ALAIN CORNEAU / ANDRÉ TÉCHINÉ

STICHWORTE — AUSZUG AUS GESPRÄCHEN MIT ANDRÉ TÉCHINÉ UND ALAIN CORNEAU, GEORDNET NACH DEN SCHLAG- UND STICHWORTEN, DIE ZURZEIT DIE SZENE BEHERRSCHEN

ESSAY

«Das beste Kino der Welt»

Seit fünf Jahren etwa hört man das; es ist zu einer Art Litanei geworden. Wie andere auch ist diese extreme Formulierung eine Reaktion, dieses Mal auf den sehr französischen Brauch der Selbstbestrafung, und geht in vielen Fällen wirklich zu weit. Mich schockiert natürlich, dass die Beschimpfung des amerikanischen Kinos mit dem Feiern des eigenen einhergeht. Immerhin: das Schlagwort vom «besten Kino der Welt» hat mit der ökonomischen Situation des französischen Films in Europa zu tun, wo der französische Film — auf eine gar nicht einfach wunderbare Art — der einzige ist, der funktioniert und Bestand hat. In keinem einzigen anderen Land gibt es tatsächlich pro Jahr eine so grosse Zahl von Erstlingswerken. (Ich spreche gar nicht von ihrer Qualität vorerst, nur von ihrer Zahl). Und das Spektrum der in Frankreich produzierten Filme ist so breit wie in keinem anderen Land, die USA eingeschlossen. Mich beunruhigt, dass wir die einzigen sind in Europa, denn allein können wir natürlich nicht bestehen.

«Das beste Kino der Welt» ist natürlich eine polemische Formulierung. Man hat genug oft das Gegenteil davon gesagt. Es gibt keine neue Nouvelle Vague seit einigen Jahren; es gibt eine neue Art von Produktion, in der — kurz gesagt — der allmächtige Autor etwas von seiner Allmächtigkeit verliert zugunsten der kollektiven Arbeit von Produzent, Schauspielern, Szenarist, Technikern und Regisseur. Wohin das führt, ist ungewiss. Was ich weiss, ist lediglich, dass wir unsere Filme endlich auch exportieren müssen. In Frankreich haben wir viel erreicht: das französische Kino vermag die Hälfte aller Zuschauer an sich zu ziehen. Der amerikanische Markt müsste geöffnet werden. Wenn wir dort jetzt uns zeigen, nur die Nasenspitze, wird's unfehlbar ein Flop. Der amerikanische Protektionismus ist so stark wie eh und je. (Corneau)

Das Ende des «cinéma d'auteur»

Ich glaube nicht, dass das «cinéma d'auteur» ausgespielt hat. Die Filmer haben ja so wenig Kontakt untereinander; man kann das bedauern, aber es garantiert auch Persönlichkeit des Einzelnen, schützt vor dem Verlust. In Frankreich hatten wir ja eigentlich immer nur ein «cinéma d'auteur». Clouzot ist so gut ein Autor, wie Truffaut einer ist; auch Carné und Becker. (Die Nouvelle Vague hat diesen Autoren Unrecht getan.) Jeder Filmemacher in Frankreich ist ein Künstler oder versteht sich als solcher, nicht als Techniker. Das ist ja auch der Grund, weshalb wir im amerikanischen Film Autoren entdeckt haben; die anthropomorphische Sicht und Interpretation des klassischen amerikanischen Films ist eine Art Projektion. Die Avantgarde im französischen Kino stirbt nicht aus; sie gehört bei uns einfach dazu. (Corneau)

Es besteht heute die grosse Gefahr, dass die Avantgarde vom normalen Kino völlig abgetrennt wird. Die Folgen einer solchen Trennung wären unabsehbar. Das französische Kino hat bis jetzt immer von seiner Lust nach dem Experimentieren gelebt. Es gibt sie noch — bei Cosarinsky, bei Breillat, Biette, Stévenin, um nur ein paar Neue zu nennen —, aber sie ist gefährdet. Beispielsweise auch durch gewisse Entwicklungen in der Filmförderung. Heute besteht das Problem darin, die Fehler und Schwächen des «cinéma d'auteur» einerseits und die Gefahren der Standardisierung zu vermeiden. Der Filmemacher muss persönlich und wirkungsvoll sein, wenn er arbeiten will. Truffaut hat das geschafft. Mich persönlich reizt am meisten die Risiken der filmischen Formulierung, aber das ist heute schon eher ein Handicap geworden. (Téchiné)

Gross und klein

Von einem Film zum nächsten muss man abwechseln wie beim Sport. Bis heute hatte ich dieses Bedürfnis, und ich habe es bis jetzt befriedigen können: Ich habe Filme gemacht, die sich technisch entfalten mussten und durften, und andere, kleinere, die sich auf einzelne Züge konzentrierten und auch auf ein bestimmtes, beschränktes Publikum. Es war mir klar, dass ich mit «Série noire» nicht viele Zuschauer erreichen würde; ich bin nicht verrückt. Auch nach Le Choix des armes bin ich noch nicht gezwungen, ein bestimmtes Kino mit einem bestimmten Stil und in einer bestimmten Grösse zu machen. Im Moment habe ich eher wieder Lust auf etwas Kleines, mit zehn Leuten auf dem Set oder so. Ob man mich lässt, weiss ich nicht, aber ich darf noch hoffen. (Corneau) Das Starsystem hat mich — wie andere, zum Beispiel Jacques Doillon und Benoit Jacquot — eingeholt. Mich mit Les Sœurs Brontë. Ich musste die Mitte zwischen Kultur und Starsystem finden. Und bei jenem Film bin ich nicht sehr gut gefahren. Er hätte drei, ja dreieinhalb Stunden dauern sollen, aber er durfte es dann nicht. Einen ganz kleinen Film werde ich wohl nicht mehr machen dürfen, es sei denn, wie jetzt, für das Institut National de l'Audiovisuel (INA). Und selber produzieren kann ich nicht, habe keine Begabung dazu. (Téchiné)

