ANDREAS BERGER

GESICHTER UND GESCHICHTEN — PASSION VON JEAN-LUC GODARD

CH-FENSTER

Um das, was gemeinhin die grossen Gefühle auf der Leinwand genannt werden, und um den Alltag, der hinter der Produktion der grossen, bewegenden Bilder und Töne steckt, geht es in Jean-Luc Godards Film Passion — einem Titel, der eigentlich für zwei Filme steht.

Passion heisst einmal der Film, den der Regisseur Jerzy in den nach aussen hin abgeriegelten, luxuriösen Filmstudios dreht. Geplant ist eine filmische Gestaltung von Gemälden von Rembrandt, Delacroix, Goya und Rubens, ein Versuch, erstarrter Kunst neues Leben einzuhauchen, aber es will nichts gelingen. «Das Licht stimmt nicht», meint Jerzy kopfschüttelnd, und wieder und wieder werden die Dreharbeiten abgebrochen und verschoben. Passion heisst hingegen auch der Film von Godard, der unter anderem auch ein Film über die Herstellung eines Films ist. Die beiden Filme Passion werden eins, wenn Laszlo, Jerzys Freund, über die Schwierigkeiten klagt, den Film ausländischen Verleihgesellschaften zu verkaufen. Fiktion und Realität treffen auch aufeinander, wenn der Produzent den Regisseur Jerzy händeringend und verzweifelt darum bittet, doch im Film eine Geschichte zu erzählen — ein Thema, über das Godard wohl Bände schreiben könnte. Es ist eben dieses Wechselspiel zwischen verschiedenen Ebenen, dieses Ineinanderverweben von zwei verschiedenen Filmen, die in Passion zur Spannung beitragen.

Die Filmproduktion, die im Film dargestellt wird, hat nichts mehr gemein mit dem beinahe familiär anmutenden Unternehmen, das Francois Truffaut in La nuit américaine (1973) geschildert hat. Hektik und Auseinandersetzungen gehören zum Alltag bei der Filmherstellung; das unregelmässige, trotzdem schnelle Arbeitstempo beeinflusst nachhaltig die Beziehungen unter den Mitarbeitern, wobei Godard durchaus kein Schwarzmaler ist: Während die Hauptfiguren mit verblüffender Sturheit aneinander vorbeireden und -leben, ergeben sich am Rand — angedeutet durch zwei, drei Einstellungen — neue, kurze Geschichten: Sophie wird von ihrem Freund, einem technischen Mitarbeiter, verlassen und findet neuen Halt beim Beleuchter Patrick und dessen kleinem Kind. Menschliche Wärme in zwischenmenschlichen Beziehungen ist immer noch möglich, auch wenn das Klima auch auf dem Drehplatz spürbar kälter geworden ist seit Nuit américaine.

Godard beobachtet seine Protagonisten auch ausserhalb der Studios, im Hotel mit seinen engen, unfreundlichen Zimmern, vor dem Hotel, wenn sie rasch in Autos aus- und einsteigen und sich mit unterschiedlicher Intensität voneinander verabschieden. Diese Aufbruchbewegung, die jedem Abschied von Menschen unweigerlich folgt, interessiert Godard immer von neuem; so kurz diese Momente auch sind, sie verdeutlichen die unter den einzelnen Menschen geknüpften Beziehungen besonders. Wesentlich ist schliesslich auch die Fabrik — dort verkracht sich der Fabrikbesitzer Michel mit der Arbeiterin Isabelle.

In einer kleinen Stadt am Genfersee hat Godard gedreht; die Studios, in denen Jerzy und seine Mitarbeiter arbeiten, sind etwa 50 Kilometer von diesem Ort entfernt (deswegen auch die zahllosen Autos in diesem Film). Was in den einzelnen Räumen produziert wird, hat auf den ersten Blick keinen Zusammenhang: hier die Kunstwelt des Films, farbig, mit viel unnatürlicher Beleuchtung, da die grauen, schlecht ausgeleuchteten Hotelzimmer, in denen sich Menschen flüchtig näherkommen, und die neonbeleuchtete Fabrik mit ihren monoton ratternden Maschinen und metallenen Fliessbändern. Durch die Menschen, die zwischen diesen Räumen hin- und herverkehren, werden Beziehungen deutlich, Zusammenhänge zwischen den Geschehnissen in den einzelnen Räumen.

Kann Arbeit Liebe sein?

Jerzy (Jerzy Radziwilowicz, der «Mann aus Marmor») ist Filmemacher, Laszlo ist sein bester Freund und so etwas wie sein Manager. Michel (Michel Piccoli) ist Besitzer der kleinen Fabrik, in der auch die stotternde, in der Gewerkschaft aktive Isabelle (Isabelle Huppert) arbeitet. Und da ist noch Hanna (Hanna Schygulla), die das Hotel führt, in dem sich alle aufhalten. Die Filmproduktion «leiht» sich bei der Fabrik Mädchen aus für den Film, darunter auch Michels taubstumme Nichte.

