PETER SCHNEIDER

ZURÜCKHALTUNG UND TAKT — YILMAZ GÜNEY: YOL

ESSAY

Im Dokumentarfilm Besuch auf Imrali, den Hans Stempel und Martin Ripkens für das ZDF realisiert haben, fährt man über blaues Meer unter blauem Himmel auf das karge, braun verbrannte Imrali zu. Jeden Freitag geht ein Schiff nach der mittlerweile berühmt gewordenen Strafkolonie, einem Mustergefängnis, das der türkischen Regierung als Aushängeschild dient. Auf der Fähre kommen Besucher, bewacht von Soldaten, am Pier warten Gefangene, bewacht von Aufsehern. Unter einem schattenspendenden Baum sitzt an einem rohen Holztisch der wohl berühmteste Gefangene auf Imrali: Yilmaz Güney. Daneben steht die einfache Hütte, worin er mit zwei Mitgefangenen wohnt. Der Regisseur, Autor und Schauspieler gibt Auskunft, seine Antworten sind grundsätzlich, die Szenerie ist malerisch.

In Yol, dem Film, den Serif Gören für Yilmaz Güney realisiert hat, fährt man auf grauem Meer unter grauem Himmel von Imrali weg. An Bord sind Häftlinge, denen nach längerer Zeit ein einwöchiger Urlaub zugestanden worden ist. Sie machen sich auf zu einer Reise (Yol) in die Heimatorte, zu den Verwandten, zu den Geliebten. Die Reisen von fünf Gefangenen werden zu einem Bericht, der Zeugnis ablegt „vom Zustand einer Nation und deren Bewohner. Das Zeugnis ist grundsätzlich, die Szenerie nur noch selten malerisch.

Der Dokumentarfilm lässt eigenartigerweise einen Eindruck von Irrealität zurück. Imrali erscheint einem beim Heranfahren — das ist kein Zynismus — als Ferieninsel. Die unmittelbare Wahrnehmung kollidiert aber sofort mit dem Wissen um die Realität. Man traut jetzt seinen Augen nicht, wenn man mit Hilfe der Kamera die Gefangeneninsel betritt und Güney tatsächlich dort antrifft.

Vorher hat der Dokumentarfilm Güneys Schatten verfolgt, seine Spuren, die er bei den Türken aus dem Volk hinterlässt. Sein Schatten — und dies ist eine der eindrücklichsten Szenen dieses Dokumentarfilms — klebte als Foto auf einem jener messingverzierten Schuhputzkästen, wie man sie in der Türkei oft zu Gesicht bekommt. Die beiden Schuhputzer gaben, ohne mit dem Polieren der Schuhe ihrer Kunden aufzuhören, Auskunft. Sie zählten die Bücher und Filme von Güney auf, die ihnen bekannt waren und sprachen sehr, sehr klar darüber, was ihnen die Werke Güneys bedeuteten. Yilmaz Güney sei ein Revolutionär, der sein Volk liebe, er beschreibe das Leben der Armen, stelle die Not und das Elend dar, während er, der Schuhputzer, hier täglich einen Kampf ums Leben führe.

Die Erklärungen der Schuhputzer überraschten durch ihre Selbstverständlichkeit. Güney verdankt seinen Erfolg, wie er immer wieder erklärt, tatsächlich den Massen. Er spricht — und das klingt in unseren Breitengraden sehr pathetisch — die Sprache eines grossen Teils des Volkes. Später wurden junge Türkinnen über die Rolle der Frau interviewt. Sie antworteten so klar wie die Schuhputzer, aber in einer streng linken, gewandten Rhetorik. Die Redefähigkeit der befragten Türken und Türkinnen vermittelte einem die Erfahrung der eigenen Sprachlosigkeit. Die Frage, inwieweit diese geradlinige, direkte, unkomplizierte Sprache auch den türkischen, realen Verhältnissen angepasst ist, stellte der Film nicht. Soweit die türkische Realität im Dokumentarfilm.

Darüber, welche Sprache nun den türkischen Verhältnissen angemessen sei, lässt sich aus der Ferne tatsächlich nicht streiten. Aber man kann Güneys Rhetorik feststellen, seine mündlichen Selbstdarstellungen in Interviews und seinen filmischen Ausdruck.

