LORENZO HELBLING

DAS LEERE BLATT — FILMPRODUKTION UND FILMKRITIK IN CHINA AM BEISPIEL VON FURONG ZHEN

ESSAY

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1896, ein Jahr nach der Erfindung des Films im Westen, liefen die ersten Filme in China. Der erste chinesische Film wurde 1905 gedreht. In den folgenden Jahrzehnten erlebte die chinesische Filmindustrie mit Shanghai als Zentrum eine hektische Blütezeit. Mit Remakes von ausländischen Streifen aber auch mit eigenen Stars und Geschichten, die ihre Stoffe aus der Tradition der lokalen Opern, der mündlich überlieferten Erzählungen und aus dem Schatz der Kungfu-Heldengeschichten bezogen, versuchte eine Unzahl von Studios gegen die übermächtige ausländische Konkurrenz aufzukommen.

Mit der linken „Filmgruppe“, die der KP nahestand, erhielt der chinesische Film in den 30er Jahren politische Inhalte, entfernte sich etwas vom Tingeltangel, wo er bis dahin angesiedelt war, und ging eine enge Verbindung mit dem Theater und der Literatur ein.

In den Reden über Literatur und Kunst, die Mao Zedong in seinem Yan’aner Reduit 1942 hielt, werden der Kunst (und damit dem Film) zwei zentrale Aufgaben zugewiesen. Sie hat der Politik zu dienen und muss die „Massen“ erreichen und diesen verständlich sein.

In Maos Glauben an die Formbarkeit des Menschen ist die hohe Bewertung des Films begründet: „Ausser seinen anderen Eigenschaften hat das 600- Millionen-Volk der Chinesen noch zwei bemerkenswerte Besonderheiten: es ist einmal arm, und es ist weiss. [...] Ein leeres Blatt Papier hat keine Flecken, und so können die neusten und schönsten Worte darauf geschrieben, die neusten und schönsten Bilder darauf gemalt werden.“ Die Kehrseite dieses Glaubens an die Wirksamkeit des Films ist Angst vor eben dieser Wirksamkeit. Der Kritiker Xia Yan bezeichnet den Film als eine „scharfe Waffe“, die man mit dem richtigen Bewusstsein handhaben muss: „Sie kann einen Feind schlagen, sie kann aber auch einen selbst verletzen.“

Nach dem Sieg der Kommunisten 1949 wurden Maos Yan’aner Reden bestimmend für den chinesischen Film. Die Filmindustrie wurde zentralisiert und einer politischen Leitung unterstellt. Der Staat überwachte die Filmproduktion und übernahm das Verleihmonopol. Vor allem auf dem Land wurden zahlreiche neue Vorführstellen eingerichtet. Auch die Filme veränderte sich.

Sie wurden nun für die breite Masse gedreht, d.h. in der Hauptsache für ein ländliches Publikum. Die Allgemeinverständlichkeit wurde zur Pflicht, jeder Film musste nun vom Kind bis zum Greis, vom Bauern bis zum Intellektuellen verstanden werden können.

In China, wo die meisten Leute Analphabeten und Radio und Fernsehen kaum verbreitet waren, wurde der Film zur „wichtigsten Propagandawaffe“. Die Verbreitung eines Films beschränkt sich dabei nicht nur auf die Vorführungen im Kino. Filme werden als Fotoromane und Comix veröffentlicht, Drehbücher in speziellen Zeitschriften abgedruckt. Das Radio strahlt die Tonspur aus, und heute werden die Filme natürlich auch via Fernsehen verbreitet. Der Film hat eine enorme Breitenwirkung. Einzelne Filme und Filmfiguren gehören zum allgemeinen Erfahrungs- und Bildungsschatz in China.

