PETER SCHNEIDER

DAS GANZE LEBEN (BRUNO MOLL)

SELECTION CINEMA

Barbara, der fünfzigjährigen Lesbierin und ehemaligen Anstaltsinsassin aus Bruno Molls Film ist im Leben übel mitgespielt worden. Das ganze Leben macht nun aber nicht anstelle der Hauptperson die sozialen Zustände zum dominierenden Thema. Bruno Moll versucht, absichtslos seiner Intuition folgend, die sich ihrerseits an der von Barbara ausgelösten Faszination orientiert, ein Stück Leben zu reproduzieren: Fragmentarische, aber signifikante Erfahrungen der fünfzigjährigen Frau, welche, immer wieder in Erziehungsheime und Anstalten abgeschoben, ihre Vorstellung vom richtigen, gerechten und lebenswerten Leben doch nie aufgegeben hat, und die mit ihren Forderungen nach Liebe und Aufmerksamkeit die bürgerlicheren Mitmenschen provoziert. Bruno Moll bringt eine junge Akteurin (Serena Wev) ins Spiel, die einerseits mit Barbara auf offener Szene konfrontiert wird und so als ein Barbara zum Sprechen bringendes Medium funktioniert, anderseits aber Lebensstationen Barbaras autonom interpretiert. Dieses Hinübergleiten von der Konfrontation ins gelingende Rollenspiel suggeriert bei aller Unterschiedlichkeit ein Verständnis und eine Gemeinsamkeit zwischen den beiden Frauen. Serenas Soloauftritt als Punksängerin zum Schluss des Films emanzipiert sie wieder von ihrer schauspielerischen Rolle und aktualisiert gleichzeitig mit jungen, rebellischen Tönen die sentimentalen Lieder, mit welchen Barbara in der Zelle sich selber helfend gegen den Horror ansang.

Die Bilder, die sich Bruno Moll erdacht hat, motivieren sich gegenseitig so stark, dass man den Eindruck eines Essays erhält; eines Aufsatzes, der seine Sinnlichkeit aus der Differenziertheit und Ambivalenz des Erzählgegenstandes zieht, und nicht aus dem schlagfertig lauten Umgang mit einer These. Moll nagelt Barbara nicht durch einen Diskurs über psychiatrische, juristische und administrative Entmündigung in der Schweiz als Sozialfall fest, sondern er greift ihren Traum, ihre persönliche Fiktion vom Leben auf. Barbaras Lebensgeschichte ist eine Erzählung wider die Resignation, eine, die verzweifelt mutig die Erfüllung von Wünschen, Hoffnungen und Sehnsüchten herbeiredet.

Umso schauderhafter erscheint einem so die Anstaltsrealität.

Moll stellt der Aussenseiterin Barbara in einer Spielfilmhandlung den sich langsam erfüllenden ordentlichen Bürgertraum der fünfziger Jahre vom Reichtum gegenüber. Dieser stilistische Bruch und die inhaltliche Erweiterung mag verwirren, weil diese historische Dimension auf einen ersten Blick Barbaras Gegenwart weniger erhellt als ihrer sinnlichen Präsenz die Kraft raubt.

Peter Schneider
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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