Güney ist — das lässt sich trotz seines Erfolges auch bei uns sagen — ein Filmemacher, dessen Werke nicht so recht in die mitteleuropäische Filmlandschaft passen wollen. Güneys Filmgrammatik ist unspektakulär und orthodox in dem Sinne, dass er Film als Instrument zur Vermittlung von unfilmischen Ideen verwendet. Güney inszeniert sich auch nicht selber, was nicht heisst, dass seine Filme keine autobiographischen Züge tragen. All das macht den Türken unmodisch, unmodern, aber eben interessant.

Yol verfolgt fünf Häftlinge auf ihrem einwöchigen Urlaub. Zuvor ist man in den Gefängnisalltag eingeführt worden. In den Zellen hausen die Männer eng aufeinander. Mehmet Salih wird von seiner Frau in einem Brief gefragt, ob er tatsächlich am Tod ihres Bruders Aziz schuld sei. Ein alter Mann raucht Haschisch, der Kurde Omer träumt in einem flash-back von einem Ritt auf seinem weissen Pferd, über Lautsprecher werden disziplinarische Anweisungen der Gefängnisleitung verlesen: «Der Gefangene ist ein Gefangener, der Aufseher ist ein Aufseher.» Die Häftlinge werden zur Arbeit abkommandiert. Der kleine Yusuf, der einen Kanarienvogel hegt, wischt — «Inch Allah!» — den Boden, als überraschend bekannt gemacht wird, dass die Urlaubssperre aufgehoben worden ist... alle eilen zum Anschlagbrett, um nachzusehen, ob sie auf der Liste der Begünstigten sind.

Diese Exposition ist weder zufällig noch willkürlich. Güney führt hier präzis und in wenigen Minuten Motive ein, die nachher wiederaufgenommen werden. Die Informationsflut in diesen ersten Szenen ist enorm, und Güney privilegiert nicht zum vornherein einzelne Zeichen. Noch ist keineswegs klar, welche Richtung die Erzählung nehmen wird, und was «nur» redundantes Beiwerk war.

Der Urlaub von Yusuf nimmt ein frühes Ende, als er bei einer vom Militär durchgeführten Personenkontrolle seine Urlaubsbescheinigung nicht finden kann. Seiner Frau lässt er als Botschaft den Kanarienvogel überbringen: Sie wird verstehen, was er meint. Anhand von Yusuf wurde vorher die Identitätsproblematik eingeführt, die nachher den ganzen Film durchzieht. Yusuf, ein Mörder, wundert sich erstaunt und grundehrlich, dass er auf einem Ausweisfoto wie ein Mörder aussieht.

Diese Problematik ist unauflöslich: Yusuf nimmt sich selber nicht als der Gleiche wahr, als der er sich durch das äusserliche Foto, durch das ihn darstellende Bild sieht. Genauso lässt sich auch die Zerrissenheit der vier anderen Häftlinge verstehen: Sie kämpfen jeder für sich selbst mit der Darstellung, die die feudalistische, patriarchalische Tradition aus ihnen macht. Wie stellt denn nun diese Tradition, die wie eine Zensur arbeitet, die vier Häftlinge auf ihrer einwöchigen Reise in den Traum der Freiheit dar?

Vielleicht am unspektakulärsten, am durchschnittlichsten ist die Geschichte von Mevlüt, der seine Verlobte besucht. Das Paar wird von der Familie nicht aus den Augen gelassen und ständig beschattet. Mevlüt lehnt sich gegen diese Bevormundung und Kontrolle auf: «In welchem Jahrhundert leben wir eigentlich?» Gleichzeitig nimmt er aber die patriarchalischen Sitten für sich selber in Ansprach und erklärt seiner Frau, welche Kleider sie zu tragen habe, und dass es ihr nur erlaubt sei, mit Verwandten zu sprechen. Mevlüt wehrt sich also einerseits gegen die Tradition und ist ihr andererseits doch so stark verbunden, dass sie ihn als traditionellen Patriarchen sprechen lässt. Die Tradition stellt Mevlüt — seinem eigenen Bewusstsein der Fremdkontrolle zum Trotz—als gebietenden Mann, und seine Verlobte als gern gehorchende, unterwürfige Frau dar: «Du sprichst sehr schön, hast du das im Gefängnis gelernt?», antwortet sie auf seine Kleider- und Umgangsverordnungen. Mevlüt aber, der seine Situation nicht verstehen kann, der, wie es Güney allgemein über seine Figuren sagt, «nicht über seinen Lebensumständen steht», schliesst kurz und geht frustriert ins Bordell.