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Den chinesischen Film als simple Propaganda abzutun, ist eine Fehleinschätzung. Wie Marc Ferro anhand des russischen Films nachweist, zeigen sich in jedem Film die Widersprüche der Macht. Der Film tendiert zu Eigenständigkeit, d.h. jeder Film beinhaltet als Kunst und als Massenmedium, das ein Publikum erreichen will, mehr als seine offensichtliche politische Botschaft. So ist der Film im allgemeinen, und der chinesische mit seiner ausgeprägten gesellschaftlichen Aufgabe im besonderen, eine vielschichtige Quelle zur Zeitgeschichte, auch wenn es nicht einfach ist, ihn „wie ein Geschichtsbuch zu lesen“, wie dies Marco Müller vorschlägt, der 1982 in einer ersten grossen Retrospektive den chinesischen Film in Europa bekannt gemacht hat.

Müller bezeichnet den chinesischen Film als ein „unreines Machwerk“, d.h. noch viel weniger als andere Filme ist der chinesische Film das geschlossene Meisterwerk eines einzelnen Regisseurs. Gerade weil der Film kein einheitlicher Wurf ist, sollte man ihn auch nicht als das anzusehen versuchen. So genügt es nach Müller nicht, nur auf die „Auflösung der Intrige zu achten“ - die herrschende Moral muss immer siegen -, viel aufschlussreicher ist es, auf die Konflikte, die vor dem Ende angesprochen werden, und auf die Positionen, die sich vor dem „Sieg“ der einen gegenüberstehen, zu schauen.

Nach Paul Clark sind es drei sehr ungleiche Kräfte, die den Film in China beeinflussen: Politiker, Künstler und Publikum. Das Publikum ist gewiss immer in der schwächsten Position - sein Mitwirken beschränkt sich auf seine Anwesenheit respektive Abwesenheit im Kino und schwer kontrollierbare Kommentare im Dunkeln -, während Künstler und Politiker, die sich beide zur Elite zählen, mit unterschiedlicher Stärke um die Macht über das Publikum, das sie als „die Massen“ bezeichnen, streiten. Der Film ist somit im Idealfall der grösste gemeinsame Nenner zwischen offizieller Meinung, künstlerischen Ideen und Publikumsgeschmack, mit anderen Worten, er ist der Konsens, der zur Aufführungszeit zwischen den verschiedenen Kräften möglich ist.

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März 1987. Im Gedränge vor einem Kino in Shanghai bieten junge Leute Filmtickets, die sie am Vortag zum offiziellen, vom Staat tief gehaltenen Preis gekauft haben, zum Verkauf an. Für einmal versuchen die Schwarzhändler, die sonst ihr Geld mit den heiss gefragten westlichen (Rambo, Tess, Paris Texas, Superman) oder japanischen Streifen machen, ihr Glück mit einer chinesischen Produktion. An der Kinofassade werben überformatige, handgemalte Plakate für den Film Furong zhen („Das Dorf Hibiskus“). Die Schwarzhändler, die pro Eintrittskarte leicht soviel kassieren wie Kino, Verleih und Staat zusammen, machen ihren Schnitt und dies, obwohl Furong zhen gleichzeitig in 17 der 67 grossen Kinos von Shanghai läuft. Eine seltene Präsenz für einen einzigen Film.

Das Kino ist ausverkauft. Während der dreistündigen Vorführung des zweiteiligen Films über „Liebe und Schmerz während den zehn chaotischen Jahren“ (China Daily) herrscht Stille im Kinosaal. Nur hie und da geht fast uniform ein Raunen oder ein Lachen durch die Menge. Kein Geplauder, kein Kommentieren, keine Unruhe wie sonst üblich bei Filmvorführungen. Das Publikum folgt den kleinsten Regungen des Films in seltener Konzentration. Film und Publikum scheinen eins. Die Leute verhalten sich so, wie es sich nach Xia Yan, dem grossen alten Mann des chinesischen Films, bei einem guten Film gehört: „Wenn die Handlung sehr traurig ist, dann seufzt oft das ganze Theater und man hört auch schluchzen; wenn man diese Wirkung erzielt, dann ist das gut.“

Erst zum Schluss bricht diese Einheit zwischen Publikum und Film wieder auf, und die Leute verhalten sich wie bei anderen Filmen. Lange bevor ich nur das Ende ahne und bevor das Saallicht angeht, stehen die Leute auf und streben hastig dem Ausgang zu. Jahrelange Erfahrung mit belehrenden Happyends scheint ihnen einen sechsten Sinn anerzogen zu haben, der sie vorzeitig warnt und das Kino ohne „die Lehr von der Geschieht“ verlassen lässt.

