BERNHARD GIGER

NACKTE ZAHLEN GEGEN DIE PHANTASIE — BEMERKUNGEN ZUM BUCH «FILMMANUFAKTUR SCHWEIZ» VON THOMAS MAURER

CH-FENSTER

Was beim Lesen zuerst — und auf die Dauer recht unangenehm — auffällt, ist die kühle Distanz des Autors zu seinem Thema. Maurers Sicht ist die eines Aussenstehenden, er argumentiert vom Schreibtisch aus. Klar, dass von dort aus der neue Schweizer Film anders aussieht als aus der Sicht derer, die ihn gemacht oder begleitet haben. Es ist kaum anzunehmen, dass zum Beispiel Fredi Murer die Anfänge des neuen Films so erlebt hat, wie sie Thomas Maurer heute sieht. Maurer schreibt: «Praktisch die gesamte neue Schweizer Filmproduktion der sechziger und frühen siebziger Jahre kann als Herausbildungs- und Qualifikationsprozess von Regisseuren, Technikern und Produzenten verstanden werden.» Mit andern Worten: die Anfänge des neuen Schweizer Films, eine Zeitspanne von immerhin sechs bis acht Jahren, waren Sandkastenspiele. Da haben angehende Regisseure, Techniker und Produzenten von Millionendingern ihre Lehre absolviert. Ein paar sind dann bei der Abschlussprüfung durchgefallen, weil sie bei dem ersten grösseren Projekt «aus Mangel an Erfahrungen Qualifikationsdefizite und Illusionen» aufzuweisen hatten. (Maurer nennt Stella da falla und Albert R)

Für Maurer ist dieser «Qualifikationsprozess» ein zentraler, bisher kaum hervorgehobener Aspekt des neuen Schweizer Films. Solcher Argumentation könnte man vielleicht folgen, wenn der neue Schweizer Film — wie der neue deutsche Film — mit dem Anspruch aufgetreten wäre, das von den «Vätern» besetzte Kino erobern zu wollen. Aber in der Schweiz hat es kein Oberhausener Manifest gegeben, der neue Film verstand sich mehr als eine mögliche Reaktion auf Erscheinungen und Vorgänge in unserem Land. Obwohl schon früh versucht wurde, Filme, auch Dokumentarfilme, ins Kino zu bringen, sahen die meisten Filmemacher in den Produktions- und Vertriebsformen eines alternativen Kinos eine — zum Teil die einzige — Chance, das zu machen, was für sie wichtig war. Maurer, der seine ersten Kontakte mit dem Film als Operateur im Berner Kellerkino hatte, sollte das eigentlich wissen.

Damals und auch im Laufe der siebziger Jahre wurden Fehler gemacht, das ist unbestritten. Die grossen Ideen vom freien Filmschaffen und vom anderen Kino konnten nur in Ansätzen verwirklicht werden und vieles, was damals versucht, gesagt oder geschrieben wurde, erscheint rückblickend tatsächlich als eine Illusion (wobei Illusion auch durch Hoffnung ersetzt werden könnte) — dies ist aber noch kein Grund, die Anfänge des neuen Films nun einfach als «Qualifikations-prozess» zu werten. Wer das tut, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, er sei überheblich.

Vom Schweizer Film, so steht's schon im Vorwort, handelt das Buch, von 101 zwischen 1966 und 1980 entstandenen, mindestens 75 Minuten langen Spielfilmen ist hauptsächlich die Rede. Erstaunlich ist, dass der Herausgeber — nicht irgendein Verlag, sondern das Schweizerische Filmzentrum — solche Einseitigkeit zuliess.

Maurer folgt einer Entwicklungslinie. Dadurch wird der Leser, der nicht Insider ist, irregeführt, weil das, was allgemein — und nicht nur von ein paar unverbesserlichen Sektierern — unter Schweizer Film verstanden wird, nur in Randbemerkungen vorkommt.

Nicht näher eingegangen wird in dem Buch also auf den Dokumentarfilm — der von den frühen sechziger Jahren, von Quand nous étions petits enfants, Siamo Italiani und Ursula oder das unwerte Leben, bis zumindest Mitte der siebziger Jahre die wichtigste Ausdrucksform des neuen Schweizer Films war —, nicht eingegangen wird auf den Experimentalfilm, den Trickfilm und den Kurzspielfilm. Dies wäre, würde das Buch nicht mit einem überrissenen Anspruch daherkommen, noch zu akzeptieren. Bedenklicher wird es jedoch, wenn auch das eigentliche Thema einseitig angegangen wird. Maurer fordert — im Nachwort — «populäre filmische Formen» und kritisiert das «resignative Nachtrauern über die besonderen Vorteile und Qualitäten der einstigen Low-Budget-Produktionen».