Die Geschichten der anderen drei Männer sind eingehender ausgeführt. Der Film entwirft drei Schicksale von Menschen, «die ein kleines Stück Souveränität leben». Da ist zuerst Mehmet Salih, der die Angst vor der Wahrheit dadurch verliert, dass er der Familie seiner Frau die Schuld am Tod ihres Bruders Aziz eingesteht. Mehmets Frau entschliesst sich, mit ihrem Mann wegzuziehen und nimmt damit in Kauf, von ihrer Familie Verstössen zu werden. Das Paar wird auf der Flucht in ein kleines Stück Selbstbestimmung zweimal von der Tradition eingeholt. Als die beiden sich auf der Toilette im Zug lieben, empört sich die sittenstrenge Menge über das unmoralische Tun und würde das Paar wohl zuschanden schlagen, träte nicht der Schaffner dazwischen. Die Tradition holt die zwei aber endgültig ein durch den Schwager, der als Bluträcher die Ehre der Familie rettet, indem er das abtrünnige Paar umbringt.

Unentschlossener noch als Mehmet Salih handelt Seyit Ali. Sein Schicksal ist das eindrücklichste des Films. Das rührt zu einem guten Teil vom mächtigen Dekor her, von der Winterlandschaft, in die ihn sein Urlaub führt. Seyits Geschichte wirkt aber auch gerade darum so eindringlich, weil er ein unentschlossener Zauderer bis zum letzten Moment ist. Der Kampf, den Seyit mit sich selber austrägt, ein Kampf zwischen Pflicht und Neigung, der direkt der Zeit der Aufklärung entstammen könnte, bleibt am längsten unentschieden, so dass man hier die unheimliche und unglaubliche Kraft der Tradition am stärksten zu spüren bekommt. Anhand von Seyit, der im Urlaub seine eigene Frau zu töten hat, weil sie während seiner Abwesenheit in ein Bordell arbeiten ging, erfährt man nun ganz genau, was es heisst, Kind einer (Gross)familie und einer patriarchalischen (Dorf)gemeinschaft zu sein. Güney ist als Autor der Geschichte in einem fast unglaublichen Masse unsentimental. Er inszeniert die fürchterliche Geschichte bis zum Tod der Frau. Ihr Tod kommt nicht etwa plötzlich — wie derjenige von Mehmet und seiner Frau — sondern Güney verfolgt ein langsames Hinsterben. Während dieser Agonie erst ändert Seyit seine Sinne — zu spät jedoch, er trägt eine Leiche zu Tal. Seyit, der sich schon bei der Herreise fragte, ob der Geist des Menschen Feind sein könne, der sich an das Weinen seiner Frau erinnerte, wenn er jeweils Flöte spielte, der also genau gemerkt hat, dass der traditionelle Ehrbegriff, dem er Folge zu leisten hat, nicht restlos seinem eigenen Empfinden entspricht, überlässt der Natur (und Gott) den Schiedsspruch über seine Frau Zine. Die Natur (des Winters) spricht die Sprache der Tradition und bringt Zine den Tod. Das ist nichts anderes als griechisch-antike Schicksalsdramaturgie. Güney stellt in Seyits Geschichte zusammenfassend jene Gesetze vor, die als innere und äussere «Feinde» die Personen regieren. Wie ein Fatum legt sich das Patriarchat über Seyit und Ziné, dem Schicksal entrinnen beide nicht. Ziné muss auf jeden Fall sterben; Seyit wird von ihren Hilferufen auf dem Weg zurück ins Gefängnis verfolgt.