Das neue «cinéma de qualité»

Ich denke nicht, dass Claude Millers Garde à vue bereits ein akademischer Film ist. Er ist der Kulminationspunkt der Wiederaneignung der französischen Filmtradition in einem Geist, der eben nichts zu schaffen hat mit jenem der fünfziger Jahre. Man kann sich allerdings vorstellen, dass Garde à vue Folgen und Imitationen haben wird. Aber Claude Miller wird sich selber nicht wiederholen. Er hat immer gesagt, dieser Film sei ihm angetragen worden, und die Vorlage habe ihn fasziniert. Dass er selber nun hingeht und sich wiederholt, ist nicht anzunehmen. Andere könnten es tun. Die Versuchung, Erfolge zu wiederholen, ist natürlich da, bei den Produzenten vor allem, und die würden auch Realisatoren finden. (Corneau)

Es gibt schon eine ganze Menge von standardisierten Filmen bei uns. Man kann das nicht bestreiten. Und Claude Millers Garde à vue gehört in einem gewissen Sinne dazu. Es wird schwer sein, sich da draus zu halten. (Téchiné)

Das Starsystem

Wir haben ein Starsystem, aber aufgepasst: Es gibt zuerst einmal diesen Rückgriff auf den Schauspieler; der Schauspieler wird Subjekt des Films. Man schreibt für ihn, man schreibt seinetwegen. Das gibt es auch bei den Amerikanern: Sidney Pollack und Robert Redford sind sehr effizient zusammen. Zweitens gibt es Schauspieler, die das Werk von Regisseuren (Autoren) begleiten: Noiret zum Beispiel jenes von Bertrand Tavernier. Drittens — und das soll optimistisch, aber nicht zu optimistisch tönen — gibt es neben Montand, Belmondo und Delon doch eine ganze Reihe von Stars, die sich installiert haben, von Depardieu (der übrigens eine völlig chaotische Karriere hat) bis Dewaere, der sich auch nicht nur darum kümmert, ob alle Rollen, die er spielt, in seine persönliche Mythologie passen. In Frankreich mit seinen 40 Millionen Einwohnern könnte man immerhin einen Film mit zehn Stars aufziehen. Versuchen Sie das in Italien oder sogar in den USA. Schliesslich soll man auch nicht vergessen, dass es lustvoll sein kann, mit dem öffentlichen Bild der Stars zu arbeiten, es zu brauchen und es zu unterlaufen, aus Spass. (Corneau)

Für mich waren die Stars als Schauspieler meistens richtig. Ob es für die Stars richtig war, weiss ich nicht. Aber ich frage mich, was Pialat nach Loulou (Depardieu und Huppert) und Doillon nach La Fille prodigue (Piccoli und Jane Birkin) tun wollen. (Téchiné)

Die neue Landschaft des französischen Films

Noch ist das Bild ziemlich konfus. Es gibt keine identifizierbare Bewegung mehr wie zur Zeit der Nouvelle Vague. Es gibt zum Teil die zuweilen heftige Ablehnung des Autorenbegriffs, aber das hat sich noch nicht gruppiert und definiert. Das französische Kino oszilliert zwischen Kultur und Starsystem; jeder versucht seine eigene Position zu finden. Alles ist noch lebendig, in Bewegung. (Téchiné)

Es gibt keine Gruppierung mehr im Gegensatz zur Zeit der Nouvelle Vague. Es gibt lediglich Zusammenhänge und Tendenzen, zum Beispiel die Rückkehr zur Erzählung, die Rückkehr zum Schauspieler in der französischen Tradition. Die Kollektivarbeit holt auf; das Ende des allmächtigen Autors ist eingeleitet. Ich denke, es lässt sich heute etwas feststellen, was in den sechziger Jahren verpönt war: Jeder versucht, sich seiner Herkunft zu versichern. Alle suchen ihre Väter, und die finden sie nicht bei den Autoren der Nouvelle Vague, sondern oft in jener Tradition, die die Autoren der Nouvelle Vague schlechtgemacht haben. Es gibt ganz junge Cineasten, die bereits viel gelöster zu arbeiten beginnen als wir; die gehen schon gar nicht mehr in die Cinémathèque, und die Strukturalismusdiskussion kennen sie überhaupt nicht; die fangen einfach an. Wir unsererseits, die uns auf die vorübergehend verschüttete Tradition des französischen Films, vor allem auch des policier besinnen, stellen fest, dass uns das Publikum folgt: Dass die Cineasten schneller vergessen hatten als das Publikum. Das Publikum musste Jean Gabin nicht wiederentdecken; die Cineasten mussten. (Corneau)

Alain Corneau
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
André Téchiné
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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