MIKLÓS GIMES

DIE SCHWIERIGKEITEN EINES NATIONALEN KINOS — KINO UND FILMVERLEIH IN SCHWARZAFRIKA

ESSAY

Ein paar Fragen

Die Afrikaner gehen gern ins Kino. Die Verleiheinnahmen an der Kinokasse wurden 1980 allein für 14 Länder aus der CFA-Zone (Senegal, Mali, Mauretanien, Guinea-Conakry, Elfenbeinküste, Burkina-Faso, Bénin, Togo, Niger, Kamerun, Kongo, Zentralafrika, Tschad) auf 40 Millionen Schweizerfranken geschätzt. Das ist viel Geld, besonders dann, wenn man bedenkt, dass die grossen bevölkerungsreichen Länder Schwarzafrikas nicht darunter sind und ein Kinobillet bloss etwa ein bis zwei Franken kostet. An und für sich wäre da ein Markt, der einer afrikanischen Filmproduktion als Basis dienen könnte. Trotzdem stellt man fest, dass 20 Jahre nach der Unabhängigkeit die Filmproduktion in Afrika immer noch bescheiden ist und dass von den gut 300 afrikanischen Spielfilmen, die bisher gemacht wurden, viele einem breiten Publikum unbekannt sind, äusser einigen Klassikern des afrikanischen Kinos wie etwa die Filme von Ousmane Sembène oder Wend Kuuni von Gaston Kaboré. Wer erlebt hat, welches Interesse einheimischen Filmen entgegengebracht wird, wenn sie einmal irgendwo in Afrika gezeigt werden, und welche Rolle der Film in der öffentlichen Diskussion auch in den Dörfern spielt, muss sich fragen was eigentlich los ist:

• Wie werden die afrikanischen Kinos programmiert?

• Wohin fliessen die Einnahmen aus dem Filmmarkt?

• Warum kommen afrikanische Filme nicht in afrikanische Kinos?

Grenzen der Untersuchung

Die vom Kolonialismus ererbten Sprachbarrieren (französisch, portugiesisch und englisch) spielen auch im Kinowesen eine entscheidende Rolle. Im Folgenden werde ich mich auf die Verhältnisse in den Ländern beschränken müssen, die früher einmal zum französischen Kolonialreich gehört haben, vorab, weil ich zu wenig relevantes Material gefunden habe, was die anderen Sprachregionen betrifft. (Ich bleibe aber am Ball und bin um jede Information froh.) Summarische Informationen über die lusophonen und anglophonen Länder finden sich im nachfolgenden Text integriert. Die Länder des Maghreb habe ich nicht berücksichtigt, sie stellen kinematografisch eine wunderbare Welt für sich dar, Ägypten und Südafrika sind ein Fall für sich, mit einem ganz anderen Hintergrund. „Afrika“ heisst also fortan generell Westafrika.

Wie es soweit gekommen ist

Jedes Kind weiss: „Qui tient la distribution, tient le cinéma » (Tahar Cheriaa). Der Verleiher bestimmt was läuft im Filmgeschäft, spätestens seit 1946, als die US-Majors im Zug der Antitrustgesetzgebung sich auf diesen Zweig spezialisierten. Das ist in den USA der Normalfall, wo die Majors jedoch ein Bein auch in der Produktion haben, und das gilt ebenso für den internationalen Markt. Da müssen auch die Antworten zu unseren Fragen liegen.

Noch während der Kolonialzeit sind es zwei Verleihgesellschaften, die SEC- MA und die COMACICO, beide mit Sitz in Monte Carlo, die den afrikanischen Markt beliefern, in den englischsprachigen Kolonien ist es die Exportorganisation der MPAA (Motion Picture Association of America), die AFRAM Films Inc., welche dort Filme vertreibt. Die Kinos gehören Weissen (u.a. Libanesen, Syrern) und Schwarzen. Den Gross Verleihern erwächst in den Kinobesitzern, die sich von irgendwo (etwa Indien oder Ägypten) billige Filme beschaffen, einige Konkurrenz. Sonst läuft alles rund. Die Filme werden billig gekauft und bis zum Verschleiss projiziert, manchmal werden drei verschiedene Filme zusammengeklebt. Die Steuern sind niedrig, das Geschäft läuft, Profite werden abgeführt, ausserhalb des Landes gebracht.

