MIKLÓS GIMES

EIN GESPRÄCH MIT OUSMANE SEMBÈNE

ESSAY

Es geht nicht darum zu zerstören, es geht darum, die eigene Kultur wiederzufinden.

Der 64jährige Ousmane Sembène ist zweifellos einer der profiliertesten Sprecher des Kinos der Dritten Welt. Ursprünglich Hafenarbeiter in Marseille, hat der Senegalese als Autodidakt zu schreiben begonnen, bevor er in Moskau die Filmhochschule besuchte. Seither schreibt er Romane und macht Filme. Sein Haus in Dakar ist Treffpunkt aller durchreisenden Künstler, welcher Hautfarbe auch immer. Borom Sarret von 1962, die Geschichte eines Lastkarrenschleppers, ist einer der ersten afrikanischen Filme überhaupt. Es folgten Manda-bi, Emitai, Xala, Ceddo. Ousmane Sembène ist für seine Heimat Aushängeschild und gleichzeitig ihr unbequemer Kritiker. Xala, eine Satire auf die neue Klasse der arrivierten Polit- und Wirtschaftsbonzen, durfte jahrelang nicht gezeigt werden. Seit 1976 (!) sucht Sembène Geld für sein neuestes, grosses Projekt, Samori. Er findet, er dürfe auch einmal die Mittel haben, die seinen US-amerikanischen und europäischen Kollegen zur Verfügung stehen.

Miklós Gimes: Sie haben einmal gesagt, die Freiheit des Künstlers misst sich an der Freiheit der Völker. Wie steht es heute mit der Freiheit des Künstlers in Afrika?

Ousmane Sembène: Der Satz gilt heute noch. Afrika entwickelt sich, die afrikanischen Völker entwickeln sich auch. Ich glaube in der afrikanischen Kultur war der Künstler immer frei. Er war der Herr des Wortes (maître de la parole). Und seinem Bewusstsein waren Grenzen gesetzt.

Durch den politischen Diskurs?

Nein, wegen der Sorge um die Wahrheit.

Was ist die Wahrheit für den afrikanischen Künstler?

Die Wahrheit ist das Interesse der Massen. Wenn ein Potentat seine oder eine Regierung ihre Rechte überschreiten, anerkennt die Masse den Künstler. Das ist die Kraft Afrikas. Der Künstler ist nicht ein Auserwählter. Man ist nicht Künstler von Geburt, durch das Blut. Das Volk anerkennt den Künstler, wenn es merkt, dass dieser von der Sorge um dessen Würde ausgeht. So wird der Künstler von selbst zum Wortführer (porte-parole) des Volkes, ohne dass er explizit dazu beauftragt worden wäre.

Wird sich das ändern im Zuge der Entwicklung der afrikanischen Gesellschaft? Wird der Künstler eine andere Repräsentanz bekommen als diejenige des schlechten Gewissens der Macht, vom Volk anerkannt, von der Macht respektiert?

Das kann sich ändern. Aber die Macht hat diese Situation, hat dieses Gewissen nie respektiert. Die Macht wird immer versuchen, sich die Stimme des Künstlers anzueignen, in allen Staaten der Welt.

Nun ist in Afrika wahrscheinlich nicht nur der Künstler auf der Seite der Macht. Die Kunst ist auch eine monetäre Industrie geworden. Ein neuer Widerspruch, eine neue Dualität, was die Freiheit des Künstlers betrifft, sowohl als Individuum, als auch in seiner ökonomischen Abhängigkeit. Alle afrikanischen Regierungen kontrollieren die Presse und das Fernsehen. Permanente Zwänge sind das Resultat, Patentlösungen sind nicht möglich.

Immer wieder ist hier (während des panafrikanischen Filmfestivals, M. G.) bei den öffentlichen Debatten von den Filmern verlangt worden, politische Lösungen aufzuzeigen. Übertrieben gesagt scheint mir der afrikanische Künstlerfestgenagelt zwischen Repression und Mobilisierung.

Festgenagelt ist das falsche Wort. Man macht die Revolution nicht per Prokura. Das Volk macht die Revolution, nicht der Künstler. Der Künstler ist das Bewusstsein, das im gegebenen Moment Positionslichter anzündet. Wenn vom Künstler politische Lösungen verlangt werden, heisst das, dass das Volk den Kampf aufgibt. Das sind die Widersprüche innerhalb der afrikanischen Gesellschaft, die es immer schon gegeben hat und die es auch in Zukunft geben wird.

Wie wird der Spielraum des Künstlers, insbesondere des Cineasten, durch die vermehrte Existenz des Fernsehens verändert?

Den Handlungsspielraum des Künstlers kann ich nicht ermessen. Das Gewicht des Künstlers im Bewusstsein des Lesers oder Zuschauers kann nicht materiell verifiziert werden. Doch das Fernsehen hat grosses Gewicht. Sein Programm wird von der Regierung bestimmt, und was dieser Kasten ausstrahlt, macht die afrikanische Kultur kaputt.

Und was machen die afrikanischen Cineasten, versuchen sie ins Fernsehsystem einzudringen?

