CYRIL THURSTON

ZUM BEISPIEL SONJA W. (JÖRG HELBLING)

SELECTION CINEMA

Schon der Titel deutet an, dass die Figur keinen Einzelfall wiedergeben soll. Sie ist ein Konstrukt aus einer Vielzahl von Personen. Jörg Helbling hat zu diesem Zweck eine Art Feldstudie betrieben. Er hat etliche Interviews mit Leuten geführt, die am Rande der Gesellschaft zwischen Verweigerung und Anpassung leben. Ausgehend davon hat er uns ein exaktes Bild einer „Szene“ gezeichnet. Er schildert präzis ein Zeit- und Lebensgefühl, das, bestimmt von eigener Betroffenheit, an Tiefe gewinnt. Sonja gehört zu den Leuten, die anfangs achtziger Jahre lautstark und gemeinsam mit der Parole „Macht aus dem Staat Gurkensalat“ auf den Strassen gegen die Konventionen der europäischen Metropolen rebelliert haben. In ihrer Haltung rennt sie noch heute gegen diese Konventionen an; jetzt allerdings alleine. Reduziert auf den Überlebenskampf, verspürt sie wenig Lust, sich der Konfrontation mit der Realität zu stellen. Sie beschreitet da den Weg des geringsten Widerstandes. Ihr Hauptanliegen ist der Friede: „Ich will den Frieden so, wie er mir passt, und wie er mir gefällt.“ Und sie meint, dass sie diesen Frieden eh nur in ihren eigenen vier Wänden habe. (In Fredi M. Murers Film Grauzone war es der Taxifahrer, der seine Wohnung zur autonomen Republik erklärte.)

Sonja lehnt es ab, sich an den Karren Produktion spannen zu lassen. Die Vorstellung, jeden Tag „einzufahren“, ist und bleibt für sie ein Graus. Sie versucht sich möglichst zum Nulltarif durchs Leben zu schlagen. Was sie braucht, verdient sie sich durch Gelegenheitsarbeit. „Fixe Ziele bringen es nicht.“ Da, wo andere den Kopf einziehen, aus Angst oder Karrieredenken, bleibt sie sich treu. Sonja denkt nicht daran, sich anzupassen. Sie verweigert sich der Integration, und sie verweigert sich gesellschaftlichen Autoritäten. Im Umgang mit Freunden und Freundinnen beharrt Sonja ebenso auf ihrer Eigenwilligkeit. Ihre Forderungen teilt sie zwar klar und unmißverständlich mit, Ansprüche jedoch, die an sie herangetragen werden, nimmt sie nur zögernd entgegen. „Amore e Anarchia“ lassen grüssen; dass sie mit ihrem Verhalten Beziehungen gefährdet oder gar verunmöglicht, nimmt sie in Kauf, dass sie immer wieder auf die Nase fällt, bleibt ihr Risiko.

Dargestellt wird die Figur der Sonja von Jacqueline Hilty. Sie, wie auch die übrigen Darstellerinnen des Films tragen dazu bei, dass dieser inszenierte Dokumentarspielfilm ein eigentliches Zeitdokument geworden ist. In ihrem Spiel spiegelt sich die Betroffenheit. Der Dialog, spärlich verwendet, wirkt nicht aufgesetzt. Erzählt wird uns die Geschichte geradlinig, einfach, unkompliziert, ohne Anfang, mit offenem Schluss. Fast durchweg wird sie bestimmt durch die Präsenz Sonjas. Gebrochen wird diese Präsenz nur da, wo sich die Nebenfiguren direkt ans Publikum wenden und ihr Verhältnis zu Sonja reflektieren. Der Film ist von einer eindringlichen Dichte, erfrischend aus dem Leben gegriffen, vermittelt er uns eine Welt, die in jähem Gegensatz steht zur um sich greifenden, jung-dynamischen Yuppie-Szene.

Cyril Thurston
geb. 1957, seit 1982 für die Programmierung des Kinos Xenix in Zürich mitverantwortlich, Mitarbeiter des Filmfestivals Locarno 1987/88, hat verschiedene Kurzfilme realisiert und ist seit 1991 mit einer Senegalesin verheiratet.
(Stand: 2019)
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