PETER SCHNEIDER

GLUT (THOMAS KOERFER)

SELECTION CINEMA

Glut setzt sich mit der Standortlosigkeit einer Schweizer Fabrikantenfamilie auseinander, welche im 2. Weltkrieg den finanziellen Gewinn aus dem Gang der Geschichte mit dem Zerfall der familiären Verhältnisse und dem Verlust der Persönlichkeit bezahlt. Das Gesicht allerdings bleibt gewahrt mit öffentlicher Sanktionierung der Waffenausfuhrpolitik an alle Kriegsparteien durch die Politiker und selbst den General. Zur kritisch historischen Betrachtung gesellt sich ein die Doppelmoral aktualisierender Gegenwartsbezug: Es wird festgestellt, dass sich am Bewusstsein von Waffenfabrikanten und Militärs bis heute nichts geändert hat.

Im Jahre 1944 kommt das polnische, jüdische Flüchtlingskind Anna, eigentlich Hanna Drittel, in die Villa des schweizerischen Waffenfabrikanten François Korb. Andres Korb, der nachmalige Erbe der Pro- met-Werke, wird Annas Spielgefährte. Vierzig Jahre später treffen sich die beiden wieder: Hanna ist Journalistin, Andres Besitzer der Waffenfabrik geworden. Glut lässt Hanna und Andres im Off Kindheitserinnerungen erzählen, sucht sich im Bild aber einen eigenständigen Standpunkt, der die Kindheitseindrücke objektivierend ausweitet zu einer Milieuschilderung. Ein Riss geht durch die Industriellendynastie Korb, eine Spaltung, die in Beziehung gebracht werden muss zu den Kriegsereignissen in Europa, da der Film den Zerfall der familiären Beziehungen nicht individualpsychologisch motiviert. Der Unternehmer François Korb unterhält eine Liebschaft mit dem italienischen Dienstmädchen Antonieta, seine Frau Claire liebt François’ Bruder Albert. Das Kind Andres nimmt Zuflucht zur Stabilität einer Phantasiewelt. In dem von der Familie in den Dachstock abgeschobenen Grossvater, der keinen Hehl aus seiner Verachtung für die opportunistischen Geschäfte seines Schwiegersohns macht, findet Andres eine intégré Vaterfigur. Der Konflikt zwischen den in ideeller und gefühlsmässiger Allianz mit dem Grossvater verbündeten Kindern und der tätigen Unternehmergeneration kulminiert dramatisch: Zur gleichen Zeit da der General zu Besuch im Hause Korb weilt, halten die drei einen geflüchteten polnischen Internierten in der Villa versteckt. Der Unternehmer Korb zögert in Anwesenheit des Generals nicht und greift zur Waffe, als auf dem Dach der vermeintliche Pole, unter dessen Waffenrock sich allerdings sein Schwiegervater versteckt hält, erscheint. Anna muss auf dieses Vorkommnis hin das Haus verlassen. Als sie vierzig Jahre später beruflich in die Schweiz zurückkehrt, stellt sie fest, dass aus Andres, der sich geschworen hatte, wie sein Grossvater zu werden, eine genaue Kopie des Vaters geworden ist. Sie, die aus der Erfahrung des Krieges heraus nicht an die selbsttätige Wiederholung der Geschichte glauben will, verlässt den zweckphilosophisch und passiv resigniert argumentierenden Waffenfabrikanten und ehemaligen Spielgefährten weinend und auf der Stelle, als er sie zum Bleiben auffordert.

Glut führt einen politischen Diskurs, der die Menschen als handlungsunfähige, gelähmte Opfer des Verlaufs der Geschichte begreift, welche individuellen Ausdruck nur in pervertierter Form (dem verstörten Eheleben der Korbs), oder aber generell bei “Unmündigen” (den Alten, den Kindern) zulässt. Dieser kritische und auch sehr pessimistische Blick findet seine formale Entsprechung in einer komplizierten Montage, welche die Szenen als statische, symbolreiche Tableaus voneinander absondert und derart die latente Dramatik des Geschehens zurückbindet. Eine gewisse Starrheit haftet auch den Figuren an, denen eine individuell auseinandersetzende Entwicklung mit ihrer Historie versagt bleibt. Die Charaktere sind eingebunden in einen ihnen äusserlich bleibenden politischen Verlauf, der seinerseits mehr symbolhaft evoziert als involvierend dramatisiert wird. Die Szenen vermögen darum selten ihren Vorzeigecharakter gänzlich zu verlieren, was dem eindrücklichen, suggestiv auf unmittelbar emotionale Einsicht in den Charakter der Personen zielenden Spiel der Akteure den Atem raubt. Das Psychogramm und der Geschichtsabriss Glut bleiben weitgehend eine nicht im Film selber entwickelte, erlebbare und durch ihn einsichtig werdende Behauptung.

Peter Schneider
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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