Nach der Unabhängigkeit wird dieses System weitergeführt. Die ersten afrikanischen Spielfilme werden produziert (meist in Zusammenarbeit mit dem französischen Ministerium für Kooperation), aber nicht vertrieben. Guinea und Congo-Brazaville, die ihr Filmwesen nationalisieren, werden von den Verleihern boykottiert. 1969 nationalisieren Obervolta und Mali die Kinos. Anfänglich werden sie als Strafe von COMACICO und SECMA nicht mehr beliefert, weil diese Firmen auch Säle besitzen, die sie nicht aufgeben wollen. Es kommt aber dann zu einem Kompromiss: Die Staaten behalten die Kinoauswertung in den Händen, die nationalen Kinogesellschaften schliessen Exklusivverträge mit den zwei grossen Verleihern. Das Beispiel macht auch in anderen Ländern Schule. COMACICO und SECMA wollen den Bettel hinwerfen (ihre Präsidenten sind beide über 70 Jahre alt), aber auf Initiative des damaligen französischen Premiers Giscard d’Estaing wird eine neue Firma gegründet, die SOPACIA, welche beide Firmen aufkauft. Ein so lukratives und ideologisch wichtiges Geschäft gibt man nicht den Afrikanern in die Hände! Teilhaber der SOPACIA ist jetzt der französische, nach dem 2. Weltkrieg vom Staat ins Leben gerufene Verleihriese UGC (Union générale de cinéma).

Die SOPACIA besitzt im Jahre 1972 50 Kinos, führt weitere 50 im Pachtvertrag und beliefert exklusiv weitere 150. Das macht täglich gut eine Viertelmillion Kinobillette. Einzig in Kamerun kauft ein einheimischer Millionär den Filmbestand der beiden Verleiher auf und macht allein weiter. Das ist der Anfang vom Ende. In Senegal weigert sich die nationale Auswertungsgesellschaft SIDEC mit der SOPACIA zusammenzuarbeiten. Nach zähen Verhandlungen wird ein Konsortium gegründet, in dem der senegalesische Staat 80% der Aktien besitzt. SOPACIA gibt sich mit 20% zufrieden, bestimmt aber faktisch weiter, welche Filme ins Kino kommen, weil sie die notwendigen Kontakte hat. Doch im Zuge der Rezession Mitte der 70er Jahre geht es abwärts mit der SOPACIA. Die meisten schwarzafrikanischen Länder erhöhen die Billetsteuern, und gleichzeitig wächst der politische Wille, sich vom französischen Verleihdiktat zu emanzipieren, lieber noch sucht man Verhandlungen mit den Amerikanern, Sowjets, Indern etc. 14 Staaten der frankophonen Region rufen eine eigene Verleihorganisation ins Leben, das CIDC (Centre Interafricain de Distribution Cinématographique), mit Sitz in Ouagadougou in Burkina Faso.

1979 jagt sich der Verwaltungspräsident der inzwischen defizitären SOPACIA eine Kugel in den Kopf, und die UGC übernimmt jetzt den Laden. Sie führt eine Politik der Afrikanisierung und zieht sich bald ganz zurück. Die neugegründete Tochterfirma UAC (Union africaine de cinéma) überlässt die Verleiharbeit dem CIDC, die 570 auf Lager befindlichen Filme werden ihm auf Kredit verkauft. In Paris entsteht auf Wunsch der UAC das CIDC-France, eine Einkaufsgesellschaft, die von der UAC beliefert wird. Der französische Tycoon hat es sich also zuoberst am Flaschenhals bequem gemacht. Er nutzt sein Knowhow weiterhin aus und beliefert das CIDC zu übersetzten Preisen, unter den Bedingungen von üblen Package-Deals, en bloc-Verkäufen. Zudem stellt sich heraus, dass ein grosser Teil der Filme, die das CIDC vom SOPACIA-Stock gekauft hat, in unbrauchbarem Zustand sind. Die mutig gestartete panafrikanische Verleihorganisation ist demnach nach einem Jahr schwer verschuldet und kann kaum neue Filme kaufen. Die afrikanischen Kinobesitzer murren immer mehr und beginnen sich aus anderen Quellen zu versorgen. So kommt es, dass Anfang der 80er Jahre zum Beispiel in der Stadt Lomé in Togo von den 75 Filmen, die während zwei Wochen in vier Kinos laufen, 90% aus normalerweise unverkäuflichen türkischen, arabischen und indischen Beständen kommen, ergänzt durch Erzeugnisse der Serie Z, unsägliche Billigprodukte aus italienischen, spanischen, deutschen, griechischen und asiatischen Studios.

