MATHIAS KNAUER

FASCHISMUS, ANTIFASCHISMUS, SCHWEIZER FILM — EIN EXPOSÉ UND NOTIZEN ZU EINIGEN ASPEKTEN DER POLITISCHEN AESTHETIK

ESSAY

Immer häufiger sieht man sich heute bei der Beobachtung der Tagesereignisse bedrängt von Vergleichen mit politischen Vorgängen in den Dreißiger Jahren, der Zeit des erstarkenden Faschismus: die Zeichen mehren sich, daß Verwandtes sich zuträgt, das unaufhaltsam werden könnte. Fragt man sich, was die Filme unseres Landes in dieser Lage einer politischen Desorientiertheit helfen könnten, gerät man in Verlegenheit.

Kein Schweizer Filmemacher hat sich bisher den Faschismus zum Gegenstand einer ernsthaften Filmarbeit gemacht. Die Kompilationen von Erwin Leiser stehen beziehungslos zum Schweizer Filmschaffen: der erste dieser Filme, der sehr erfolgreiche Mein Kampf’ ist in Schweden entstanden, und wenn fünfzehn Jahre nach Kriegsende die Praesens seinen Eichmann produziert hat, so ändert dies nichts an der Grundtendenz, dass weder vor, während oder nach dem Dritten Reich die Schweiz den freiheitlichen Status, auf den sie sich so viel einbildet, genutzt hat, mit Filmen zum Faschismus, sei’s zum Protest, sei’s analytisch, Stellung zu beziehen. Es gilt für unsere Filmvergangenheit, was Günter Peter Straschek für Frankreich feststellen musste: „Die militärische Niederlage (...) im Juni 1940, der Untergang der Dritten Republik und die Teilbesetzung des Landes brachten für die Kinematographie keine wesentlichen Einschnitte — dasselbe gilt für die Befreiung vier Jahre später: die Grundlegung des Filmkapitalismus blieb unangetastet stehen.“2

Die traumatischen Erfahrungen der neueren Geschichte haben im Schweizer Film erschreckend wenig ihre Spur hinterlassen. In anderen Ländern war vor dem zweiten Weltkrieg, im Aufwind der Arbeiterkulturbewegung der zwanziger Jahre und seit 1929 zunehmend unter dem Banner des Antifaschismus, eine revolutionär gesinnte Filmbewegung entstanden: in Frankreich wurden zur Zeit der Volksfrontregierung etwa La marche du faim (J.M. Daniel), La vie est à nous und La Marseillaise (y on Kollektiven um Jean Renoir), letzterer auf Subskriptionsbasis, unmittelbar für die politische Bewegung produziert; in den Vereinigten Staaten gab es die Workers Film and Photo League, die Gruppen Nykino und später Frontier Films; in Holland arbeiteten Storck und Joris Ivens (Les maisons de la misère, Borinage, Nieuwe Gronden); in Deutschland Phil Jutzi, Slatan Dudow u.a., als international wirkender Anreger Willi Münzenberg — sie alle selbstverständlich unter dem Eindruck der filmischen Pionierleistungen in der Sowjetunion.

Demgegenüber scheint sich in der Schweiz Vergleichbares nur im Bereich der Filmclubs ereignet zu haben, deren Geschichte noch zu erforschen wäre, bevor es zu spät ist3, und abgesehen vom unprofessionellen Kurzfilm Der Rote Tag einer Gruppe der Sozialistischen Arbeiter-Jugend Zürich habe ich, auch in Darstellungen der Schweizer Filmgeschichte, nie von einer Produktion dieser Art gehört.

Die Traditionslinie einer Art demokratischen Schweizer Films lässt sich höchstens in ein paar wenigen Filmen wie Steibruch (Sigfrit Steiner), Fannet (Max Häufler) oder Wachtmeister Studer (Leopold Lindtberg) in Einzelmomenten ausmachen, aber auch nur, wenn man diese im Kontrast zum Umfeld der zeitgenössischen Peinlichkeiten betrachtet — heute ohne genaueres historisches Studium kaum noch dechiffrierbar.

