CYRIL THURSTON

DIE REISE (MARKUS IMHOOF)

SELECTION CINEMA

Die Reise stellt das Einzelschicksal eines jungen Mannes dar, der während des Zweiten Weltkrieges zur Welt kam. Bedingt durch seine Herkunft und Erziehung, kann er in vielem als typischer Fall eines Aktivisten der 68er Bewegung betrachtet werden. Sein Handeln wird hergeleitet als Folge der Zeitumstände und der Erziehung, die noch auf ihn wirken. Der Film beruht auf dem autobiographischen Roman Die Reise von Bernward Vesper, 68er Aktivist und eine Zeitlang Lebensgefährte der deutschen Antiimperialistin und Revolutionärin Gudrun Ensslin.

Markus Imhoof erzählt die Filmgeschichte auf zwei sich entgegenlaufenden Ebenen. Die Rahmenhandlung, die Gegenwartsebene, zeigt die Flucht eines jungen Vaters mit seinem fünfjährigen Sohn Florian aus dem Umfeld einer politisch militanten Gruppe heraus. In Rückblenden, zwischengeschnitten, wird die Lebensgeschichte des Vaters aufgerollt. Überschattet ist die Jugend Bertrams vom Zusammenbruch nach dem Zweiten Weltkrieg und der Nazi-Vergangenheit seines reaktionären, patriarchalischen Vaters. Als Kind und Jugendlicher erlebt er die Zeit des Wiederaufbaus und Neuanfangs nach dem Kriege bewusst mit. Er wird geprägt vom Wirtschafts- und Fortschrittsglauben, der US- amerikanischen Kaugummi-Ideologie und von den autoritären, nach Zucht und Ordnung rufenden Erziehungsmethoden der Eltern. Als junger Erwachsener leidet er am Erbe, an der Schuld der Väter. Die irrsinnigen Machtdemonstrationen des Westens in der Dritten Welt, vorab in Vietnam, sind Kristallisationspunkte: Da will er dagegen ankämpfen.

Das Ende des Zweiten Weltkrieges, und mit ihm die alliierten Truppen, stehen buchstäblich vor der Haustür. Bertrams Vater, ein bekannter Nazi-Schriftsteller, vernichtet in letzter Minute Dokumente, die seine Sympathien für die Faschisten belegen könnten. Nach dem Zusammenbruch lässt der Lehrer Bertrams von der faschistischen Ideologie geprägte Gedichte, unter anderem diejenigen von Bertrams Vater, aus dem Lesebuch reissen. Nicht verkraften kann der Vater Bertrams die Niederlage seiner einstmals so hochgejubelten arischen Heimat-, Boden- und Ackerphilosophie. Das Fehlen seiner Gedichte in Bertrams Lesebuch verletzen ihn in seinem Selbstwertgefühl. Er verlangt von seinem Sohn, dass er sich dafür bei ihm entschuldigt und die ausgerissenen Seiten wieder einklebt. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, setzt er den Sohn unter psychischen Druck und verbietet der Familie, mit Bertram zu sprechen. Bertram lässt sich durch die perfide Strafe des Vaters nicht kleinkriegen, lehnt sich gegen dessen Haltung auf. Das Vertrauen zwischen Sohn und Vater ist gebrochen, das Verhältnis schwierig. Gezeichnet durch den allgemeinen Prestigeverlust, versucht der Vater seine für ihn nach wie vor gültige, von der Gesellschaft offiziell verworfene Ideologie seinem Sohn aufzudrängen.

Einige Jahre später wird Dagmar, die Freundin Bertrams, schwanger. Die beiden beschliessen nach langem hin und her, das Kind zu behalten. Während eines Besuchs zu Weihnachten bei den Eltern gelingt es Bertram nicht, diese Entscheidung den Eltern mitzuteilen. Zu tief sitzt das Misstrauen, der latent vorhandene Hass bricht hervor und eskaliert zur offenen verbalen Auseinandersetzung. Die angestaute Spannung zwischen Vater und Sohn ist unheimlich intensiv und beklemmend gezeichnet, so dass sich der Zuschauer ihr nicht entziehen kann. Die Wut Bertrams gegen den Vater ist ebenso eine Wut gegen die Gesellschaft, eine Gesellschaft, deren Autoritätsanspruch denjenigen des Vaters widerspiegelt. Der Zorn Bertrams richtet sich demzufolge auf greifbare Machtzusammenhänge, wie sie für ihn in Vietnam sichtbar werden. Bertram engagiert sich in den 68er Revolten, er beteiligt sich an Aktionen, bei denen versucht wird, das System zu demaskieren, die Verbindungen zu den Verbrechen an der vietnamesischen Bevölkerung aufzuzeigen. Die zunehmenden Repressionen und Lügen des Staates treiben ihn und seine Freunde zu illegalen, militanteren Aktionen. Sie versuchen repräsentative Stellen des Systems zu treffen, werden dadurch natürlich in den Untergrund gedrängt, vom Staat verfolgt als Verbrecher. Bei einer dieser Aktionen erliegt Bertram seiner Menschlichkeit: im letzten Moment befreit er die Pferde aus dem „flambierten“ Polizei-Pferdestall und verhindert damit den vollen Erfolg der Aktion. Dagmar, die sich von ihm entfremdet hat, bezichtigt ihn als Verräter, als Spitzel. Sie muss untertauchen und setzt sich zusammen mit ihrem Kind und Freund ins Ausland ab. Bertram holt in Sizilien seinen Sohn von der Mutter weg und flüchtet mit ihm zurück nach Deutschland, an den Ort seiner Kindheit, wo er von der Polizei gestellt und verhaftet wird.

Dem Film gelingt es, Zusammenhänge zwischen der Kindheit Bertrams und seinem Handeln als Erwachsener nachvollziehbar aufzuzeigen. Warum jemand zu den Mitteln des radikalen oder gar bewaffneten Widerstands greift, ist indes noch lange nicht erklärt, geschweige denn verständlicher gemacht. Der Kindheitsfaktor mag ein Punkt sein, hinter militantem Agieren stehen aber politische Überlegungen, die wenig zu tun haben mit persönlichen Kindheitserlebnissen und sich nicht auf diese reduzieren lassen. Die Geschichte spielt im Umfeld der deutschen Roten Armee Fraktion und verlangt daher geradezu nach einer weitergehenden Auseinandersetzung mit ihr. Wird der Film betrachtet als Darstellung der verzweifelten, zerrissenen und belasteten Lebensgeschichte Bertrams, so überzeugt Die Reise durchweg. Vorgeführt wird uns während 110 Minuten perfekt gestaltetes Kino mit Szenen, die unter die Haut gehen, Betroffenheit zurücklassen, Gedanken in Bewegung bringen. Die Charaktere der zwei Protagonisten, Bertram und sein Vater, sind präzis gezeichnet. Problematisch bleibt der Anspruch, dass der Film umfassendere Zusammenhänge aufzeigen will. Die Reise analysiert die 68er Generation in einer wichtigen, aber nicht vollständigen Art. Neben den Protagonisten fallen alle restlichen Personen ab, sind blosse Gebrauchsfiguren zur Darstellung von Bertram und seinem Vater. Bertram ist ein exemplarisches Beispiel, über das es zu streiten gilt.

Cyril Thurston
geb. 1957, seit 1982 für die Programmierung des Kinos Xenix in Zürich mitverantwortlich, Mitarbeiter des Filmfestivals Locarno 1987/88, hat verschiedene Kurzfilme realisiert und ist seit 1991 mit einer Senegalesin verheiratet.
(Stand: 2019)
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