PETER SCHNEIDER

WAHN UND VERNUNFT AN DER ARBEIT — «ZUR BESSERUNG DER PERSON» — EIN BUCH UND EIN FILM VON HEINZ BUTLER

CH-FENSTER

Heinz Butlers Buch trägt den gleichen Titel wie sein 1981 entstandener Film. Das Gemeinsame der beiden Arbeiten steckt nicht nur im Titel, sondern auch im Folgenden, wenn man das Titelblatt umschlägt, wenn man sich den Film ansieht.

Heinz Butler hat im Buch die Sprache nicht gewechselt. Er liefert jetzt nicht schwarz auf weiss die Thesen zur institutionellen Psychiatrie nach, die dem Farbfilm nach Meinung vereinzelter Kritiker, die sich einen Kommentar, einen Diskurs der Vernunft über denjenigen des Wahns gelegt wünschten, fehlten.

Das Buch ist eine Fortsetzung der begonnenen Arbeit. Es ist eine erweiterte, reich illustrierte Materialsammlung, die die künstlerischen Produktionen der fünf Patienten aus dem Film ausführlich vorstellt. Jedem Patienten ist ein Kapitel gewidmet. Sie werden eingeleitet durch Texte Heinz Butlers, der zurückhaltend beobachtend seine Begegnungen mit Johann Hauser, Ernst Herbeck, Edmund Mach, Oswald Tschirtner und August Walla beschreibt und Gesprächsauszüge wiedergibt. Diese Begegnungen des Buchautors und des Kameramanns Hansueli Schenkel mit den Patienten sind nun zum Teil auch wieder mit Fotos illustriert. So kommt eins zum andern: Die Zeichnungen von Walla, Hauser, Tschirtner stehen neben deren fotografischen Porträts, und diese wiederum neben den Schnappschüssen der Begegnung der Schweizer mit den Wiener Patienten. Die Texte Heinz Butlers sind Nachbarn derjenigen von Walla, Mach und Herbeck.

Und die Texte stehen neben den Bildern: Man blättert vor und zurück, sieht in Herbecks zerfurchtes Gesicht, erblickt seine knorrigen Hände, je länger man hinblickt, desto fremder wird er einem, liest weiter hinten: «Die Maske ist Lieb, ach wenn sie mir nur blieb...», und gleich obendran: «Sprachlosigkeit kommt vom vielen studieren in der Schule. Allerdings betrifft es einen Anderen Schüler.» Die Fäden lassen sich kreuz und quer ziehen: es sind diese Code-Übergänge zwischen den verschiedenen Medien, den verschiedenen Sprachen, die das Buch so reich machen. Beim Ziehen der Fäden weiss man nie so recht, woran man ist: also bei sich selber. Das Höchste, um in der Sprache Jacques Lacans zu sprechen, das Rätsel bleibt bestehen. Die Zeichen substituieren einander beliebig, und der Sinn, der beim Entziffern der Zeichen entsteht, kann das Rätsel nicht zerstören.

«Was weiss ich wirklich?», fragt sich auch Heinz Butler immer wieder und wendet handkehrum die Frage an sich auf den andern an: «Ich frage mich: Was weiss Johann Hauser alles, was er nicht sagen kann?». Darauf gibt es psychoanalytische Antworten, solche allerdings, die nicht von einer Wirklichkeit jenseits des Sprechens berichten, sondern von der Wirklichkeit des Sprechens.

Edmund Mach, der die diskursivsten Texte in Zur Besserung der Person schreibt, bietet sich für unterstützende Zitate geradezu an, wenn er sagt: «Meine Eltern waren nicht streng beredet und immer mit der Sprache hängten sie mir an meinen Ausdrücken. Das Redeballspiel war sehr anstrengend. Vieles wurde beim Reden zerstört, und der eigene Gedanke getötet, ja man konnte nicht einmal ausspucken. Die Empfindung sprach aber doch für mich.» Auf die Frage von Mach: «Was halten Sie von der Dichtung?» meint Ernst Herbeck: «Sie ist nur vorübergehend beim Menschen.» Und der Hüne August Walla, Erfinder von Geheimsprachen, antwortet auf die Frage von Leo Navratil, wer denn eigentlich seine neugebildeten Sprachen verstehen würde, kurz und bündig, wie es richtiger gar nicht zu sagen ist: «Na ja, Dolmetscher.»