Es kann glaubwürdig nicht behauptet werden, es handle sich bei dieser politischen Blindheit des Schweizer Films nur um Resultate einer Selbstzensur unter dem Vorzeichen der verhängnisvollen Burgfriedenspolitik, oder um ein taktisches Chiffrieren im Spannungsfeld der auch in der Schweiz sich verschärfenden staatlichen Filmzensur. Abgesehen vom immer zu bedenkenden Kolonialcharakter der europäischen Filmkultur liefert die wohl überzeugendste Erklärung der Hinweis auf den damals wie gerade auch heute wieder charakteristischen Opportunismus der Filmschaffenden, unter denen nicht wenige eher zum Schweinehund oder Kollaborateur werden oder mit solchen paktieren, als dass sie das Filmemachen aufgeben würden.

Nichts deutet darauf hin, dass nach 1945 ein aufgestautes Bedürfnis nach einer dezidiert antifaschistischen Korrektur am Bild der Welt und unseres Landes sich hätte Luft verschaffen wollen. Auch wenn man Verständnis dafür hat, dass in den ersten Nachkriegsjahren andere Aufgaben im Vordergrund gestanden haben als die sogenannt Bewältigung der Vergangenheit, so bestürzt doch die Feststellung, dass mit Franz Schnyders Der 10. Mai erst 1957 eine — künstlerisch leider wenig innovative — kritische Sicht auf die Schweiz der Hitlerzeit in unseren Kinos erschien — vom Publikum, wie man weiss, kühl aufgenommen.

Im zehnten Jahr nach 1945, da in Frankreich Resnais, Cayrol und Eisler Nuit et brouillard schufen, waren Polizist Wäckerli, Ueli der Pächter und Heidi und Peter die einzigen Kinoproduktionen unseres Landes.

Die Filme von 1945 bis 1955, soweit ihre Stoffe sich überhaupt mit der damaligen politischen Aktualität in eine Beziehung setzen lassen, weichen auffallend aus, wo immer sich sachlich ein kritischer Blick auf den Faschismus ergeben könnte. Die Schrecknisse der vergangenen Jahre erscheinen bloss als Decor, sind motivischer Fundus für selbstgerechte Machwerke der Richard Schweizer und Lazar Wechsler, die freilich mit einem Publikum kalkulieren konnten, das derlei gar nicht wahrnehmen wollte4.

Erst nach 1967 begann man, mit dem wachsenden Interesse an Geschichte und Traditionen der Arbeiterbewegung, sich deren Zerschlagung in Deutschland durch den Faschismus und in der Schweiz des Anfangs ihrer schleichenden Liquidation durch anpasserische Führer der Gewerkschaften im Friedensabkommen bewusstzuwerden. Zu diesem Zeitpunkt — die Reflexion auf das Trauma des Kalten Krieges steht noch aus —, rückte der Faschismus, aus der Distanz der Nachgeborenen gesehen und indirekt, über die Identifikation mit dem Antifaschismus, wieder ins Blickfeld des Schweizer Films. Zunächst mit Peter von Guntens Die Auslieferung, einem Film, der gleichsam stellvertretend an einem historisch weiter zurückliegenden Stoff die Auseinandersetzung mit den Widersprüchen der Neutralitätspolitik unseres Landes einleitete, ohne Zweifel der zentralen Problematik in bezug auf die Geschichte und aktuelle Haltung der Schweiz. Dann mit Rolf Lyssys Konfrontation, bislang immer noch dem einzigen Schweizer Film, der, bei grösster Oekonomie und Konzentration auf die Durchführung seines eng eingegrenzten Stoffes, ein vielschichtiges Bild von der Komplexität des Phänomens Faschismus und der Lage unseres Landes, zeichnet, das analytisch genannt werden darf.

