NIKLAUS OBERHOLZER

JENATSCH (DANIEL SCHMID)

SELECTION CINEMA

Auch wer die Geschichtsstunde über die „Bündner Wirren“ des 17. Jahrhunderts vergessen oder verschlafen hat, wer C.F. Meyers Jürg Jenatsch nie gelesen hat, wer Daniel Schmids Jenatsch also ohne „Vorbildung“ sieht, wird nicht im Stich gelassen: Eine fingierte alte Schweizer Filmwochenschau über die Entdeckung des Grabes von Jenatsch vor vielen Jahren sagt gleich zu Beginn in zwei Minuten, worum es geht, wer dieser Freiheitsheld oder machtgierige Politiker, wie man es nimmt, war.

Der adrette, junge und bieder angepasste Journalist Christoph Sprecher (Michel Voita) hat den Auftrag erhalten, über jenen Anthropologen zu schreiben, der vor vielen Jahren dieses Grab Jenatschs geöffnet und das Skelett untersucht hat. So lenkt sich Sprechers Interesse auf Jenatsch und die Umstände seiner Ermordung. Von dieser Geschichte handelt Jenatsch: Das Thema ist also weniger die historische Persönlichkeit als vielmehr der Sprung des Journalisten über die Jahrhunderte hin zu Jenatsch.

Die Disposition: Ein Journalist tritt nüchtern und distanziert an seine Aufgabe heran. Er will diese Recherche „erledigen“ wie andere auch. Dabei wird er aber in höchst unwahrscheinliche und surrealistische Geschichten nicht nur über den Anthropologen, der sich Grabfunde widerrechtlich aneignete, sondern auch über Jenatsch und seine Zeit verwickelt. Er gerät dabei schliesslich so sehr aus dem inneren Lot, dass er seine Begegnungen und Deja-vus therapeutisch und mit Unterstützung seiner ob der Aufgabe sträflich vernachlässigten Freundin Nina (Christine Boisson) aufarbeiten muss. Diese Disposition, die Jenatsch zugrunde liegt, ist eigentlich ein Klischee des trivialen Erzählkinos. (In wie vielen Filmen werden Journalisten eingesetzt, um stellvertretend für den Zuschauer die Wirklichkeit zu befragen!) Und in ähnliche Richtung weisen auch andere Motive und Mechanismen wie das mehrfache Auftauchen der Axt, mit der Jenatsch seinen Feind Pompejus von Planta erschlägt und mit der er schliesslich selbst erschlagen wird, oder wie jenes leitmotivisch eingesetzte Detail: Der Anthropologe, den Sprecher aufsucht, entnahm dem Grab nicht nur den Schädel, sondern auch die kleine Schelle, die Jenatsch bei seiner Ermordung im Churer Fasnachtslokal 1639 dem Mörder vom Kleid riss — Indiz für die Mordversion des Anthropologen. Sprecher entwendet seinerseits die Schelle, und sie begleitet ihn schicksalsträchtig: Ihr Läuten lässt ihn jeweils flugs Zeuge der gruseligen Bündner Intrigen und Mordtaten des 17. Jahrhunderts werden. Das Ding lässt sich nicht beseitigen: Nina versenkt es mit grosser Geste im Fluss, doch die Schelle kehrt zurück; ein geheimnisvoller Express-Pöstler bringt sie in einem Paket in Sprechers Wohnung.

