NIKLAUS OBERHOLZER

DER FLIEGER (ERWIN KEUSCH)

SELECTION CINEMA

Bernd Klinger absolviert seine Lehre bei einer Versicherung. Er tanzt in der Freizeit mit der Freundin Moni Rock’n Roll, und mit Ewald geht er zum Drachenfliegen. Daraus erwächst sein Traum vom Fliegen: Bernd, Bück genannt von seinen Freunden und von jedermann in der Kleinstadt Coburg, will vom Palomani, 5999 Meter hoch, über den bolivianischen Urwald segeln bis Ixiamas; zehn Stunden soll der Flug dauern, ein Weltrekord.

Der Traum nimmt Bück gefangen und krempelt ihn um. Rita, Journalistin, lernt Bück beim Rock’n Roll kennen, erfährt von seinem Traum, schreibt davon, um ihre eigene Karriere zu schmieden. Sie sucht Sponsoren für Bück, damit die 38000 Mark zusammenkommen; sie treibt ihn, auch mit ihren Reizen spielend, weiter. Bück hilft mit kleinen Versicherungsbetrügereien nach, doch die Gesellschaft kann den Jungen, der schon zum Stadtidol und zur positiven Bezugsperson geworden ist, nicht feuern; also zahlt sie ihm den noch fehlenden Betrag, Werbung ist ja allemal gut, und ob der Flug gelingen kann oder nicht, ist egal. Man reist also nach Bolivien, fährt auf 4000 Meter, klettert in dünner Luft atemlos weiter. Bück startet — ob er ankommt und wie, darüber schweigt sich der Film aus.

Keusch, Schweizer Regisseur mit Tätigkeit vor allem in der Bundesrepublik, hat schon in früheren Filmen ein kleines, überschaubares Milieu ausgewählt, um Kritik im kleinen zu üben und doch grössere Zusammenhänge zu meinen. Und auch in früheren Filmen hat er Kritik gemischt mit feiner Ironie, mit einer Art verhaltenen Humors. Das gilt auch für Der Flieger, dessen Geschichte zum Teil in hervorragenden Bildern von Jürgen Jürges leichtfüssig und in angenehmem Rhythmus erzählt wird, die aber doch eine Spur hinterhältiger ist, als man zuerst meinen mag. Natürlich nimmt Keusch Sport und Sponsoring aufs Korn, auch den skrupellosen Zugriff der Medien. Wichtiger ist aber wohl doch, dass der Traum des jungen Mannes dann zerstört wird, wenn sich das ganze Kleinstadt-Milieu und alle seine Exponenten bis hin zu Bankdirektor und Bürgermeister, diesen Traum aus ganz unterschiedlichen Motiven zum eigenen machen will: Bück kann dem Zwang zur — unsinnigen — Verwirklichung des Traumes nicht mehr ausweichen. Notgedrungen zerstört er damit den Traum. Ob er mit dem Drachen den zehnstündigen Flug überstehen wird, ist keine Frage mehr: Er stürzt so oder so ab.

Erwin Keusch macht das auf geschickte Weise plausibel. Das Milieu Coburgs stimmt. Die Schauspieler sind glaubhaft geführt bis hin zu ihrer Mundart. Die Dialoge verraten durchwegs Professionalität. Dass einiges zu lang geraten ist und dass Keusch hin und wieder überdeutlich wird, mag auch mit der ZDF-Beteiligung Zusammenhängen: Offensichtlich sollte es, wie Das Brot des Bäckers und wie Der Hunger, der Koch und das Paradies, ein Film für die Hauptsendezeit werden.

Niklaus Oberholzer
*1940, studierte Kunst- und deutsche Literaturgeschichte. 1974 wurde er Leiter des Kulturressorts des Vaterland, der Luzerner Zeitung und der Neuen Luzerner Zeitung. Er war Mitglied des Stiftungsrates von Pro Helvetia. Für seine Arbeit als Kunstvermittler wurde Oberholzer 1996 mit dem Anerkennungspreis des Eidgenössischen Departements des Inneren ausgezeichnet. Als freier Publizist schreibt er für Medien und Verlage.
(Stand: 2019)
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