Neben den Filmen, die sich mit der Aktion des Einzelhelden im Widerstand gegen den Faschismus stark machen (dramatische, öffentliche Aktion des David Frankfurter bei Lyssy; unausgeführtes, verstecktes und verdrängtes Attentat Maurice Bavauds in Es ist kalt in Brandenburg), führen zwei dokumentarische Arbeiten zurück zum politischen Alltag, zur Politik unseres Landes von 1933 bis 1945, auch zum Klassenaspekt von Faschismus und Widerstand. Gegen die Väter, die sich gedrückt haben, nehmen Schweizer im Spanischen Bürgerkrieg und Die unterbrochene Spur Partei für die Grosseltern und erhellen die Differenz zwischen den demokratischen Intentionen des unverblendeten Volkes und deren Domestikation durch die Staatsräson eines Landes, dessen Politik zwischen aussenpolitischem Opportunismus und Versuchen, den Anspruch seines ideologischen Demokratiebilds zu erfüllen, oszilliert.

Dennoch: es fehlten die Filme, von denen man uneingeschränkt sagen könnte, ihre zentrale Thematik sei der Faschismus. Filme, die einem zu diesem Stichwort einfallen, streifen den Faschismus mit der Beobachtung von Epiphänomenen, umkreisen ihn, machen ihn aber nicht analysierbar5. Vierzig Jahre nach der Niederkämpfung der Herrschaft Hitlers und Mussolinis, in Mitten einer neu aufkommenden Faschisierung unserer Länder unter dem Eindruck des sich verschärfenden globalen Ungleichgewichts und korrumpiert von der fortschreitenden Wohlstandsverdummung6 fehlen die Filme, die uns anregen, in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eine Haltung für unsere aktuelle Lage zu entwickeln.

Hätte der Schweizer Film in einem subversiven Sinne antifaschistisch sein wollen — also ohne Verwicklungen mit der deutschen Aussenpolitik zu provozieren —, so hätte er nur konsequent aufklärerischer Haltung sich befleissigen müssen. Er hätte also nicht noch 1943 in Marie-Louise den Unternehmer Rüegg als Garanten des echten Schweizertums hingestellt. Dass Wechslers Filme faschistoid seien, ist dennoch, bei aller Werbung für das Kapital, die Richard Schweizer in diese Bücher einbaute, eine irreleitende Behauptung. Sie waren Ausdruck der Betroffenheit des Bürgertums angesichts der Greuel, die seine Politik in ihrer konsequenten Durchführung zeitigte. Aber sie waren auch nicht antifaschistisch, so wenig wie ihr später Nachfahr, der Flüchtlingsfilm der Limbo.

Sie beuten das Elend der unter dem Krieg leidenden Völker und die Scheusslichkeiten der Faschisten aus, um dem wohlig im Fauteuil der Arvenstube Europas sitzenden Schweizer seine Selbstfeier und für zwei Stunden Gruseln und Spannung zu vermitteln. Ihre Dramaturgie rechnet mit den politischen Tölpeln im Saal, die nicht merken, dass das Geld, mit dem Rüegg dem Franzosenkind Marie-Louise das Honigfrühstück bezahlt, das sich die Arbeiter der Textilfabrik Rüeggs nicht leisten können, ihnen erst abgestohlen werden musste, bevor ihr Chef damit auf der Leinwand humanitär brillieren konnte.

Auch der Dokumentarfilm lebt von der Attraktion seiner Stoffe auf das Publikum. Beim Nachdenken über ein neues Sujet für eine Dokumentarfilmarbeit ertappt man sich manchmal bei der Überlegung, ob dieses sensationell genug sei, um überhaupt Zuschauer in das Kino — einen Saal — zu locken. Tritt dabei nicht eine kritische Instanz zwischen derlei Versuchungen und die Entscheidung — oder aber die Anforderungen einer politischen Bewegung, die regulierend wirken —, so kann man leicht auf die schiefe Bahn eines sozial leerlaufenden ästhetischen Privatunternehmens geraten.