Neuer Anlauf mit Hindernissen

Um die gegenwärtige Situation genau zu verstehen, müssen wir uns mit der Struktur des CIDC befassen. Das Zentrum war mit folgenden programmatischen Absichten entstanden:

• Es sollte als Dachverband der nationalen Verleihgesellschaften der 14 Mitgliederländer fungieren, Filme einkaufen und den potentiellen Markt versorgen, ausgehend von der Überlegung, dass nur für eine grössere Region der Einkauf von Filmen auf dem Weltmarkt sich wirtschaftlich lohnt. Wenn das CIDC als alleiniger Käufer des frankophonen Schwarzafrika auftritt, kann es billig einkaufen, weil keine Konkurrenz die Preise hochtreibt.

• Das CIDC reserviert einen Teil seines Angebots für afrikanische Filme und verpflichtet seine Mitglieder dazu, diese Filme nach einem Quotensystem vorzuführen.

• Innerhalb des CIDC wird eine Harmonisierung der jeweiligen nationalen Filmpolitik angestrebt und die diversen Bemühungen koordiniert, d.h.

• es werden gemeinsame Schritte unternommen, um die hohen Billetsteuern zu verringern,

• die afrikanischen Filme werden an der Kinokasse nicht besteuert,

• ein Teil der staatlichen Einnahmen und der CIDC-Profite wird in nationale Fonds eingespeist, aus denen wiederum afrikanische Filmprojekte finanziert werden sollen.

Neun Jahre hatte es gebraucht, bis diese Organisation endlich die Arbeit aufnahm (die ersten Treffen der Minister waren schon 1972 über die Bühne gegangen). Neben den Liquiditätsproblemen und der weiter vorn erwähnten Abhängigkeit von der UGC-Tochter UAC machten dem CIDC die mangelnde Kooperation der einzelnen Länder zu schaffen. Staaten mit ganz unterschiedlichen Wirtschaftssystemen und politischen Ideologien hatten sich unter der Kinoflagge zusammengefunden: Doch der gemeinsame Nenner war zu klein. Einzelne Länder behielten es sich vor, ihre Kinos über andere (amerikanische, indische, sowjetische) Verleiher zu versorgen. Wieder andere waren noch nicht einmal soweit, dass sie das Kinowesen nationalisiert hatten, das CIDC musste also mit jedem einzelnen Kinobesitzer verhandeln und Basisarbeit leisten (was in manchen Fällen auch sinnvoll war, denn die „staatlichen“ Kinobesitzer waren keineswegs sensibilisierter für die Problematik). Und dann: Wieso sollten überhaupt die einzelnen Staaten, die ihre politische Existenzberechtigung aus dem Eintreiben von Steuern herleiten, just auf die Pfründe der Billetsteuer verzichten? In den Industrieländern sieht die Verteilung der Box Office-Einnahmen folgendermassen aus: Kinobesitzer 50%, Verleih und Produktion 40%, Staat und Autorenrechte 10%. In Afrika hingegen erhält der Staat mindestens 25% der Kasseneinnahmen.

Mitte der 80 er Jahre war das CIDC am Ende. Funktionäre hatten sich mit der Kasse davongemacht, die Steuern waren nicht harmonisiert worden, die Fonds zur Filmförderung in gewissen Ländern nie gegründet worden. Die Kinobesitzer programmierten lieber Hindu- und Karate-Routine, statt auf die 50 afrikanischen Qualitätsfilme zurückzugreifen, die das CIDC, liebevoll konserviert, auf 35 mm aufgeblasen und untertitelt hatte. Anfang 1987 hatte die FEPACI (Fédération panafricaine des cinéastes), die Organisation der afrikanischen Cineasten, begriffen, dass nur noch der Druck der Produzenten die Situation verändern konnte: Sie nahm die Geschicke des CIDC in die Hand. Wenn alles klappt, soll das Grundkapital des CIDC von den verschiedenen Ländern noch einmal aufgestockt werden, eine Kommission von Filmemachern soll die Leitung des CIDC übernehmen, für Kontinuität bürgt der allseits geachtete Präsident der FEPACI, Gaston Kaboré, eine moralische Autorität in Afrika. Falls aber die Mitgliedsstaaten sich weiterhin für eine gemeinsame Politik als unfähig erweisen sollten — das wahrscheinliche Szenario —, sind einige Staaten gewillt, eigene Wege zu gehen. Die konsequenteste Filmpolitik betreiben momentan Senegal und Burkina-Faso. Beide Länder unterstützen mit staatlichen Mitteln die eigene Produktion, beide Länder bemühen sich, keine politischen Kriterien aufzustellen, wenn über Vergabe von Beiträgen entschieden wird (was natürlich ein illusorischer Wunsch ist). Burkina-Faso leitet seit sieben Jahren die Billet-Steuereinnahmen aus nichtafrikanischen Filmen in einen Fonds, und seither konnten rund zehn Spielfilme solchermassen finanziert werden, darunter immerhin Werke wie Cissés Yeleen (in Koproduktion mit Frankreich und Mali) und Le Choix von Idrissa Ouedraogo. Man kann ruhig sagen, dass sich das Volk der Burkinabé den Luxus einer eigenen Filmproduktion „erleidet“, indem es an 300 Tagen sich ein westliches Abfallprodukt ansieht, damit es jährlich an wenigen Abenden einige afrikanische Filme zu Gesicht bekommt. Dann aber sind ganze Familien stundenlang unterwegs, wenn der Film ins Dorf kommt.