Noch dichter und recht komplex ist das Netz der Beziehungen zwischen den einzelnen Personen. Jerzy hat Hanna geliebt, er wollte auch, dass sie in seinem Film mitspielt und hat mit ihr bereits Probeaufnahmen mit Video gemacht. Später geht er mit Isabelle ins Bett, die noch Jungfrau ist. Hanna hat Michel leidenschaftlich (passionement) geliebt, aber diese Beziehung ist von kurzer Dauer. Am Schluss, wenn die Filmproduktion abgebrochen wird und Laszlo bereits nach Hollywood geflogen ist, fahren Hanna und Isabelle über Land, sie wollen nach Polen. Jerzy ist auch unterwegs, zusammen mit Isabelles Schwester, die zwar sonst nie in Autos hockt, weil sie sie nicht mag.

Es ist keine Erotik dabei, wenn die schönen Statistinnen nackt baden oder herumsitzen, es ist keine Erotik dabei, wenn Hanna und Jerzy sich küssen, und es ist nichts Erotisches dabei, wenn Isabelle nackt auf dem Bett liegt: die Abwesenheit von Erotik in den zwischenmenschlichen Beziehungen ist eines der Hauptthemen in diesem Film. Denn, Godard macht das unmissverständlich klar, die Kälte beim Zusammensein von Jerzy und Isabelle hat einen direkten Zusammenhang mit der Arbeit in den Filmstudios und somit auch mit dem Klima und der Atmosphäre von Jerzys anvisiertem Film, der möglicherweise nie zustande kommt.

Kann Arbeit Liebe sein? Kann Liebe Arbeit sein? Fragen, die Godard in Passion mehrmals und in verschiedenen Formen aufwirft. Mit seinem eigenen Film gibt er zugleich seine subjektive Antwort: wenn Arbeit und Liebe getrennt zu werden versuchen (wenn also Emotionen und Gefühle am Arbeitsplatz unterdrückt und verdrängt werden), wenn die Liebe zur Arbeit wird (wie für Jerzy), dann resultiert daraus nichts Konstruktives, dann bleibt es bei Halbheiten, Unzulänglichkeiten. Und es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die Unfähigkeit heutiger Menschen zu sinnvollen, befriedigenden Beziehungen sehr viel zu tun haben mit den offensichtlich destruktiven Tendenzen dieser Gesellschaft, in der und für die Godard Passion gemacht hat. Das unproduktive, weil mit latenten und offenen Ängsten verbundene Verhältnis von Mensch zu Mensch hat unweigerlich Einfluss auf den kreativen Akt. Man versteht Godard, wenn er — in seiner berühmtesten Äusserung — sagt, Film sei 24mal Wahrheit pro Sekunde: mit Bildern kann man nicht lügen auf der Kinoleinwand. Filme sind immer Realität und Wahrheit, der neo-realistische Pisà ebenso wie der Horrorschocker Zombie. Und die Menschen hinter der Kamera werden spürbar, so man es sucht, und zwar auch dann, wenn sie wie Romero zwei Stunden lang ausschliesslich von der Abwesenheit von Liebe berichten.

In den intensiven, direkten Beobachtungen von alltäglichen Vorgängen und banalen Geschehnissen ortet Godard in verschiedenen Ausdrucksformen die ganze alltägliche Gewalttätigkeit. Jerzy, schlecht gelaunt, will Isabelle am Mundharmonikaspielen hindern; schroff legt er seine Hand auf das Instrument. Kurz nachdem sich Hanna und Michel zerstritten haben, macht sich Michel einen Spass daraus, mit dem Auto hinter Hanna herzujagen. Als Sophie ihren Freund mit einer anderen Frau überrascht, schlägt sie wahllos auf die beiden ein.

Godard registriert Konfliktunfähigkeit, Hilflosigkeit im Umgang mit Aggressionen bei seinen Personen wie bei sich selber: An der Entfremdung zwischen ihm und Scharen von Filmbesuchern, die bei der blossen Erwähnung des Namens Godards nur verneinend abwinken, sind nicht nur zahlreiche Kritiker schuld, die Lesern unter den Kinozuschauern häufig auf falschen Fährten zu führen pflegen, sondern auch der Filmemacher selbst, der sich bei seiner Arbeit mehr und mehr von seinen Mitmenschen entfernt. Die Auswirkungen dieses Lebensstiles auf das Arbeitsklima sind offensichtlich.1

Offene Bilder

Er wolle es machen wie Rembrandt, sagt Jerzy einmal, er interessiere sich nur für Gesichter. Immer wieder konzentriert sich Raoul Coutards mobile, leichtflüssige Kamera auf Gesichter, auch auf jene von Menschen, die nur kurz im Film erscheinen: die langen Beobachtungen ihrer Gesichter und des Lichts, das sie umgibt und Schatten verursacht, lassen ihre Geschichten erahnen. Zusammengearbeitet hat Coutard, Kameramann für Godard seit A bout de souffle, mit dem Schweizer Hans Liechti (Das gefrorene Herz, Das Boot ist voll, O wie Oblomow). Sie haben für Godard jene Bilder realisiert, die er sucht: allesamt offene Bilder, ohne manipulierende Komposition, kunstlos, was Attraktivität fürs Auge nicht ausschliesst, im Gegenteil: die Offenheit der Bilder lädt gerade dazu ein, sich umzusehen auf der Leinwand, Ausschau zu halten nach Details und Kleinigkeiten. Konsequent wird auch auf komplizierte Kamerabewegungen verzichtet.

