauenhafte abzuwehren. Das Bild haftet am Selbsterlebten, man kann es nicht abschütteln. So kommt es zu einem Zwang, das Bild wieder zu betrachten, um sich zu vergewissern, dass das ungeheure Leid doch nicht - in der Identifikation - auf einen selbst übergegangen ist, sondern am Bild haftet.“14 Erst durch diesen mehrmals sich wiederholenden Prozess kann der Eindruck des Grauens allmählich abklingen. Wichtig an diesem Erklärungsversuch ist die darin formulierte Dynamik, die vom identifizierenden Mitleid wegführt zu einem „kalten Blick“, ist die Bearbeitung des Affektes, seine Zurückdrängung, ist die Eliminierung der distanzlosen Identifikation. Und eben darin, indem er den Schrecken leichter zu ertragen lehrt als das Mitleiden, ist der Horrorfilm modern.
In der Diskussion um die Gewaltdarstellung in Videos ist die Sinnlosigkeit der Gewalt als Novum behauptet worden. Die Gewalt habe sich von historischen Zielen abgekoppelt. Nicht die Befriedung der rivalisierenden Parteien, nicht der Exorzismus des Bösen interessieren, „sondern [...] eine sich wiederholende Kommunikation mit den destruktiven Impulsen“.15 Dagegen hat Hans Jürgen Wulff darauf beharrt, dass Gewalt immer in eine Erzählung eingebunden sei. Gewalt stelle eines der ursprünglichsten und universalsten Mittel bei der Aushandlung sozialer Beziehungen und bei der Durchsetzung individueller und kollektiver Interessen dar. Ihre konventionelle Regulierung wird in der Gewaltdarstellung dadurch thematisiert, „dass Grenzen und Regeln überschritten werden“.16 Als Modell der Wirklichkeit (die mit der Wirklichkeit nicht eins ist) entwerfen die Gewaltfilme Ausnahmesituationen, „die die Aufhebung des konventionell-normativen Apparats des Alltags“17 begründen können. Der unsichtbare Gegner, das unerklärbare Motiv steigern die Dramatik, indem sie keinen einfühlenden Nachvollzug der feindlichen Beweggründe erlauben. Der Schrecken ungewisser Zeichen (Roland Barthes) thematisiert nur aufs neue den Zwang des Zuschauers, sich zu identifizieren. Der dem Zuschauer verweigerte Kontext, die Hindernisse, die ihm beim Erkennen und Wiedererkennen in den Weg gelegt werden, sind Teil der Schreckens-Dramaturgie. Die Begründung der Gewalt aber bleibt zentrales Motiv ihrer Erzählung. Es ist die Frage, wie man sich gegen verbrecherische Gewalt schützen solle, ohne die Alltagsregeln des Zusammenlebens und der Konfliktlösung ausser Kraft zu setzen. „Akzeptiert man die Gewalt als Mittel der Konfliktlösung, stellt man sich auf eine Stufe mit den Gewaltanwendern, akzeptiert man sie nicht, geht man unter.“18
Möglicherweise sind Pädagogen in ihrem Urteil befangen, bestimmt dann, wenn sie der Verführung einer eindeutigen Antwort erliegen. Fernseh- und Videogewalt werden für so gefährlich „wie Pocken und andere todbringende Krankheiten“ gehalten. In diesem Vergleich bleibt die Gewaltdarstellung etwas Äusserliches, das den Betrachter infiziert, wenn er sich diesem aussetzt. Dabei spekuliert der Gewaltfilm auf ein Bedürfnis, „das er selbst nur zum Teil bilden kann, dessen Disposition aber bereits bestehen muss und gewiss nicht ästhetisch, sondern sozial determiniert ist“.19
Man hätte sich mit einer Gesetzesbestimmung, die Jugendlichen unter 18 Jahren den Konsum von Videos verbietet, manches erspart. Zensurmassnahmen wie der Art. StGB 135 sind nie etwas anderes gewesen als eine Blamage für die Justiz. In zwanzig Jahren wird man sich diese Filme nicht ohne Rührung ansehen, und man wird sich fragen, warum sie die Menschen damals so zu erschrecken vermochten. Fatal aber bleibt der zugrundeliegende politische Konsens, die Darstellung oder auch Nicht-Darstellung der Gewalt als eine Frage des guten Geschmacks zu betrachten.