Güneys bestimmte, und in gewissem Sinne harte Erzählweise ist alles andere als pessimistischer, fatalistischer Sozialkitsch. Die Geschichte von Seyit macht den Zuschauer unerbittlich mit den Regeln bekannt, die den Helden zu einer Marionette und zu einem Feind seiner selbst werden lassen. Diese strukturelle Beschreibung ist nicht moralisierend und versöhnt auch nicht voreilig Widersprüche. Güney transportiert keinen (faulen) Hoffnungsschimmer, sondern er zeigt «den Stand der Dinge». Der Rest, die Veränderung, die Suche nach anderen Verhaltens- und Bewusstseinsmöglichkeiten, der Ausweg aus Seyits unerträglicher Situation, kann nicht Sache eines beschreibenden Films, sondern nur Sache des Lebens sein. Dies wäre vielleicht eine Antwort an jene doch zahlreichen Zuschauer, die im Film eine Hoffnung vermisst haben.

Omer schliesslich ist — wie Güney selber — Kurde, und damit Angehöriger eines Volkes, das in der Türkei kulturell und politisch für nichtexistent erklärt wird. Omer kehrt im Urlaub in sein Heimatdorf an der syrischen Grenze zurück, in eine Landschaft, die als einzige im Film durch ihre Weite unmittelbar Freiheit evoziert. Doch schon seine Ankunft ist begleitet durch das trockene Bellen von Schüssen: Kinder gucken hinter Lehmmauern hervor, Soldaten stehen unbeholfen vor einer Hütte und fordern darin Eingeschlossene zur Übergabe auf. Dann werden die jungen Kurden von lächerlich vielen Uniformierten aus dem Dorf geführt. Hier an der Grenze ist ein permanenter Kleinkrieg im Gang, der offiziell als Kampf gegen Schmuggler deklariert wird.

Omer verliebt sich in die Blicke von Gülbahar, seine Eltern möchten ihn, «damit er ruhiger wird», sowieso verheiraten, doch es fehlt dazu das Geld. Da fällt aber Omers Bruder, und der Häftling auf Urlaub hat traditionsgemäss dessen Stelle einzunehmen und für die Witwe zu sorgen. Gülbahar bleibt allein, Omer beschliesst, nicht ins Gefängnis zurückzukehren, sondern sich in den Bergen zu verstecken. Es verfolgen ihn die Rufe seines gefallenen Bruders Abuzer: «Duck dich, die Polizisten haben uns umzingelt!» Auf diesen Ruf, der in der Türkei sicher genauer und direkter im Wortlaut verstanden würde als bei uns, folgt in Yol noch eine Einstellung: Seyit sitzt im Zug, der ihn möglicherweise zurück nach Imrali führt, und vergräbt sein Gesicht in den Händen. Man ahnt, was er hört: die Hilferufe seiner sterbenden Frau Zine, und seine Antwort darauf: «Aber auch ich konnte das Leben nicht gemessen. Zine, wach auf!»

Man muss sich die Geschichten von Yol immer wieder vergegenwärtigen, weil der Film anhand realistischer Erzählungen seine Mitteilung kundgibt. Dies macht gerade Güneys Meisterschaft aus, dass nämlich weder er selber, noch seine Figuren Botschaften deklamieren, sondern dass die Personen durch realistische Anekdoten eng mit der Umwelt und der Gegenwart verbunden sprechen. Güney berichtet nicht einfach eine abstrakte Essenz oder etwas fragwürdig «Wesentliches», sondern er führt glaubhafte Existenzen vor, deren Dasein der Zuschauer nachträglich beurteilen kann. Dies ist eine eminent politische Dramaturgie. Sie berichtet dem Zuschauer nicht vom Verständnis des Regisseurs, sondern sie fordert diesen zum eigenen Verstehen auf. Da Güney nie melodramatisch wird, da er Menschen als Spielball von Gut und Böse, nie aber als individuell Schuldige zeigt, suggeriert er die «Fehler» im Gesetz (der Tradition). Güneys Menschen werden von fremden Mächten bedeutet, lange bevor sie selber anfangen können zu bedeuten. Gerade weil die Helden selber blind bleiben, öffnen sie dem Zuschauer die Augen. Als Kinder der Aufklärung schaudern wir für gewöhnlich zusammen und wähnen uns entmündigt, wenn das Wort «Schicksal» fällt. Yol zeigt einem gerade gegenteilig, wie eine solche Schicksalsdramaturgie revoltiert und zu Bewusstsein inspiriert: auf ihrem Boden gedeiht eine politische Diskussion, die mehr sein will als alltägliches Rankespiel um Machtanteile.