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Furong zhen erzählt das Schicksal der jungen Frau Hu Yuyin, die zu Beginn der 60er Jahre als Privathändlerin gut verdient, dann als Kapitalistin klassifiziert wird und zur Umerziehung die Strassen des Dorfes wischen muss. Sie verliebt sich in einen anderen Ausgestossenen, den Intellektuellen Qin. Als Hu schwanger wird, wird Qin zur Strafe in ein Arbeitslager geschickt. Nach zehn Jahren kehrt er ins Dorf zurück. Die Kulturrevolution ist zu Ende und Hu rehabilitiert.

Furong zhen ist eine traditionelle chinesische Liebesgeschichte mit den drei Stufen Verlieben, Trennung durch widerliche äussere Umstände und Wiedervereinigung mit der Familie am Schluss des Films, der „kanonischen Einheit des chinesischen Melodramas“ (Müller). Kompliziert wird die Geschichte durch die Tatsache, dass die Protagonistin sich als Witwe ihr Recht auf Liebe gegen die „feudalistische“ Vorstellung von der Treue über den Tod hinaus erkämpfen muss.

Doch Furong zhen ist nicht nur diese Liebesgeschichte, zentriert nicht in dieser einen Figur der Privathändlerin Hu Yuyin. Verschiedene andere Handlungsstränge können mitunter die Hauptlinie völlig verdrängen, andere Figuren treten in absoluter Selbständigkeit in den Vordergrund und lassen die Hauptperson vergessen.

Furong zhen erzählt auch die Geschichte vom intellektuellen Überlebenskünstler Qin Shutian, der, abgeschoben an den Rand der Gesellschaft, nur in der Rolle des unterwürfigen, doch zynischen Idioten überleben kann. Wenn Qin als Strafaufgabe Parolen für die KP malen muss und dies ohne auf den Inhalt zu achten voller Liebe zum gestalterischen Detail tut, dann gibt er ein eindrückliches Bild für viele Kulturschaffende Chinas.

Es ist auch die Geschichte vom braven Parteigänger, der aus Loyalität zur KP seine persönlichen Gefühle verrät und trotzdem von der Partei betrogen wird. Diese stille Nebengeschichte ist vielleicht der realistischste, der stärkste Aspekt des Films.

Es ist endlich auch die Geschichte der „linken“ Karrieristin „Staatsduft“ Li, die Beziehungen nur als Macht wahrnehmen kann, deren Leben trotz Erfolgen nicht ohne Tragik ist. Eine weitere Figur ist der zerlumpte Wang, der von Leuten wie Li als Inbegriff des Proletariats gefördert wird, dann als nicht mehr opportun fallen gelassen wird und darüber den Verstand verliert.

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In den ersten zehn Minuten müssen, gemäss Xia Yan, alle Figuren vorgestellt und die Handlung klar gemacht sein. Furong zhen hält sich an diese Regel. Die ersten zehn Minuten sind eine filmische Meisterleistung. In sehr präzisen Strichen werden in dieser kurzen Zeit acht Figuren charakterisiert, ihre Beziehungen zueinander angedeutet, die Hauptkonflikte skizziert, so dass man sich in der Folge vor allem auf das „Wie“ der Entwicklung konzentrieren kann.

Vom Aufbau her ist Furong zhen kreisförmig angelegt, Anfang und Ende gleichen sich. Zum Schluss erscheinen am selben Ort wie zu Beginn nochmals dieselben Leute und sprechen (fast) dieselben Dialoge.

