CYRIL THURSTON

WELCHE BILDER, KLEINER ENGEL, WANDERN DURCH DEIN ANGESICHT...? (JÜRG HASSLER, URSULA L-M)

SELECTION CINEMA

Wie steht es heute mit dem politischen Film?

Jürg Hassler, bekannt von Filmen wie Krawall oder Gösgen, hat zusammen mit Ursula L-M den zugleich stillen wie auch eigenwilligen Film Welche Bilder, kleiner Engel... realisiert. Entgegen den allgemein gültigen Mustern wird der Film nicht von einer artifiziellen Dramaturgie getragen. Der Rhythmus des Films wird bestimmt durch das zufällig entstandene Handeln einiger Kinder. In langen Einstellungen wird uns die Welt dieser Kinder, die miteinander spielen und musizieren, vor Augen geführt. Wir sehen und spüren dabei, dass sie sich mit grosser Aufmerksamkeit, Bereitschaft und Geduld an alltägliche Begebenheiten heranwagen. Dank diesem Selbstverständnis im Rezipieren der Umwelt, der Realität, ziehen sie Lehren, sammeln Erfahrungen. Vermittelt und verstärkt werden die Erlebnisse der Kinder durch eingefügte Bilder der vier Jahreszeiten. Als integrierter Bestandteil der Kinderwelt, erstrecken sie sich als roter Faden über den ganzen Film.

Die Bilder faszinieren dabei in ihrer mystischen, unmittelbaren Schlichtheit. Insgesamt schaffen es die Autoren, bei uns längst vergessene und verdrängte Erinnerungen und Erfahrungen aus dem Gedächtnis zu locken. Spätestens beim Reflektieren des Films merken wir, was uns seit unserer eigenen Kindheit abhanden gekommen ist. Wir haben verlernt, uns Zeit zu nehmen, auf unspektakuläre Ereignisse zu achten. Eigenschaften, die wir uns, von einer profit- und konsumorientierten Gesellschaft haben rauben lassen. Jürg Hassler hat für diesen Film wiederum das 8-mm-Format gewählt, um eine störende und allenfalls die Sache bestimmende Technik zu vermeiden. Es ist ihm gelungen, ganz nahe an die Kinder heranzukommen. Er beobachtet sie, ohne dass seine Präsenz jemals behindernd wirkt.

Skepsis erregt der Film dadurch, dass nahezu alle schmerzlichen Aspekte der Kindheit ausgeschlossen bleiben. Kein einziger Streit, kein weinendes Kind brechen den Rhythmus des Films. Es fehlt auch die Auseinandersetzung der Kinder mit den für sie ebenfalls bestimmenden Umweltfaktoren wie Autos, Gewalt oder andere Hässlichkeiten der heutigen Welt. Hat sich Hassler damit abgekehrt von seinen gesellschaftskritischen, politischen Filmen? Ist er gar zum „Softi“ geworden, der sich trendgemäss weg von Alltagskämpfen, hin zur Bewältigung individueller Probleme, entwickelt hat, und der dabei seinen Sehnsüchten nach einer heilen, schönen Erwach- senen-Kindwelt erliegt?

Offensichtlich ist, dass Jürg Hassler in Welche Bilder... nicht mehr eine klare politische Absicht vertritt, die sich verbal wie auch in der Montage eindeutig herauslesen liesse. Hassler provoziert uns durch die Auswahl seiner Bilder. Mit seiner Darstellung und Schilderung einer eng begrenzten Kinderwelt lässt er den Zuschauerinnen eigene Interpretationsmöglichkeiten. Er appelliert mit seinem Film an unsere Emotionen, will sie zurückrufen und aktivieren. Auf dieser nichtverbalen Ebene des Films liegt seine subversive, politische Brisanz.

Cyril Thurston
geb. 1957, seit 1982 für die Programmierung des Kinos Xenix in Zürich mitverantwortlich, Mitarbeiter des Filmfestivals Locarno 1987/88, hat verschiedene Kurzfilme realisiert und ist seit 1991 mit einer Senegalesin verheiratet.
(Stand: 2019)
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