Yilmaz Güney liess sich Yol auf Imrali von seinen Mitgefangenen erzählen, er sammelte Geschichten, die das Leben schrieb. «Meine ganze Arbeit geht vom Realen aus», erklärt Güney, und man möchte anfügen: Und sie führt auch ins Reale zurück, in die Gegenwart des Alltags, diese nicht verklärend, sondern vergegenwärtigend, erhellend. «Wenn ich schreibe, versetze ich mich immer in die Haut der Person, die ich gerade kreiere. Meine Sicht reflektiert also deren Seelenzustand. Es handelt sich dabei vielleicht um eine Schauspielergewohnheit», sagt Güney über den Akt des Schreibens. Er bezeugt damit, dass er nicht von abstrakten Ideen oder Modellen ausgeht, sondern dass seine Geschichten ihren exemplarischen Charakter aus der präzisen Beobachtung und Wiedergabe von «Szenen aus dem Leben der Menschen» gewinnen.

Eine weitere Äusserung Güneys ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert: «In der Kunst wie auch im Leben gehe ich von einem Prinzip des Mosaiks aus und ich verstehe die Menschen als Teile dieses Mosaiks: Man kann in der Kunst nicht sagen, dass ein bestimmtes Werk mehr oder weniger wichtig als ein anderes sei, und so kann auch ich persönlich nicht über die relative Wichtigkeit von Dingen entscheiden: für mich ist alles wichtig.» Dieser taktvolle Respekt vor den Erscheinungen, diese möglichst offene Wahrnehmung, die nicht zum vornherein selektioniert und privilegiert, zeichnet Güney aus und verleiht seinen Werken jene seltsame und strenge Würde, die man wiederum auch in Güneys Gestalt, seinem Gesicht erblickt. Güneys Kunst entsteht aus weiser Zurückhaltung, aus gleichbleibender Aufmerksamkeit allen Dingen gegenüber. Güney begibt sich damit in die klassische Beobachtungsrolle der grossen, nicht-mediokren Intellektuellen. Weder versumpft er in selbstquälerischer und handkehrum selbstgefälliger Innerlichkeit, noch zieht er verlockende Kurzschlüsse aus seiner Beobachtung.

Güneys Zurückhaltung zeigt sich auch in seiner Kameraarbeit. Obwohl bei Yol, wie auch schon bei Düsman und Sürü, nicht er selber, sondern Serif Gören — beziehungsweise Zeki Oekten — Regie auf dem Set geführt hat, trägt die Kameraarbeit auch hier Güneys Handschrift, hat er doch in einem 150-seitigen Drehbuch Einstellung um Einstellung vorher festgelegt. «Ich beschränke die Kamerabewegungen aufs Minimum: Was sich bewegt, ist nicht die Kamera, sondern der Mensch im Dekor oder in der Landschaft», erklärt Güney.

Die Arbeitsweise der Regieführung aus dem Exil hat Güney also schon vor Yol öfters praktiziert. Zurzeit etwa als Zeki Oekten Sürü realisierte, sass Güney im Gefängnis. Insgesamt verbrachte er zwölf Jahre seines Lebens hinter Gittern und wurde zu weiteren fast hundert Jahren verurteilt, bevor er sich im Oktober 1981 anlässlich eines fünftägigen Hafturlaubs für das religiöse Bayran-Fest zuerst in die Schweiz, dann nach Frankreich und schliesslich nach der Verleihung der Goldenen Palme in Cannes nach Griechenland absetzte. Güney schmälert bei der Regie-Delegierung die Leistung des tatsächlichen Regisseurs nicht:

Ich kann nicht sagen, dass es ich war, der diesen Film (Sürü) gemacht hat: Ich war nur ein Mann, der seine Ideen mitteilte, seine Eindrücke, seine Vorstellung der Dinge, aus dem Gefängnis heraus; natürlich wurde ich miteinbezogen, aber der Erfolg gehört denjenigen, die auf dem Platz waren und tatsächlich den Film gemacht haben.

