CYRIL THURSTON

PRÉCIS (VERONIQUE GOËL)

SELECTION CINEMA

Momente des Alltags, äusserlich unspektakuläre Begebenheiten einer Jugendlichen-Welt, das Suchen nach Sinn, Loslösung, das Ringen mit einer gesellschaftlichen Realität: das sind die Bilder, die Véronique Goël in Précis lose miteinander verkettet. Auf den ersten Blick scheint in den überlangen, schwarzweiß gedrehten Einstellungen nichts zu passieren. Zwei Jugendliche gehen auf einer Strasse, stereotyp bewegen sie sich vorwärts, eine Frau schläft und ein Mann kommt zur Tür rein, in fast unendlicher Wiederholung werden Abfallsäcke von der Strasse eingesammelt, eine Zugfahrt, eine junge Frau, die dem Jugendlichen, Iwan, den Kopf vollredet.

Iwan absolviert, den Eltern fern, eine Schule und bekommt von seiner Mutter immer wieder tadelnde Briefe. Er schreibt seiner Freundin, sitzt vor sich hin sinnierend in seinem Zimmer, trifft sich mit einem Freund im McDonald’s oder sitzt schweigend bei seinen Eltern im Fauteuil. Dieser spärliche, bruchstückhafte Handlungsablauf durchzieht den Film. Die einzelnen Situationen gewinnen erst bei genauerem Hinsehen an Tiefe, zeigen auf, wie Iwan in sich zurückgezogen ist. Véronique Goël zeichnet ein sehr düsteres, bedrückendes Bild der Adoleszenz und der mit ihr verbundenen Schwierigkeiten. Die kleinen Freuden Iwans ersticken im Sumpf, im Dreck der Gesellschaft. Nur kurz hält zum Beispiel sein Gefühl an, durch die Nacktheit, durch das kollektive Duschen nach dem Turnen diesen Schmutz wegspülen zu können. Äusserlich teilnahmslos, deprimiert, indifferent lässt Iwan alles über sich ergehen. Doch tiefer, verinnerlicht gleichsam, lauert der Widerstand, eine Eigensinnigkeit, die sich nur in der Verweigerung zeigt. Schweigend erträgt er den Tadel seiner Mutter, die andauernden Demütigungen. Ausdruckslos ist er über ein Buch gebeugt, geht er durch die Strassen, fährt er im Zug. Das Innenleben ist nur zu erahnen, kann vom Zuschauer selbst in den Protagonisten hineinprojiziert werden. Nur bruchstückhaft vermittelt der Film in assoziativen Gedankenfetzen, im Off-Ton gesprochen, innere Stimmungen und Gefühle von Iwan und seiner Freundin. Utopien, Frustrationen, Freud und Leid.

Véronique Goël hat einen in sich konsequenten Film geschaffen, der eine gequälte Jugend zeigt, eine bedrückende, triste Vision. Oder ist das die Realität, Teil der Realität? Ausweglosigkeit, Enttäuschung, Verweigerung? Ein Wecker, der klingelt, ein Umdrehen im Bett, regungsloses Daliegen neben seiner Freundin; Momente der bevorstehenden Trennung wohl, sprachlos, es gibt nichts zu sagen.

Der Film wird dominiert von einer depressiven Grundstimmung, die grösstenteils auch durch die Form des Films — lange, statische répétitive Einstellungen — vorgegeben wird. Alles, was man wahrnimmt, geschieht durch diese Form, die, wenn man sich näher auf sie einlässt, viele, subtile Details vermittelt, aber durch den Mangel an Bewegung zwangsläufig der Vitalität entbehrt. Alles scheint erstarrt, ausweglos, von tödlicher Lethargie. Der Film beginnt und endet mit einem langen Gang durch die Strassen. Am Schluss bleibt Iwan allein, überquert eine Brücke, und durch die Überblendung auf Weiss wird symbolisch die Leere gezeigt, in die er hineinschreitet.

Cyril Thurston
geb. 1957, seit 1982 für die Programmierung des Kinos Xenix in Zürich mitverantwortlich, Mitarbeiter des Filmfestivals Locarno 1987/88, hat verschiedene Kurzfilme realisiert und ist seit 1991 mit einer Senegalesin verheiratet.
(Stand: 2019)
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