Nicht ganz frei davon ist Es ist kalt in Brandenburg: das mystifizierte Europa, das dieser Film zeigt, liegt fern der praktischen Wirklichkeit unseres Alltags, ohne zugleich als Chiffre ästhetisch wahr — zwecklos und doch (politisch) lesbar — zu sein. Das meint nicht, es seien sozial nur Filme sinnvoll, die ein Thema argumentativ (oder gar didaktisch) entwickeln. Ganz im Gegenteil hat neben dem informierenden auch der ästhetisch reflektierende Film sein politisches Recht. Hingegen müsste dieser über Zusammenhänge von Fakten Reflexionen anregen, die in die politische Praxis hinein verlängert werden können und einen nicht bloss eintauchen in eine beklemmend düstere Aquariumwelt. Brandenburg arbeitet vorwiegend mit Stimmungen, während etwa Jekami die Grässlichkeiten in einer dialektischen Montage verdichtet zum Generator von Erkenntnis.

Die Greueltaten sind nicht charakteristisch für den Faschismus: auch unter anderen Parolen wird immer noch gefoltert, werden Kriege geführt und finden Pogrome statt. Eine Dramaturgie, die den Zuschauer zu einem Urteil drängen möchte, indem sie ihm nur die extremsten Aeusserungen der pervertierten Staatsgewalt vorführt, droht, vom politischen Zusammenhang abzulenken. Das lässt sich an Brandenburg beobachten: das gedankliche Kreisen um das Attentat (Hitler), die Kapitalstrafe (Bavaud) und die Exekution (Volksgerichtshof), lässt einen kaum mehr daran denken, welches die Motive Bavauds gewesen sein mögen. Darauf käme es aber gerade an, um politisch im Sinne des Antifaschismus wirken zu können.

Die Reduktion des Bilds vom Faschismus auf dessen Vergehen gegen die Rechtsstaatlichkeit verstellt die Sicht auf die Möglichkeit eines rechtsstaatlichen Faschismus, wie sie sich heute abzeichnet. Die Ueberhöhung ist dabei so gefährlich wie das Gegenteil: „Der Gegner muss verkleinert werden, und das fördert die falsche Politik, wie in der Literatur so auch in der Praxis vor 1933,“ hat Adorno Chaplin und Brecht gegenüber eingewandt. Nicht mit den Verbrechen beginnt der Faschismus, sondern mit dem Zerfall der politischen Kultur und der Desinformation der Massen.

Die Angriffe des Schweizer Bünzli (sei’s in der Form einer Abteilung Presse und Funkspruch, des Filmzensors oder eines Bundesrats Hürlimann) auf die Filme gegen den Faschismus liefern keinen Massstab für die politische oder ästhetische Bedeutung der Filme. Sie sind eher der Ausdruck einer allgemeinen Wirksamkeit, ein Indiz für den Oeffentlichkeitscharakter des Mediums. Erst recht nicht bedeutet ein Akt der Zensur, selbst wenn er von klar frontistischer Position aus erfolgte, dass das betroffene Werk antifaschistisch wäre.

Eingriffe unserer Zensur sind gut für die Werbung, aber politisch harmlos, solange sie nicht konsequent die Verbreitung der Unwahrheit erzwingen. Paradoxerweise haben zur Zeit der Pressezensur die Schweizer genauer die Zeitung gelesen und waren besser informiert als heute, da der Schein besteht, es herrsche Freiheit, aber die ökonomischen Gesetze umso ungehemmter den Werken Grenzen setzen können.

Zu einer Darstellung des historischen Faschismus in der Schweiz gehörte zunächst eine Darstellung des Frontismus. In diesem Bereich fehlen uns noch Arbeiten der Art, wie wir sie über den Antifaschismus haben. Heinz Bütlers Fernsehserie liefert dazu nicht einmal einen Ansatz; sie ist so ungenügend, dass sie ärgert, selbst wenn man die Produktionsbedingungen und den Erstlingscharakter der drei Sendungen bedenkt. Die Frontisten, die vor der Kamera auftreten, verraten nichts darüber, was doch in allererster Linie interessieren müsste: wie nämlich sie dazu geworden sind, was sie damals waren und heute immer noch nicht entschuldigen wollen, Opfer eines Sozialisationsprozesses in einem bestimmten politischen Umfeld, und dass ihre Untaten nicht Ausdruck einer endogenen Devianz sind.