Wie Anfang und Ende sind auch die anderen Teile des Films durch zahlreiche Querbezüge untereinander stark verwoben, so dass man sich kaum sattsehen kann. Bis ins kleinste Detail erweist sich der Film als raffiniert durchkomponiert, ist jeder Teil auf einen anderen bezogen. Der Privathändlerin wird ein staatliches Restaurant gegenübergestellt, dem väterlichen Kader eine unerbittliche Führerin etc. Doch die Gegenüberstellungen wirken nie schematisch. Xie Yan ist ein Meister der dialektischen Montage. Keine Figur, keine Handlung, die nicht irgendwo ihre Entsprechung hätte, die erst ihre Bedeutung klärt. Dabei müssen Gegenüberstellungen nicht immer unmittelbar aufeinander folgen. In einer Art „dialektischen Montage mit Langzeitzünder“ (ein Begriff, den Tony Rayns für den linken chinesischen Film der 30er Jahre, der sich vor der kapitalistischen Zensur hüten musste, kreiert hat) können auch einige Szenen vergehen, bis ein Motiv wieder aufgenommen und bestimmt wird.

Bei Furong zhen weiss man, dass jedes Detail bewusst gesetzt ist. Nimmt A Feuer von B, dann wird A später Feuer von C ablehnen und so wissen wir, wie die Personen zueinander stehen. Findet man einmal eine Handlung, die nicht irgendwo ihre Entsprechung hat, dann kann man mit ziemlicher Sicherheit auf Zensur schliessen. Erscheint einmal kurz ein Gewehr, um dann nie wieder aufzutauchen oder sagt eine kaum bestimmte Figur nur einen Satz, dann wurde etwas weggeschnitten, was sich aus älteren Drehbuchversionen jeweils rekonstruieren lässt.

Neben solchen filminternen Beziehungen weist Furong zhen zahlreiche Bezüge zu anderen chinesischen Filmen auf. Solche Beziehungen entstehen hauptsächlich über gemeinsam verwendete Motive und Metaphern. Einige kommen dabei so häufig vor, dass man fast von einem festen Bilderschatz des chinesischen Films sprechen kann. Es gibt kaum einen neueren chinesischen Film, der nicht Motive wie Sonne, Fluss, Mühle, den Verrückten, Idole etc. verwendet, zitiert, neu interpretiert. Auch Furong zhen arbeitet mit solchen Elementen aus dem Bilderschatz des chinesischen Films. Hier nur zwei Beispiele: In Furong zhen huscht immer, wenn die Zeiten besonders schwer sind, ein Mann mit einem Reisigbündel auf den Schultern durchs Bild; er ist ein Zitat aus älteren Filmen, wo er stellvertretend für das „bittere Leben der Landleute in der alten Gesellschaft“ (d.h. vor 1949) stand. Sein Auftreten in Furong zhen und somit nach der Revolution, gibt ihm eine brisante Bedeutung. Zweites Beispiel: Die Mühle. Bedeutet das Stillstehen der Mühle in Gelbe Erde, ein Film des jungen Regisseurs Chen Kaige, den Aufbruch zu Neuem, so dreht sich die Mühle in Furong zhen, solange nichts Neues passiert. Dementsprechend nimmt Furong zhen in seiner Struktur die kreisende Bewegung der Mühle auf, während Gelbe Erde in ein offenes Ende mündet.

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Die verschiedenen Figuren von Furong zhen agieren vor einem konkreten historischen Hintergrund. Der Film spielt in der Zeit von 1963 bis 1979, d.h. in der Zeit der „Sozialistischen Erziehungsbewegung“, der „Kulturrevolution“ und der Zeit danach. Dabei ist die Erziehungsbewegung in ihren verschiedenen Phasen in einer Genauigkeit gezeichnet, wie man sie auch in Geschichtsbüchern kaum findet. Viele der im Film gesprochenen Sätze erweisen sich bei Überprüfung als Zitate der damaligen Akteure der Politszene von Mao bis zu Liu Shaoqi.

Die Kulturrevolution wird heute offiziell als die Zeit der „Zehn chaotischen Jahre“ bezeichnet und nicht weiter verarbeitet. Furong zhen bringt insofern eine Neuinterpretation, als er das „Chaos“ schon vor 1966 beginnen lässt, als in der letzten Phase der Erziehungsbewegung (1964) das dörfliche Gleichgewicht durch extremen politischen Aktivismus gestört wird und die beliebten Kader abgesetzt werden. Deshalb verhält sich das Volk auch gleichgültig, als zu Beginn der Kulturrevolution die neuen und unbeliebten Kader gestürzt werden.