Klischees des Kinos: Daniel Schmid setzt sie in Jenatsch häufig, wohl zu häufig ein, und sie wirken oftmals wie Winke mit dem Zaunpfahl. Zusätzlich aber zeigt sich in diesem Umgang mit der literarisch längst zur Tradition gewordenen Grunddisposition einer komplexen Rahmenhandlung mit vielen Durchbrüchen, „Fenstern“ und Verwebungen der Ebenen, in diesem Umgang mit aufmerksam beobachteten kleinen und stets wiederkehrenden Dingen, die zu eigentlichen Schicksalsträgern aufgebauscht werden, mehr Nähe zu C.F. Meyer und seiner Art des Erzählens als im Inhaltlichen. Daniel Schmids Thema des Films ist — jedenfalls weit weniger als bei Violanta bezüglich Die Richterin — kaum Meyers Jürg Jenatsch als Figur und auch nur sehr bedingt Jenatsch als historische Gestalt. Schmids Film lässt sich jedoch in die Nachbarschaft der grossen klassizistisch-strengen Erzähl- und Novellentechnik des späten 19. Jahrhunderts rücken. „Postmoderne“ auch im Kino? So führen Daniel Schmid und sein Kameramann Renato Berta wiederholt den Wechsel zwischen den Zeit-Ebenen vor, den C.F. Meyer in seinen Novellen so meisterhaft vornahm. Die Wirklichkeit des mit dem Computer arbeitenden und in aufgetakeltem Redaktions-Milieu verkehrenden Journalisten gleitet immer wieder über ins Geschehen einer exzentrisch-übersteigerten Barockzeit. Das Klingeln der Schelle in der Hand Sprechers kündigt den Zug der Pestkranken an. Die letzte Frau von Planta im Schloss Rietberg spricht, als lebe sie im 17. Jahrhundert, und die alte bucklige Magd scheint gerade Zeugin des Mordes am Erzpriester Rusca in Thusis gewesen zu sein — und dies just bevor Sprecher selber Zeuge des brutalen Todschlages an Pompejus von Planta im Beisein seiner Tochter Lucrezia im Turmzimmer des Schlosses Rietberg wird. Vollends aufgehoben werden die Grenzen zwischen den Zeiten am Schluss des Films, als Sprecher im Wald Zeuge einer Liebesbegegnung zwischen Jenatsch und Lucrezia von Planta wird und schliesslich an der Fasnacht in Chur, selber nun plötzlich in Maske und Kostüm des theatralischen 17. Jahrhunderts, Jenatsch ermordet, angeleitet von Lucrezia. Wie die Fiktion, so die Realität: Die Szene läuft genau so ab, wie sie früher der Anthropologe glutvoll und dramatisch geschildert hat. Ob Sprecher mit dem Mord am ihn zunehmend verfolgenden Phantom Jenatsch sich selber befreit, mag zum Schluss offenbleiben.

Renato Bertas Kamera arbeitet in eher ruhigen Bildern, die sich immer wieder beinahe verliebt dem Detail zuwenden, ob im Alltag des 17. Jahrhunderts oder in unserer Zeit. All das hat Stil, und Stil haben auch die Schauplätze, die Postkartenlandschaften Graubündens, das Schloss, die Hotels oder die Rhätische Bahn mit ihrem holzgetäfelten Speisewagen. Stil hat schliesslich meist auch die Art, wie Daniel Schmid die Schauspieler führt bis hinein in die grossen Massenszenen. Das alles ist grosses, unterhaltsames, spannendes, wirksames, aufwendiges und auch entsprechend kostspieliges Erzählkino. Ein analysierender Zugriff auf die Geschichte ist dabei weder angestrebt noch auszumachen, und auch darin mag der Film ein Bekenntnis zur Erzähltradition eines C.F. Meyer sein. Eine Folge dieser Haltung ist denn vielleicht jene gewisse Kälte — oder Unverbindlichkeit? —, die von Jenatsch ausgehen kann: Die Konzentration auf das Problem der Auflösung der Zeitgrenzen, auf das Problem der Zeit überhaupt, das an manchen Stellen philosophisch erörtert wird, führt oftmals zu einem Konstrukt, in dem allzu viel verbal erklärt wird, als dass ein magischer Grundzug, wie er vom Thema her zweifellos gegeben wäre, wirklich zum Tragen kommen könnte.

Niklaus Oberholzer
*1940, studierte Kunst- und deutsche Literaturgeschichte. 1974 wurde er Leiter des Kulturressorts des Vaterland, der Luzerner Zeitung und der Neuen Luzerner Zeitung. Er war Mitglied des Stiftungsrates von Pro Helvetia. Für seine Arbeit als Kunstvermittler wurde Oberholzer 1996 mit dem Anerkennungspreis des Eidgenössischen Departements des Inneren ausgezeichnet. Als freier Publizist schreibt er für Medien und Verlage.
(Stand: 2019)
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