Immerhin: er teilte den Regisseuren, die stets persönliche Freunde waren, seine Vorstellungen in tagelangen Gesprächen und in Briefwechseln mit. Und Yol montierte er — nachdem das belichtete Material aus der Türkei geschmuggelt worden war — selber und synchronisierte den Film mit in Paris lebenden Exiltürken nach.

Güney versteht seine Arbeit politisch. Es ist kaum nur der türkischen Zensur, sondern auch seinem eigenen Filmverständnis zuzuschreiben, wenn in den drei genannten Filmen das direkte politische Statement fehlt. Die Geradlinigkeit seiner mündlichen politischen Äusserungen erstaunt darum auf den ersten Blick. Den komplexen Filmen und den vielsagenden Bildern steht eine strenge, marxistische Rhetorik gegenüber. Beim zweiten Hinschauen merkt man, dass dies keinen Widerspruch begründen kann. Güney, der sich zum Marxismus als Methode bekennt, illustriert in Yol, Sürü und Düsman nicht einfach eine Parteidoktrin mit passenden, mächtigen Bildern. Genau umgekehrt gelangt er durch seine konzise Beobachtung der türkischen Realität, die sich dann in den Filmen so komplex darstellt, zu diesen einfach klingenden Schlussfolgerungen, wie etwa:

Man kann nur abwarten, dass die wirtschaftliche Situation einen Mentalitätswechsel bewirkt. Man kann nicht, ohne die ökonomische Situation als Basis in Rechnung zu stellen, sagen «wir zerreissen jetzt den Schleier» — das ist nur möglich bei wirtschaftlichem Fortschritt, bei Ausdauer und dank Überzeugung.

Über solche Sätze, die klar die Rolle der wirtschaftlichen Prosperität darlegen, stolpern Mitteleuropäer, die seit zwanzig Jahren «gebremstes Wachstum» vor Augen haben, natürlich. Man versteht Güneys Wirtschafts-Stichwort besser, wenn man daran denkt, dass seine Filme immer auch solche über Frauen sind. Wie erscheinen diese in Yol?

Die Frau bringt Tee und huscht gleich wieder aus dem Zimmer, als die Männer miteinander reden. Die Frau tischt auf, geht gleich wieder aus dem Raum, versucht unter der Türe noch etwas ihrem Verlobten zuzuflüstern, als die Männer unter sich beim Mittagstisch sitzen. Verhüllte Frauen sind zu sehen, als das Militär die Businsassen kontrolliert. Ein Mann holt im Zug seine Frau von der Toilette ab. Dies sind Güneys kleine Beobachtungen. Wie nebenher, scheinnatürlich, passieren hier die Dinge, die den Boden für die grossen Frauendramen von Yol legen. Die Frau, sagt Güney, ist in der Türkei eine Halbsklavin. Ihre Rolle sei von der Produktionsweise, der Arbeit bestimmt. Die Frau geniesst in der Türkei keine wirtschaftliche Freiheit, sie kann sich nicht selbst ernähren. Als Abhängige von ihrem Mann besorgt sie Kinder, Haus und Feld. Wohin die Frauen entfliehen können, zeigen Güneys Filme: ins Bordell oder ins Schweigen. (Wogegen die Männer nur gerade schweigen, wenn der Muezzin sie zum Gebet ruft.) Güneys mündliche Darstellung der Rolle der Frau in der Türkei klingt so krass, wie sie nachher im Film in Szene gesetzt ist. Seine These ist klar: Die Möglichkeit zur selbständigen Arbeit ist entscheidend für die individuelle Freiheit. Solchermassen wird Güneys vorher zitierte Äusserung über die Rolle der wirtschaftlichen Prosperität für die Abschaffung des Schleiers einsichtiger.

In Besuch auf Imrali diskutieren zwei Frauen darüber, ob es nun einen Fortschritt bedeute, wenn die Frauen jetzt auf dem Lande Shampoo zu benützen anfingen. Da wird das Problem wahrhaft exotisch; hingegen ist Güneys grundsätzliche Ansicht auch bei uns diskutabel.