Furong zhen klagt gewisse Entwicklungen an, doch findet im Film keine Abrechnung mit der Vergangenheit, mit den Verantwortlichen der Fehlentwicklung statt. Wenn gegen Ende des Films der Intellektuelle Qin, der wegen „Staatsduft“ Li zehn Jahre im Arbeitslager verbracht hat, auf einem Boot mit dieser zusammentrifft, dann folgt kein show down. Die beiden tauschen nur artige Freundlichkeiten aus - einzig wie Qin Streichholz, Asche und Kippe während des Gesprächs ins Wasser befördert, deutet mögliche alternative Verhaltensweisen an. Der Film plädiert für eine versöhnliche Haltung gegenüber den Verantwortlichen der vergangenen Fehlentwicklung, nicht, so ist hinzuzufügen, aus Menschlichkeit, sondern aus realpolitischer Einsicht. Viele der damaligen Akteure haben immer noch politische Macht.

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Furong zhen wurde vom Shanghaier Filmstudio produziert und ist mit gegen Mio Yuan Herstellungskosten - dem 20fachen einer normalen Produktion - einer der teuersten Filme Chinas der letzten Jahre. Regie führte Xie Jin, Chinas berühmtester Regisseur. Xie Jin, 1923 geboren, hat in einer beispiellosen Karriere, die mit der Gründung der Volksrepublik China begann und fast bruchlos bis heute andauert, über 20 Filme gedreht. Darunter befinden sich einige der schönsten Filme der 50er und 60er Jahre. In der Kulturrevolution wurden seine Filme kritisiert. Nachdem er „nach heftigen inneren Kämpfen wieder auf den maoistischen Weg der Revolution zurückgefunden hatte“ (Xie Jin), war er einer der wenigen, die auch während der Kulturrevolution Filme machten. Nach dem Sturz der Vierer-Bande geht Xie Jin wieder in sich, und seine Karriere geht bruchlos weiter. „Mit dem reinen Herzen eines neugeborenen Kindes“ (Xie Jin) realisiert er einige der erfolgreichsten Filme seit 1976 {Die Legende vorn Tianshan, Der Pferdehirte), die jeweils von einem Publikum von über 100 Millionen gesehen werden. Kurz, Xie Jin hat, wie die Libération schreibt, „tout traversé, tout illustré, survécu à tout“.

Die weibliche Hauptrolle spielt Liu Xiaoqing, gemäss Publikumswahl Chinas beste Schauspielerin der letzten zehn Jahre (ihre Autobiographie ist auch auf deutsch erschienen). Jiang Wen in der männlichen Hauptrolle ist der vielleicht berühmteste junge Schauspieler Chinas (er war bei uns im Film Das Rote Kornfeld zu sehen). Der Film basiert auf dem gleichnamigen, preisgekrönten Roman (erschienen 1981) von Gu Hua. Das Drehbuch schrieb Xie Jin zusammen mit dem Nachwuchsautor A Cheng (Der König der Kinder). Furong zhen ist eine Grossproduktion, wie sie in China teurer und mit grösserem Staraufgebot kaum je realisiert wurde.

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Das Staraufgebot hat System. Seit Mitte der 80er Jahre befand sich der chinesische Film in einer doppelten Krise. Mit dem Aufkommen von Fernsehen, Video, Disco etc. verlor das Kino, das lange Zeit die einzige Möglichkeit war, „die Zeit totzuschlagen“ (Shao Mujun, Filmkritiker), seine diesbezügliche Monopolstellung. Zugleich wurde das „Selbstverantwortlichkeitssystem“ in den Studios eingeführt, d.h. der Staat zahlte dem Studio nun nicht mehr einfach eine Pauschale pro gedrehten Meter Film wie bis anhin, sondern rechnete nach der Zahl verkaufter Kopien ab. Der Zuschauerschwund traf deshalb die Studios empfindlich. 1987 schrieben 108 von 142 gedrehten Filme rote Zahlen.