Frontisten zu denunzieren genügt nicht in einem Film, der im demokratischen Sinne etwas verändern möchte. Das Demaskierungskonzept gehört heute zu den medialen Gemeinplätzen; seine Effekte sind ebenso billig zu haben wie die Nachwirkung zweifelhaft ist. Der Aufgabe, die Genese jener Ideologie, den Hintergrund der Frontisten, fasslich zu machen, widmet sich Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.. Der Film realisiert diese Intention indessen nur in der Haltung seines Fragens, kaum in der Person seines Objekts: Ernst S. ist, soweit es um den Komplex des Faschismus — also nicht der Klassenjustiz, die ebenfalls eine Hauptschicht des Filmes ausmacht — geht, eine Randerscheinung, Figur der Reservearmee, die wesentlich nicht den Kern einer faschistischen Bewegung bilden kann. Das politökonomische Substrat des Faschismus wird somit nicht analysierbar. Dies freilich ist kein Vorwurf an den Film, dessen Qualität ja gerade auch darin liegt, dass er sich nicht ein Paradigma ausgesucht hat, sondern von einem Menschen mit all seinen Widersprüchlichkeiten ausgeht.

Der Kalte Krieg kam mit seinem sektiererischen Antikommunismus gerade zur rechten Zeit, der schweizerischen Oeffentlichkeit den notwendigen Revisionsprozess ihres Geschichtsverständnisses zu ersparen, dem seit den ersten Veröffentlichungen über die dunklen Seiten der Schweizer Neutralitäts- und Flüchtlingspolitik 1954 nicht mehr ausgewichen werden konnte.

Wie tief die Einflüsse gingen, die von der Ideologie des Kalten Krieges auf unser Land wirkten, lässt sich etwa am Beispiel der Asylgesetzgebung beobachten: in einem Bereich, in dem die Schweizer eher nüchtern und handwerklich gediegen zu sein pflegen, sind im Hinblick auf die Flüchtlinge aus den sozialistischen Ländern Bestimmungen eingeführt worden, die so fortschrittlich waren, dass sie heute, da es — wie zur Zeit der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten — wiederum,nur‘ um die Menschenrechte geht, Schritt um Schritt zurückbuchstabiert werden müssen.

Wenn also derlei Verzerrungen bis in die Legislatur hineinwirken, so erst recht in die konjunkturabhängige Filmproduktion. Von daher wäre die Irritation der Schweizer Oeffentlichkeit, die Der 10. Mai bewirkte, zu erklären, und nicht wie Wider es sich vorstellt, dass der Film vom Publikum nicht verstanden worden sei. Schnyders Film hat mit seiner Thematik damals ganz einfach gestört; er ist sehr wohl verstanden worden.

Wollte ein ferner Nachfahr versuchen, sich auf Grund der Filme ein Bild von Alltag und Geschichte unseres Landes zu machen, so würde er von diesen auf phantastischen Holzwegen herumgeführt, mit einigen Ausnahmen natürlich, die er aber als solche nicht zu erkennen vermöchte. Da liegt gewissermassen der Ansatz von Werner Wider, und von daher hat dessen ideologiekritische Untersuchung auch ihr Recht — trotz der Beschränkungen der an der Literaturkritik sich orientierenden Methode, die sich einer weiterführenden Produktivität seiner Gedankengänge in den Weg stellt.

Wie sieht in den Filmen ihrer Zeit unsere Vergangenheit aus — wie wird einmal das Bild unserer Gegenwart sich zusammensetzen? Der neuere Schweizer Film, soweit er sich für die politische und soziale Wirklichkeit interessiert, erscheint als ein einziges Abtragen einer Schuld, die noch bis zu Kurt Früh ins Unerträgliche aufgelaufen war. Unter diesem Gesichtspunkt bildet der neuere Schweizer Film, Frühs zwei letzte Filme, Dällebach Kari und Der Fall, eingeschlossen, vor aller Differenzierung nach Positionen, fast eine Einheit.