Seltsam an dieser Argumentation ist, dass der heutige Leiter der Filmförderung im Eidgenössischen Departement des Innern, einer also, der besser als alle anderen wissen müsste, wie es um den Schweizer Film steht, in der Vergangenheits-Form von Low-Budget-Produktionen spricht. Von einem resignativen Nachtrauern kann doch überhaupt keine Rede sein in einer Zeit, da der Low-Budget-Film nicht nur für Anfänger oft die einzige Möglichkeit ist (oder wäre), etwas zu machen, in einer Zeit auch, da Low-Budget-Filme wieder Kinos füllen — kleine Kinos, aber Kinos, deren Besucher auf «populäre Filmformen» pfeifen, wenn ein Film ihre Gefühle aufwühlt. Maurer weist zwar auf eine in den letzten Jahren «verstärkte Polarisierung zwischen Normal- und Low-Budget-Produktionen» hin. Doch ist für ihn diese Entwicklung «kein Beweis dafür, dass es mit etwas gutem Willen und viel Phantasie möglich ist, billige Filme zu realisieren», er sieht in ihr vielmehr einen Ausdruck der gegenwärtigen Krise des Schweizer Films: «Die schweizerische Filmproduktion war in den letzten drei Jahren (1978-1980) nur noch in der Lage, durchschnittlich fünf Filme unter normalen und professionellen Bedingungen zu realisieren.» Normale und professionelle Filme — das sind für Maurer offenbar nur die Millionendinger. Billig jedoch ist abnormal und unprofessionell.

Ich glaube, dass es endlich einmal Zeit wird, den Begriff Low-Budget nüchtern zu betrachten und ihn nicht einfach dem ideologischen Gepäck irgendwelcher komischer Rufer in der Kinowüste zuzuweisen. Low-Budget-Filme sind ja nicht eine Erfindung des notleidenden neuen Schweizer Films, sondern eine Produktionsform, die auch im internationalen Kino längst bekannt ist. Die jüngere Filmgeschichte weist da ein paar recht prominente Beispiele auf, einige Werke der Nouvelle Vague etwa oder Werke aus den Anfängen von New Hollywood, Leitfilme wie Easy Rider und Mean Streets — Filme allesamt, die noch und noch und mit Erfolg wiederaufgeführt werden. Insofern ist auch Maurers Wertung der ersten neuen Schweizer Kinofilme unrichtig. Er vermutet, dass der fehlende Publikumszuspruch für diese Filme auch durch ihre «karge, ja ärmliche» Machart bedingt gewesen sei. Die Tatsache jedoch, dass die schweizerische Kinowirtschaft dem neuen Schweizer Film lange Zeit eine breite Abspielbasis verweigert hat, weil ihr Kinoverständnis dermassen konventionell war, dass sie von vornherein glaubte, diese Filme würden das Publikum nicht interessieren, erwähnt Maurer nicht.

Niemand verlangt Low-Budget-Filme bloss aus ideologischen Gründen. Wenn aber die Filmförderung ein breites und vielseitiges Filmschaffen nicht mehr garantieren kann, so stellt sich doch die Frage, was nun besser sei: jährlich ein paar Millionenfilme, die unter ungeheurem Erfolgszwang stehen, oder eine Reihe billig produzierter Filme, in denen das Risiko noch eine Rolle spielen darf. Billig - auch dieses Klischee sollte endlich aus der Welt geschaffen werden — muss ja nicht heissen: schluderig; muss auch nicht heissen, dass die Techniker gratis arbeiten.

Die Erfolgsbilanz des neuen Schweizer Films, so schreibt Thomas Maurer im Nachwort, sei «nicht einfach in Franken und Rappen zu erstellen». Jeder, der diesen neuen Schweizer Film ein bisschen kennt, wird ihm dabei zustimmen. Aber Maurers Buch analysiert die Filmproduktion eben aufgrund von Franken und Rappen. In dieser Hinsicht enthält es auch Materialien, die nützlich und wertvoll sind. Was dem Buch durchwegs fehlt, ist die Liebe zur Sache, die es behandelt. Gewiss, wer vom Geld spricht, wird mit Gefühlen vorsichtig sein müssen. Die Behauptung sei jedoch aufgestellt, dass vom Schweizer Film nicht die Rede sein kann, wenn die Gefühle nicht mit im Spiel sind. Mit anderen Worten: dem Schweizer Film kann der nicht gerecht werden, der gegen die Phantasie nackte Zahlen stellt. Die enorme Kostensteigerung kann nicht beschrieben, populäre Filmformen können nicht gefordert werden, wenn nicht gleichzeitig auf die Gefahr einer zwar den internationalen Kinostandards genügenden, sonst aber völlig eindimensionalen Filmproduktion hingewiesen wird, und wenn nicht gleichzeitig auf die Gefahr des Verlusts all dessen hingewiesen wird, was den Schweizer Film international und national ins Gespräch brachte.

Filmmanufaktur Schweiz, Kleine ökonomische Entwicklungsgeschichte; mit einem Vorwort von Lilian Uchtenhagen; herausgegeben vom Schweizerischen Filmzentrum in der Reihe Texte zum Schweizer Film; 198 Seiten, zahlreiche Abbildungen; Zürich 1982.

Bernhard Giger
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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