In der selben Zeit erhielten die Filmer auch neue Freiheiten und neue Impulse durch die Politik der Öffnung. Gelbe Erde, Rotes Kornfeld, Der Pferdedieb sind einige der wenigen chinesischen Filme, die in den letzten Jahren in unseren Kinos zu sehen waren. Es sind alles Werke aus kleinen Studios und sie stammen von jungen Regisseuren (der „5. Generation“), die entschlossen waren, einen neuen chinesischen Film zu schaffen. Die Filme, die sie seit 1982 zu drehen begannen, unterscheiden sich auch grundlegend von den übrigen Filmen der Volksrepublik China. Sie spielen meist in archaischen Gebieten, unter Minderheiten oder in der Zeit vor der Revolution, was ihnen mehr künstlerische Freiheit liess. Sie benutzten die Sprache der Bilder und vernachlässigten die gesprochene Sprache, verzichteten auf kompliziert und kunstvoll ausgebaute Geschichten und auf eine klare Botschaft. Sie liessen die Filme oft unentschieden enden und deklarierten sie als „Forschungsfilme“, als Diskussionsbeiträge. Sie drehten aus einem stark individuellen Ansatz heraus, ohne Rücksicht auf Publikumsgeschmack, und verstanden ihre Filme als Kunstwerke und nicht als politische Beiträge. Es gelangen ihnen neue Bilder und Geschichten. Trotz internationalen Erfolgen waren ihre Filme in China heftiger Kritik ausgesetzt und erreichten kein grösseres Publikum.

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Als Furong zhen 1987 in den Kinos lief, erschienen keine Kritiken in den Zeitungen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die öffentliche Diskussion schon stattgefunden. Angefangen hatte sie zwei Jahre zuvor, als noch kein Drehbuch vorlag.

Auf Anregung eines Politikers trafen sich 1985 Filmexperten, Politiker und das ganze Drehteam und diskutierten während mehreren Tagen über die Umsetzung des Romans Furong zhen in einen Film. Diese Diskussion wurde schliessend veröffentlicht. Es kamen darin zwei Positionen zum Ausdruck. Der Kulturfunktionär Chen Huangmei verurteilte eine individualistische, naturalistische Darstellung der Figuren und forderte, an Mao anlehnend, das Schaffen von „typischen Figuren“ in einer konkreten historischen Umgebung. Durch einen Zeitspiegel sollten die Leute zum Nachdenken angeregt und zugleich gerührt werden. Die Jungintellektuellen A Cheng und Li Tuo argumentierten etwas diffus aber äusserst angriffig. Sie plädierten für eine Analyse Chinas von aussen, wehrten sich gegen Entschuldigungen durch historische oder nationale Besonderheiten. Für sie lagen die Ursachen der Kulturrevolution in der durch die Tradition des Gehorsams verkrüppelten Seele der Leute. Sie forderten deshalb eine „humanistische“ Grundhaltung des Films, um konfuzianistische Ideale und Tugenden zu bekämpfen. So sollte im Film der Intellektuelle im Dorf bei seiner Frau bleiben, d.h. sich für die Liebe entscheiden, und nicht für die Pflicht wie im Roman, wo er nach seiner Rehabilitierung wieder in die Stadt zieht, um seine alte Aufgabe zu übernehmen.

Im Sommer 1986 sind Bücher von Sartre, Beauvoir, Nietzsche und Freud in den Städten Chinas erhältlich. Das politische Seilziehen um mehr Liberalisierung oder Rückkehr zu mehr Planwirtschaft ist in vollem Gang. In einer Shanghaier Zeitung erscheint ein Frontalangriff gegen den Regisseur Xie Jin und sein Intergrationswerk. Der bis dahin unbekannte Filmkritiker Zhu Dake wirft Xie Jin vor, dass er mit seinen „hollywoodschen Märchen“ das Volk für dumm verkaufe, es zu Tränen rühre, um ihm dann in „einem Zustand von emotionellem Stupor konfuzianische Tugenden aufzupropfen“ und eine Aufklärung, die jetzt an der Zeit wäre, verhindere. Der Kritiker fordert, dass Xie Jins Filme mit ihrer „bornierten Bauernnostalgie“, „heilen Familienwelt“, „patriarchalischen Frauenbild“ auf den Müll der Geschichte befördert werden. Mutige Artikel sind in China nicht zahlreich und so wird dieser Artikel in den meisten chinesischen Zeitungen abgedruckt.