Wie die wirtschaftliche, kapitalistische Entwicklung die feudalen Strukturen aus den Angeln wirft, zeigt vor allem auch Düsman. Ein von seinem Boden entwurzelter Bauernsohn kann in der Stadt keine Arbeit finden. Er verdingt sich als Gelegenheitsarbeiter. Seine Familie zerfällt unter dem steten wirtschaftlichen Druck, der auf ihr lastet, zerrieben auch vom in einer solchen Arbeitssituation unerfüllbaren Wunsch nach Konsumgütern. In diesem Film lässt Güney die Türkei hart auf den Westen prallen. Der Besuch eines deutschen Geschäftsmannes veranlasst die Türken, einen unwürdigen Reigen zu tanzen, nach der Melodie des Kapitalismus. Durch ein einziges Schauspiel der Selbsterniedrigung versuchen sie zum Geschäftsabschluss zu kommen. Auch der Auftritt einer mit Kameras und anderen Luxusgütern ausgestatteten griechischen Familie offenbart einen quälenden Klassenunterschied. Der Türke weiss nicht mehr, wo er hingehört. Weg von der bäuerlichen Scholle ist er zwar, doch ohne neue Bestimmung, ohne Arbeitsplatz, noch verhaftet in den feudalistischen Strukturen, die unter dem Druck der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung ihren Sinn und Zweck verloren haben, und die dem jungen Städter nur noch als repressive, überkommene alte Ordnung erscheinen können.

Seit nunmehr zwei Jahren sagt eine Militärdiktatur den Türken mit Gewalt, wo sie langzugehen haben. Bereits wurden über 3000 Todesurteile ausgesprochen — die Türkei wird von obrigkeitlicher Willkür beherrscht. Im kommenden November dann wird das Volk über die neue Verfassung abstimmen, die die Meinungs- und Pressefreiheit beschränkt und unter anderem den Gewerkschaften die politische Betätigung verbieten will. Yilmaz Güney wird in diese Türkei wohl kaum zurückkehren können, obwohl er sich nur als vorübergehend abwesend betrachtet. Güney will neu lernen: «Wenn ich in den Pariser Strassen spaziere und mich umsehe, sehe ich überall rote blinkende Lichter, die mich auffordern, sie zu filmen. Ich werde jetzt französische Filme ansehen um zu wissen, ob diese roten Lichter tatsächlich schon gefilmt worden sind.» Und in einem später gegebenen Interview äusserte er sich ähnlich, aber zurückhaltend bezüglich mitteleuropäischer Filmprojekte:

Ich habe im Moment verschiedene Projekte, die mir durch den Kopf gehen, die ersten werden sicher noch mit der Türkei zu tun haben. Dies nicht zuletzt auch, um mir die Zeit zu geben, mich in meinen neuen Lebensbedingungen umzusehen, mich einzuleben. Es wäre sicher falsch, jetzt gleich mit Filmen über die westliche Welt zu beginnen, eine Welt, die ich nur aus der Ferne kenne. Ich muss jetzt vor allen Dingen einmal lernen.

Auf jeden Fall kann man gespannt Güneys nächsten Film erwarten. Die türkischen Probleme liegen auch in Mitteleuropa — ganz abgesehen vom verfeindeten Griechenland — auf der Strasse, in Berlin, oder auch in Genf:

20. Juli. (DDP) Am Sonntag hat sich in Genf ein türkischer Flüchtling mit Benzin Übergossen und angezündet... Der Mann protestierte mit seiner Aktion gegen die Rückweisung seiner Frau in die Türkei... Angaben der Genfer Polizei, bei der Selbstverbrennung habe es sich um eine Schlägerei betrunkener Türken gehandelt, seien eine «Falschmeldung».

Yol. R: Serif Gören; B: Yilmaz Güney; K: Erdogan Engin; Sch: Yilmaz Güney, Elisabeth Wälchli; P: Güney Film, Cactus Film Zürich 1982; D: Tarik Akan, Serif Sezer, Halil Ergün, Meral Orhonsoy, Necmettin Cobanoglu, Semra Ucar, Hikmet Celik, Sevda Aktolga, Tuncay Akca 35 mm, Farbe, 111 Minuten

Peter Schneider
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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