Diesen Dolmetscher, der einem zum Verständnis führt, gibt es natürlich nicht: Das Rätsel bleibt bestehen. Das zeigen auch die beiden Aufsätze, die ins Buch aufgenommen worden sind. Leo Navratil, der Leiter der betreffenden Abteilung des Landeskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Klosterneuburg, schreibt über «Kunst als Botschaft eines anderen Bewusstseins». Der Psychiater, der wie kein anderer im deutschsprachigen Raum seine Patienten zu kreativem Tun angehalten, und sich in der Öffentlichkeit damit auch gehörig exponiert hat, liefert einen kurzen Abriss der Rezeptionsgeschichte der «Art brut» und charakterisiert diese Kunstform als zustandsgebunden: «Die Psychose ist ein kreativer Zustand.»

Walter Vogt schliesslich, der Schweizer Psychiater, der sich schon öfters schriftlich mit Schizophrenie und Kunst auseinandergesetzt hat, schreibt aus einer offensichtlichen Betroffenheit heraus einen persönlichen Bericht über den Film Zur Besserung der Person. Er stellt fest, der Film habe den Künstler-Patienten ihre Würde als Anstältler zurückgegeben. Vogt spricht aber eine andere Sprache als das übrige Buch. Mit der ihm eigenen Polemik stellt er den gesellschaftlichen Bezug her, spricht also jene Fragen an, die ihn als oft bekämpften Berufsmann beschäftigen. Damit geht er über Heinz Butlers Thema der präzisen Beobachtung eigentlich hinaus und führt jene Diskussion über die Schizos und deren Kunst, die manchen Leuten im Film gefehlt hatte.

Butlers Film nun diskutiert tatsächlich nicht. Zur Besserung der Person ist sogar nur insofern ein Psychiatriefilm, als er emanzipatorisch wirkt und die Patienten in ihrem Menschenrecht einstellt, dadurch, dass er sie, und nur sie, reden, zeichnen, schreiben, sich selber darstellen und damit zum Thema werden lässt. Gezeigt wird der Wahn an der Arbeit. Der Film unterwirft sich so vollständig, wie das ein Film überhaupt kann, der Position der Patienten und zielt damit unmittelbar auf jene Vermittlung zwischen Gesunden und Kranken, zwischen Vernünftigen und Wahnsinnigen, die von Psychiatriefilmen oft wortreich heraufbeschworen, nicht aber unvermittelt in Szene gesetzt wird.

Der Film bezieht seine Kraft gerade daraus, dass er nicht in einem Kommentar ein Bekenntnis abgibt, sondern dass er den Zuschauer erkennen lässt, dass auf der Leinwand ein Wahnsinn und eine Vernunft abgehandelt werden, die auch die seinen sind. Der Sog, den der Film entwickelt, ist die Suggestivkraft des Wahns.

Es macht eben einen Unterschied, ob Edmund Mach sagt: «In puncto Logik habe ich das A und B unsicher in der Hand. Daraus ergibt sich ein falsches C», oder ob ein Psychiater, ein Kommentator meint: «Schizophrene neigen zu unlogischem Denken.» Das erste ist ein erzählendes Reden, eine Artikulation, die Bedeutung entstehen und wieder schwinden lässt. Solche Rede fordert effektive Beteiligung, fordert Spracharbeit. Der zweite Satz möchte bedeutend sein, ist ein Statement, das in ein Lexikon des Wissens eingehen will. Die Artikulation verwickelt den Zuhörer, das Statement kann man zur Kenntnis nehmen.

Mit dieser Verwicklung wird ganz unterschiedlich umgegangen. Von Kritikern beanstandet wurde, dass Butler fünf Star-Schizos ausgewählt, die vielen Namenlosen dabei vergessen habe und ausserdem kein Wort zur Institution Psychiatrie sage. Butler hatte dem nichts zu entgegnen, ausser, dass dies dann ein anderer Film gewesen wäre. Man braucht Zur Besserung der Person gar nicht gegen aufklärerische Psychiatriefilme auszuspielen. Genauso, wie solch didaktische Vorhaben gerechtfertigt sind, braucht Zur Besserung der Person keine Rechtfertigung. Butler folgt seiner eigenen Faszination, seinem Interesse und seiner Lust, und dieses radikal subjektive Auswahlkriterium ist nicht nur moralisch ehrlich, sondern erbringt auch das filmisch interessante Resultat, weil da eine persönliche Handschrift sichtbar wird. Wallas und Machs gibt es tatsächlich nicht mehr wie Sand am Meer— dafür sorgen die dämpfenden Neuroleptika — und nicht jeder Schizo ist ein Künstler. Machs und Wallas gehören nicht zur schweigenden, dahindämmemden Mehrheit, aber sie sagen mit und durch ihre Kreativität etwas über diese aus.

Ausserdem gab es Vorstellungen, wo man sich in einer Komödie wähnte. Mit Leuten, die sich nicht aus falschen moralischen Bedenken das Lachen nehmen Hessen.