Ende 1986 wurde der Film fertiggestellt. Erste Plakate machten auf die bevorstehende Aufführung des Films aufmerksam. Er wird dann doch nicht gezeigt. Die Studentendemonstrationen vom Herbst 1986, der Sturz Hu Yaobangs und die „Kampagne gegen die bürgerliche Liberalisierung“ verändern die politische Landschaft Chinas und machten „Anpassungen“ des Films an die neue Situation notwendig. Eine letzte Zensurphase findet statt. Mit der offiziellen Aufführerlaubnis ist der definitive Konsens, der definitive Film hergestellt (natürlich sieht die Exportversion wieder ganz anders aus: die Kürzungen um mehr als einen Drittel der Länge betrifft vor allem die Szenen mit historischen Bezügen, wodurch ein Liebesfilm entsteht).

Furong zhen war der bewusste Versuch, mit viel Geld, bekannten Stars und unter Beizug von jungen Leuten aus dem Umfeld der „5. Generation“ einen neuen chinesischen Massenfilm zu schaffen. Der Film wurde durch die Kritik vor und während seiner Herstellung zu einem vielschichtigen Dokument, das dem Zuschauer je nach Informationsstand verschiedene Botschaften zu vermitteln vermag - auch über die Stärke der einzelnen gesellschaftlichen Kräfte und über die Grenzen der Freiheit.

Furong zhen erhielt in China alle grossen Preise des Jahres 1987 (Kritiker- und Publikumspreis) und einen Preis am 26. Internationalen Filmfestival von Karlovy Vary (Karlsbad) 1988.

PS. Ende 1989 beschliesst China die „Konsenspolitik“ und den Anspruch auf Allgemeinverständlichkeit der Filme aufzugeben. Die Filmproduktion soll in drei jeweils unterschiedlich behandelte Gruppen eingeteilt werden: 1. Filme mit ideologischem Inhalt, 2. Unterhaltungsfilme und 3. Künstlerische Filme. Die erste und die letzte Gruppe sollen staatliche Hilfe erhalten. Wie sich dieses Programm in der Praxis auswirkt, wird sich zeigen.

Literatur

Jay Leyda: Dianying, Electric Shadows. An Account of Films and the Film Audience in China. Cambridge, Mass.: The MIT Press, 1972.

Marc Ferro: Cinéma et histoire. Le cinéma, agent et source de l’histoire. Paris: Denoel/Gonthier, 1977.

Jörg Lösel: Die Politische Funktion des Spielfilms in der Volksrepublik China zwischen 1949 und 1965. München: Minerva Publikation, 1980.

Der chinesische Film. Retrospektive zur XXXI. Internationalen Filmwoche Mannheim. Mannheim, 1982.

Le cinéma chinois. Centre Georges Pompidou, sous la direction de Marie-Claire Quiquemelle et Jean-Loup Passek. Paris, 1985.

Liu Xiaoqing: Mein Weg. Selbstbekenntnis einer chinesischen Schauspielerin. Bonn: Engelhard-NG Verlag, 1985.

Peter Neumann: Der Spielfilm als historische Quelle. Zürich, 1986.

Paul Clark: Chinese Cinema. Culture & Politics since 1949. Cambridge: Cambridge University Press, 1987.

Chen Kaige & Tony Rayns: King of the Children & the new Chinese Cinema. London: Faber and Faber, 1989.

China Screen (quarterly). China Film Export and Import Corporation. Beijing.

Lorenzo Helbling
geb. 1958, studierte Geschichte und Sinologie in Zürich und Shanghai, Lizenziat über den Film in China, lebt in Zürich.
(Stand: 2019)
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