Aussichten für die Zukunft

Ungelöst bleiben nach wie vor zwei Fragen. Erstens: Wie lösen sich die afrikanischen Film Verleiher aus der Abhängigkeit von den Grossen des Weltmarkts? Auch ein effizienterer CIDC wird mit diesem Problem konfrontiert sein. Denkbar wäre, dass die Afrikaner ihr wirtschaftliches und politisches Gewicht in die Waagschale werfen. Dazu bedarf es aber mehr Einheit der Nationen. Andererseits sind auch Bestrebungen im Gange, die Sprachgrenzen zu überwinden, was den Afrikanern mehr Einfluss gäbe. Ostafrika und Nigeria werden von den Amerikanern beliefert, einzig in Nigeria existieren lokale Verleihkanäle für einheimische Filme. Ghana, das politisch einen ähnlichen Weg geht wie Burkina-Faso und in Accra eine eigene Filmhochschule betreibt, könnte aus dem Einflussbereich der Majors ausbrechen. Die Ghanesen übrigens finanzieren immer mehr Filme über Koproduktionen. Längst einen eigenen Weg gegangen sind die portugiesischen Ex-Kolonien mit ihren nationalen Filmverleihern.

Zweitens: Wie wirken sich diese Veränderungen auf das afrikanische Filmschaffen aus? Eines ist klar: auch ein perfekt funktionierender Verleih- und Kinoapparat in den Händen der Afrikaner garantiert nicht, dass afrikanische Filme ihren Weg zum Publikum finden. Es kann scheitern an der politischen Zensur oder an der Ignoranz der Kulturverwalter, aber auch am Profitdenken und an der Verantwortungslosigkeit der Kinobesitzer.

Nach den langen Jahren fremder Bilder ist das afrikanische Publikum konditioniert. Jugendliche in gewissen ärmeren Quartieren von Dakar sollen die verklemmten Liebesgesten junger indischer Pärchen, die so gar nicht zur afrikanischen Kultur passen, von der Leinwand übernommen haben, die so gar nicht zur afrikanischen Kultur passen. Gleichzeitig entwickelt sich ein Anspruch an die Machart der eigenen Filme. Ein Arbeiter sagte mir während des Film-Festivals in Ouagadougou, diese afrikanischen Filme seien schon recht, aber das weltstädtische Filmprogramm in Abidjan, wo er als Gastarbeiter schuftet, sei halt schon was ganz anderes.

Die afrikanischen Filmer haben ihre Kunst in den letzten Jahren abseits vom Markt entwickelt. Unter grössten Schwierigkeiten wurden Filme gemacht, die oft den einzigen Ausdruck der afrikanischen Realität darstellten, trotz der fehlenden Mittel. Nun besteht die Gefahr, dass sich die Filmsprache verändert, wenn die Werke innerhalb eines effizient geführte Verleihsystems auf den Markt gelangen. Der afrikanische Filmer hat sich bisher bloss das Problem der Wahrheit, nicht das der Konsumerwartungen und Sehgewohnheiten gestellt. Er ist bis jetzt mit dieser Arbeitsweise gut gefahren. Was wird mit dem afrikanischen Film passieren, wenn die Regisseure mit einem bestimmten Publikumsgeschmack zu spekulieren beginnen, um ihre Filme „profitabel“ zu machen? Und wenn gleichzeitig immer mehr Filme für den Weltmarkt produziert werden, die den touristischen Allerweltserwartungen entgegenkommen? Und gleichzeitig die nationalen Fernsehgesellschaften immer mehr als Auftraggeber für Dutzendware auftreten?

Bevor sich das afrikanische Filmwesen noch vollends emanzipiert hat, riskiert es dieselbe Entwicklung zu einem kommerziellen Kino wie man sie in Ägypten, in der Türkei und in Indien hat mitverfolgen müssen. Eine künftige afrikanische Filmpolitik muss den afrikanischen Film also beschützen können, damit er ein „Waisenkind“ bleibt wie bisher.

Miklós Gimes
ist Mitglied des Filmkritiker-Teams des Zürcher Tages-Anzeigers.
(Stand: 2019)
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