CYRIL THURSTON

DER SCHÖNE AUGENBLICK (FRIEDRICH KAPPELER, PIO CORRADI)

SELECTION CINEMA

Die rasche Entwicklung der fotografischen Abbildungstechnik und der Umfang der heutigen Bilderflut lassen uns leicht vergessen, dass seit der Entdeckung der Fotografie kaum 150 Jahre vergangen sind. Der schöne Augenblick ist eine dokumentarische Studie über den Beruf des Fotografen. Durch ethnographische Annäherung an verschiedene Fotopioniere und Gebrauchsfotografen erhält der Zuschauer Einblick in die Geschichte der Fotografie.

Im Zentrum des Films steht die Fotografenfamilie Aschwanden. Seit drei Generationen wird in dieser Familie fotografiert. Michael Aschwanden, der zunächst den Beruf des Porträtzeichners erlernte, wandte sich früh der Fotografie zu und verdiente seinen Lebensunterhalt als Wander- und Strassenfotograf. Er ist einer der vielen vergessenen Fotopioniere. Sohn Richard Aschwanden hat die ganze Entwicklung der Fotografie miterlebt. Als Kind hat er den Vater noch begleitet, schon bald aber übte er den Fotografenberuf im Rahmen eines Geschäftes aus. Dort betätigt er sich bis heute als Allroundfotograf, der trotz seiner 75 Jahre immer noch von Termin zu Termin eilt, um irgendwo ein Schlösschen, ein Altarbild oder eine Kompagnie Soldaten zu fotografieren. Das Geschäft führt inzwischen seine Tochter, die selber nicht mehr fotografiert. Den bescheidenen Fotoladen des Vaters hat sie in einen modernen Fotodienstleistungsbetrieb umgewandelt. Arbeitsteilung und Spezialisierung haben zu einer laufenden Vergrösserung des Geschäftes geführt, in dem heute rund ein halbes Dutzend Leute arbeiten.

Ergänzt wird dieses Familienporträt durch die Begegnung mit weiteren Exponenten der Gebrauchsfotografie. Vom Eifer und der Behutsamkeit, mit der die Fotopioniere ans Werk gingen, zeugen die Tagebuchaufzeichnungen eines Paters, der als erster im Kanton Uri einen Fotoapparat besass. Der Wanderfotograf Ernst Hiltbrunner, der auf autodidaktischem Wege das Handwerk lernte, fotografierte hauptsächlich die Bauernwelt im Emmental und wurde auf diese Weise zu deren Chronisten. Später hat auch er einen Fotoladen eröffnet. Im Gegensatz zu diesen sesshaft gewordenen Fotografen arbeitet Jean Amrein auch heute noch als Strassenfotograf. Mit seiner Polaroidkamera hält er in den Bars und Night Clubs des Zürcher Niederdorfs die flüchtigen schönen Momente fest. Seine Kamera hat den Vorteil, dass der Kunde keine Reproduktionen zu befürchten braucht.

Im Dokumentarfilm von Friedrich Kappeler und Pio Corradi wird auf anregende Weise die Entwicklung der Fotografie als Handwerk aufgezeigt. Der Film wird von einem Ernst und einer leichten Heiterkeit getragen, in welcher auch Situationskomik Platz hat, die nicht verletzt. Er vermittelt zahlreiche visuelle Reflexionen über die Möglichkeiten der Fotografie und über das Verhältnis der Fotografie zur Wirklichkeit. Deutlich erscheint auch die Rolle, die der Fotograf im Rahmen einer Kleinstadt zu erfüllen hat. Er ist immer noch der Chronist und Dokumentarist besonderer Anlässe, der sein handwerkliches Können in den Dienst der Wünsche der Abzubildenden stellt. Es wird spürbar, wie die geschätzte Fotografie die Realität überhöht und mystifiziert. Eindrücklich erscheint die Diskrepanz zwischen der Leidenschaft und Besessenheit der Fotopioniere und der Tätigkeit eines heutigen Gebrauchsfotografen, der routiniert und mit raffinierten technischen Hilfsmitteln den flüchtigen Augenblick vermarktet. Der schöne Augenblick ist ein unaufdringlicher und ruhiger Dokumentarfilm, der die Dargestellten ausgiebig selber zu Won kommen lässt. Die Kommentierung geschieht zurückhaltend. Obwohl vom Thema her naheliegend, wirkt der Film nirgends nostalgisch. Wenngleich die Porträtierten mit Liebe und Einfühlungsvermögen gezeichnet werden, enthält der Film dennoch auch kritische Ansätze. Zum Beispiel, wenn gezeigt wird, wie die Lehrtochter der Aschwandens nach der Abschlussprüfung das Geschäft verlässt, weil sie spürt, dass sie in dieser Umgebung ihre persönlichen und künstlerischen Vorstellungen nicht verwirklichen kann. Zwischen ihren Fotografien und denen, die in Altdorf produziert werden, liegen Welten.

Cyril Thurston
geb. 1957, seit 1982 für die Programmierung des Kinos Xenix in Zürich mitverantwortlich, Mitarbeiter des Filmfestivals Locarno 1987/88, hat verschiedene Kurzfilme realisiert und ist seit 1991 mit einer Senegalesin verheiratet.
(Stand: 2019)
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