Jede Reaktion, von der voreiligen Verbrüderung, die das Leiden der Betroffenen vergisst, über die akademische oder sozialarbeiterische Kritik bis hin zum gelösten und erlösenden Lachen, sagt mehr aus über die Rezipienten als über die Schizos oder deren Darstellung im Film. Die Rezeption spricht vom Humor als Abwehrleistung oder von der Angst, mit den Kranken zu delirieren. «Die Vernunft, die das Drama des Wahnsinns erkennt, ist bei ihrem Geschäft — sua res agitur...», schreibt Jacques Lacan, derjenige Analytiker, der seit Freuds Deutung des Falles Schreber am umfassendsten über Psychose gesprochen hat.

Diese Konfrontation von Vernunft und Wahn kommt im Film selber zur Darstellung, wenn Leo Navratil mit den Patienten spricht. Seine Fragen wirken blöd, inadäquat, lächerlich. Dann erst realisiert man, dass das nicht etwa die Schuld des Psychiaters ist, sondern dass jeder Frager gegenüber einem Schizo als Idiot erscheinen würde. Wer diesen eigenartigen Rollentausch auf keinen Fall eingehen möchte, würde erst gar nicht mit Schizos sprechen, sondern sie einfach (medizinisch) behandeln.

Schizos sind Felsen im Meer. Der Fels lässt die Fragen abprallen und wirft sie als Echo auf den Fragesteller zurück. Das hat wohl auch Heinz Butler empfunden, wenn er (im Buch) schreibt:

Ernst Herbeck schweigt. Ich empfinde sein Schweigen als Aufforderung, ebenfalls zu schweigen. Aber ich möchte ins Gespräch kommen. Nur, die Fragen, die ich stellen und die Kommentare, die ich anbringen könnte, verwerfe ich schon im Kopf. Noch nie ist mit ein Satz wie «Ich freue mich, Sie kennenzulernen» so fehl am Platz vorgekommen, obwohl er der Wahrheit entspricht.

... sua res agitur... Seine Sache, die der erkennenden Vernunft wird behandelt. Das ist wichtig zu wissen. Schizos sind nicht einfach ganz anders, ganz fremd, sie sind auch das Fremde in uns, in demjenigen, der das Drama des Wahnsinns erkennt. Es ist ein Mythos, an den man nur zu gerne glauben möchte, dass die Schizos aus dem Nichts ihre Kreationen schöpfen würden. Dieser Mythos ist der Traum des Zivilisierten, des Komplizierten von einer diffusen Ursprünglichkeit, einer Wildheit und Unschuld. Natürlich beweist nur schon die Tatsache, dass die Schizos schreiben, ihren Bezug zur Sprachtradition, zu einem Zeichensystem. Dieses System und diese Tradition sind dieselben, die der Zuschauer und der Leser beim Dechiffrieren der schizophren verdrehten Mitteilungen benützt. Kranker und Gesunder sitzen in Bezug auf das Medium ihrer Mitteilungen, ob sprachlich, ob zeichnerisch, im selben Boot.

Aus der Sprache entweicht auch ein Schizo nicht, aber er arbeitet sie ab, um, auf: er schreibt an gegen die Norm, die Sprache ausschliesslich als Instrument zur Kommunikation von Ideen verstanden haben will. Dabei gehen Schizophrene sehr individuell vor — die Individualität des Ausdrucks ist in Zur Besserung der Person sehr eindrücklich zu bemerken— aber auch sehr systematisch. Schizos sind sozusagen systematische Systemgegner und als solche unauflösbar in ihrer Gegenwelt-Behauptung verstrickt. Schizos sind keine Chaoten, die aus der Kultur wegtauchen, sondern sie liefern von ihr ein zerstückeltes Bild. Die Sehnsüchte, die ein Walla zu wecken vermag, sind die nach einem autonomen Leben, nach einem Leben, das so fraglos gerade wäre wie der Strich, den Tschirtner unbeirrbar sicher auf weissem Papier zieht.

Heinz Butlers Film, dieses ganzheitliche, ruhige, homogene Bild eines zerstückelten Bildes einer ebenso fragmentierten Aussenwelt, ist im Buch aufgenommen als eigenes Kapitel: Der Film in sechzig Bildern, mit Fotos und Texten, die direkt dem Film entnommen sind und zusätzlichen Erläuterungen, die das Geschehen in Erinnerung rufen.

Zur Besserung der Person. B, R, P: Heinz Butler; K: Hansueli Schenkel; T: Markus Fischer; Sch: Beat Kuert; Co-P: Beat Kuert

1981,16 mm, Farbe, 92 Minuten

Das Buch ist im Zytglogge Verlag (Schweiz) und im Kösel Verlag (BRD) erschienen, 160 Seiten.

Peter Schneider
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]