Schon, aber auch hier habe ich keine Lösungen parat. Wir suchen Wege, die Massen zu erreichen. Nicht einmal ein Drittel der Bevölkerung hat die Mittel für einen Fernseher (in Senegal, an der Elfenbeinküste sind es mehr, in den meisten anderen schwarzafrikanischen Ländern weniger, M. G.). Für die „Fernsehlosen“ muss man andere Wege finden.

Sie selber haben in Senegal eine Produktionsfirma aufgebaut. Wie funktioniert sie?

Nach den Gesetzen des Kapitalismus. Da ist kein Unterschied. Seit 20 Jahren produziere ich meine eigenen Filme, kümmere mich um die Finanzierung, stelle die Leute an.

Sie suchen noch immer Mittel für ihren nächsten Film, Samori, die Geschichte des letzten senegalesischen nichtislamischen Königs. (Das Projekt war einmal auf10 Millionen Franken veranschlagt, M. G.)

Ja, seit zehn Jahren. In der Zwischenzeit arrangiere ich mich. Ich schreibe Bücher, mache Filme im Auftrag, „films alimentaires“, Filme für den Unterhalt.

Unterstützen Sie oder ermutigen Sie junge Cineasten in Senegal?

Nicht direkt als Produzent, sondern als Vorsitzender der nationalen Produktionsgesellschaft, die vom Staat jedes Jahr 250 Mio Fr. CFA (1,25 Mio SFr.) bekommt.

Können Sie die Auswahl der zu unterstützenden Projekte beeinflussen?

Nein. Das Selektionskomitee ist von den staatlichen Strukturen unabhängig. Es handelt sich aber durchaus um Leute, die das Vertrauen der Cineasten haben.

Im Senegal ist eine neue Generation im Kommen. Ich glaube, diese Filmemacher werden weiter gehen als ich. Sie werden mehr und bessere Sachen machen als ich. Sie haben eine neue Handschrift, eine neue Art zu sehen, andere Themen. Ich denke, am nächsten FESPACO in Ouagadougou wird man dies sehen.

Welche Rolle spielt das „Vaterland“?

Für uns spielt dies eine grosse Rolle. Man darf nicht vergessen, dass wir vier Jahrhunderte Sklaverei hinter uns haben und elf Jahrhunderte Kolonialisierung. Unsere Staaten bestehen aus vielen Ethnien, Nationalitäten würde man in Europa sagen. Jetzt sind wir im Begriff, etwas Gemeinsames, eine Föderation zu bilden. Das ist doch sehr wichtig. Wir wollen ein nationales Kino.

In afrikanischen Filmen kommt oft der Diskurs vor der Story, das Pädagogische vor dem Narrativen, die Anklage vor dem Vergnügen.

Das werden wir hinter uns bringen. Ich bin sicher, dass wir diese Periode hinter uns lassen werden, es handelt sich um eine Kinderkrankheit.

Hat das mit dem Auftrag des Künstlers zu tun, den Sie vorhin beschrieben haben?

Die Sachen hängen miteinander zusammen. Du musst wissen, wer du bist, woher du kommst, um zu wissen, wohin du gehst. Für den Moment befindet sich das afrikanische Kino bei dieser Weisheit. Ich bin sicher, in den nächsten zwei, drei Jahren wird sich das ändern. Die erzählerische, fabulierende Seite des Cineasten wird hervorkommen und nicht nur die spekulative.

Die Probleme des Verleihs afrikanischer Filme sind nicht gelöst. Überhaupt die Probleme des Verleihs...

Und in der Schweiz sind sie gelöst? In Europa überhaupt? Es ist wichtig, die Probleme zu konfrontieren, die sich uns allen stellen. Gewisse Probleme überschreiten geografische Räume, schwarze und weisse; die Gesetze der wirtschaftlichen Entwicklung, die Gesetze des Kapitalismus und der marxistischen Ideologien sind eigentlich klar genug.

Welche Möglichkeiten gibt es, damit das afrikanische Publikum mehr afrikanische Filme sehen kann, und was kann ein europäisches Land wie beispielsweise die Schweiz dazu beitragen?

Zuerst einmal ist das eine afrikanische Angelegenheit. Wir werden unseren Feinden und unseren Freunden in die Augen sehen. Europa ist ein Markt. Man muss ihm Filme verkaufen, wenn es sie will, sonst eben nicht. Die Hälfte Europas ist ohnehin von den Amerikanern kolonialisiert, so sieht eure Zivilisation aus.

Also, wir zerstören die Amerikaner...

Nein, nein, das geht nicht mehr, das könnt ihr nicht mehr. Es geht nicht darum, zu zerstören, es geht darum, sich die eigene Kultur wieder anzueignen. Und: Es geht nicht darum, den andern zu negieren.

Aber es stimmt schon: Für die Afrikaner ist es schwierig, afrikanische Filme zu sehen. Doch das wird noch kommen, allmählich. Das wird ein Sieg über uns selberwerden. Wir werden nicht andere besiegen, sondern uns selber. Im Moment entwickeln wir uns. Wir sind da, auf der Suche nach einem Partner, nicht mehr auf der Suche nach einem grossen Bruder, noch einer Mutter, noch einem Vater. Ça avance, ça avance.

Gespräch vom 25. Februar 1987; geführt in Ouagadougou, Burkina Faso

Miklós Gimes
ist Mitglied des Filmkritiker-Teams des Zürcher Tages-Anzeigers.
(Stand: 2019)
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