Was einer einmal mit dem erhellenden Begriff des dramatischen Inzests bezeichnet hat, dass nämlich im Drama beispielsweise ein Kleiderhaken, der am Dekor angebracht ist, irgendwann einmal zum Aufhängen eines Huts oder Mantels dienen muss, wenn er anders nicht sinnlos sein soll, betrifft ein Schlüsselproblem aller ästhetischen Arbeit.

Die Erscheinungen, Motive in einem Netz von Repräsentationen, sind notwendigerweise funktional, dienen einem Zusammenhang. Wo sie aber sich in dieser Funktionalität erschöpfen, wo die Motive, die Personen, Objekte, die auftreten, die ins Bild genommen werden, nur für anderes, nicht aber zunächst für sich selbst erscheinen dürfen, zeugt sich nichts mehr fort, erzeugt der Text nur noch das Bild einer falschen Vergesellschaftung, der totalitären.

Dem Dokumentarfilm Die unterbrochene Spur hat man vorgehalten, er befasse sich immer nur mit dem Unbedeutenden: was sei denn ein Erismannhof im Verhältnis zu den Schauplätzen der Weltgeschichte, die es doch darzustellen gelte, wolle man die Epoche des Faschismus in den Griff bekommen.

Dass eine solche Argumentation von einem Marxisten kam, hat mich besonders irritiert, müsste er doch wissen, dass weder der Faschismus noch Antifaschismus das Werk von Politikern, von ‚konzeptiven Ideologen’ sein können, sondern stark sind einzig in der Zustimmung der ihre wirklichen Interessen verkennenden oder aber im Widerstand ihre Interessen wahrnehmenden Massen. Dass also politische Einsichten nur dort zu gewinnen sind, wo man sich mit Repräsentation der — statistischen und damit widerspruchsvollen — Wirklichkeiten konfrontiert sieht, nicht da, wo man sich — wie neuerlich noch im Cactus-Film Glut — von nach Abstraktionen modellierten Kasperlefiguren amüsieren lässt, die gerade soviel Charakteristika haben, wie es die historische und politische Erfahrung des die Figuren ausheckenden Drehbuchautors zulässt.

Es macht die Qualität und das politische Wesen von Dokumentarfilmen wie Je- kamt, Es ist kalt in Brandenburg, Die unterbrochene Spur, Schweizer im Spanischen Bürgerkrieg Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S. aus, dass sie, obwohl alle immanent thesenhaft, doch nie die Wirklichkeit verdecken, mit der sie arbeiten: eine Qualität, die im Bereich des fiktionalen Films nur den radikalsten Werken — und damit am Rande des Kinos — gelingen kann, nämlich den Kunstwerken, die sich dem unproduktiven Reimen verweigern.

Titel, Produktionsangabe und Regisseure — bei den älteren Werken mit Verweis auf die Filmographie von F. Aeppli (cf. Anm. 2):

Mein Kampf, Schweden 1960, Erwin Leiser.

Eichmann und das Dritte Reich, Praesens- Film 1961, Erwin Leiser (403).

Steibruch, Kollektiv der Gloriafilm 1942, Sigfrit Steiner (352).

Farinet ou L’or dans la montagne, Clarte-Films 1939, Max Häufler (322).

Wachtmeister Studer, Praesens-Film 1939, Leopold Lindtberg (328)

Mane-Louise, Praesens-Film 1944, Leopold Lindtberg (361).

Der 10. Mai/Angst vor der Gewalt, Neue Film AG 1957, Franz Schnyder (388).

Die Auslieferung, Cinov-Filmproduktion 1974, Peter von Gunten.

Konfrontation, R. Lyssy 1974, Rolf Lyssy.