Einmal mehr werden in Passion übliche Sehgewohnheiten provokativ in Frage gestellt: Da werden die Schauspieler mit dem richtigen Vornamen angeredet (und spielen trotzdem eine fiktive Rolle), da werden Konflikte und handfeste Auseinandersetzungen mittels Beobachtungen von Gesichtern geschildert (wo doch Totalen viel mehr Überblick über das Geschehen ermöglichen würden), da laufen Bild und Dialog des Öfteren asynchron, da wird schliesslich alles andere als eine plausible Geschichte nach gängiger Machart mit Exposition, Entwicklungen, Höhepunkten und einem alles abrundenden Ende erzählt. Es ist eine eigentlich total entfremdete Sehweise, die Godard da kritisiert: die Kameraführung in eben jenen Filmen, die Geschichten erzählen und dann noch als realistisch und authentisch gepriesen werden, entspricht nie und nimmer den gewohnten Bewegungen des menschlichen Auges, das den Schnitt, die weiche Überblendung und den Zoom-Effekt in der kinematographischen Form ja nicht kennt. Widerspruchslos aber akzeptieren wird nach einer Kamerafahrt eine Grossaufnahme, auch wenn das eine Sehweise ist, die sich auf Kino und Fernsehen beschränkt.

Godard wehrt sich energisch gegen das Einpressen von Leben in Geschichten, gegen das Beschneiden von Wirklichkeit, gegen die Tendenz, Wünsche, Ängste und Hoffnungen in die Form mehrdeutiger und missverständlicher Metaphern zu kleiden. Bei Godard ist alles viel einfacher; da verstellt keine doppeldeutige Symbolik den Blick auf die Leinwand und die Personen. Statt Geschichte, Handlungsschemen, Psychologie oder Mystik reiht Godard Momente von Geschichten aneinander, Beobachtungen von Gesichtern und mit Bildern und Tönen formulierte Sätze und Gedanken, die einzeln allesamt nachvollziehbar sind und den Erfahrungshaushalt des Zuschauers nicht überfordern. Nur in der Summe der Szenen wirkt Passion kompliziert und verwirrend, weil man gewohnt ist, dass irgendeine leicht formulierbare Idee den Bilderbogen zusammenhält und legitimiert, eine Botschaft, eine simple Kinogeschichte oder was auch immer. Aber Godard möchte Leben schildern, nicht Theorien: «Geschichten muss man erleben, bevor man sie erfindet», lässt er den Regisseur Jerzy mehr als einmal sagen.

Gedanken auf Reisen

Man muss sich bewegen, um Ideen zu haben. Eine Idee ist Ausdruck einer Bewegung. Wenn ich ganz alleine an einem Tisch sitze, kann ich nichts tun. Wenn ich in einem Zug sitze oder im Flugzeug oder im Kino, dann kann ich eine Idee haben. Ich ziehe den Zug oder das Flugzeug vor, weil man sich da bewegt, aber gleichzeitig schreiben kann. Wenn man jedoch arbeitet, jemanden liebt oder Musik hört, ist das schwieriger, weil man aufhören muss, um zu schreiben. Viele Ideen kommen mir beim Einschlafen. Dann muss ich aufhören einzuschlafen und Notizen machen. Am liebsten mag ich Züge, weil da die Dinge und Leute an einem vorbeiziehen. Die Gedanken gehen auf Reisen.2

Godard hat auch für Passion kein exaktes Drehbuch geschrieben; wie alle seine Filme lebt auch dieser von der Improvisation, vom Spontanen, Unerwarteten. Für Godard bedeutet Filmemachen nicht, im Kopf bereits fertige Bilder für die Leinwand zu rekonstruieren. Frage an Godard: «Wie gingen die Dreharbeiten (zu Les carabiniers) vor sich? Man hat den Eindruck, dass der Film aus sehr viel Improvisation besteht, nicht was die Dialoge betrifft, sondern die Bilder.» Seine Antwort: «Nein, nicht mehr als üblich. Alles war festgelegt, aber erst in der letzten Minute.»

Vgl. Aufsatz von Elisabeth Guyot-Noth über die Dreharbeiten zu Passion; Der Bund, Filmseite (23.1.1982).

Godard in einem Interview mit Wilfried Reichart, in: «Reihe Film 19: Jean-Luc Godard» (Hauser Verlag).

Passion. P: Sara Films, Sonimage, Films A2, Film et Video Productions, Schweiz/Frankreich 1982. R und B: Jean-Luc Godard. K: Raoul Coutard und Hans Liechti, M: u. a. Mozart, Beethoven, Dvořak, Fauré; D: Hanna Schygulla, Isabelle Huppert, Jerzy Radziwilowicz, Michel Piccoli u. a. 35 mm, farbig, 100 Minuten, Verleih: Citel-Films

Andreas Berger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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