Es ist kalt in Brandenburg (Hitler töten), HMS/Filmkollektiv 1980, Villi Hermann, Niklaus Meienberg und Hans Stürm.

Schweizer im Spanischen Bürgerkrieg, R. Din- do 1973, Richard Dindo.

Die Erschießung des Landesverräters Ernst S., Dindo/Filmkollektiv 1976, Richard Dindo und Niklaus Meienberg.

Die unterbrochene Spur, Filmkollektiv 1982, Mathias Knauer.

Jekami oder Dein Glück ist ganz von dieser Welt, Hollenstein/Filmkollektiv 1978, Roman Höllenstein.

Das Boot ist voll, Limbo-Film 1981, Markus Imhoof.

Glut, Cactus-Film 1983, Thomas Koerfer.

Cf. G. P. Straschek, Handbuch wider das Kino, Ffm. 1975. Um das Fehlen eines Bruchs 1933, 1939 und 1945 sich zu vergegenwärtigen, braucht man nur eine Liste der Schweizer Produktionen Revue passieren zu lassen (etwa in: Werner Wider/Felix Aeppli, Der Schweizer Film, Zürich 1981, t. 2, pp. 297-413). Erst das Einsetzen der Filmförderung und die Kooperation mit dem Fernsehen hatten Gewichtsverschiebungen zur Folge.

Die im Zürcher Adressbuch von 1939 verzeichnete IFO, Genossenschaft zur Vorführung von Russenfilmen an der Hohlstrasse 31; die Film- stelle für Kultur und Volk, die im Zürcher Kino Roland Vorführungen organisierte: beide sind meines Wissens in keiner Publikation erwähnt.

Diese Linie wird fortgeführt von manchen Produktionen neueren Datums, etwa von Das Boot ist voll (M. Imhoof, 1981) oder Glut (Th. Koerfer, 1983), mit dem Unterschied, dass an Stelle des Selbstgenusses der ‚humanitären Schweiz’, entsprechend einer in den sechziger Jahren von den ‚Nonkonformisten’ eingeleiteten Tendenzwende, nun ein Demaskierungshabitus mit ödipalen Motiven getreten ist.

Zu erwähnen wären noch Die Rote Pest (an- on., 1938), ein Pamphlet gegen den Bolschewismus, das gegen seine Intention fürs Studium des Faschismus von einigem Quellenwert ist, und die beiden Fernsehserien Die Schweiz im Krieg (Werner Rings, 1973) sowie Wach auf Schweizervolk! von Heinz Bütler, beides Fernseharbeiten von leider geringem Erkenntniswert.

Man braucht in Zürich heute nur das Alternative Lokalradio einzuschalten und wird beobachten, dass das kritiklose Verbreiten der kapitalistischen Verblödungsprodukte unter dem Sigel des Alternativen ein Ausdruck jener Orientierungslosigkeit ist, die, wie die Geschichte lehrt, umstandslos in offen faschistische umkippen kann.

Dass Medien dieses Schlages ab und zu auch etwas mit politischem Verstand gemachtes oder geistvolle Unterhaltung bieten, kann uns, in Anbetracht der strukturellen Wirkungen des Umfeldes solcher Beiträge, so wenig von einer unversöhnlichen Haltung abbringen wie etwa das üble Argument, man müsse dem Nationalsozialismus doch wenigstens lassen, dass er die Arbeitslosigkeit beseitigt und die Autobahnen habe bauen lassen, uns einen Augenblick von den Millionen seiner Opfer abzulenken vermag.

Mathias Knauer
1942, Musikwissenschaftler, politischer und Medienjournalist, Mitglied des Filmkollektivs Zürich, Filmemacher (Ein Streik ist keine Sonntagsschule, 1975; Kaiseraugst, 1975; Cinema mort ou vif, 1977; Aufpassen macht Schule, 1978; Die unterbrochene Spur, 1979/82; Pueblo, 1985), lebt und arbeitet in Zürich.
(Stand: 2019)
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