CORINNE SCHEIBEN

WENN HEIMWEH KEIN LUXUS IST... — LATEINAMERIKANISCHE FILMEMACHER IM EXIL

ESSAY

Das Zitat: «Gegenwärtig arbeiten chilenische Filmemacher in verschiedensten Teilen der Welt an Werken, deren vordringlichstes Ziel ist, das Bild eines kämpfenden, an einen letztlichen Sieg glaubenden Volkes zu präsentieren und die verschiedenen historischen Phasen des Landes zu analysieren, auf dass diese Elemente zu einem grundlegenden Verständnis über vergangene Geschehnisse zusammengetragen werden, die auch eine Hoffnung für die Zukunft erlauben. Gleichzeitig verstehen sich diese Filme als Beitrag zum Kampf des Weltproletariats, da wir uns bewusst sind, dass der Kampf des chilenischen Volkes auch der Kampf aller freien Völker auf der Erde ist.» Miguel Eutin, 1975

Es gibt ein aktives chilenisches Kino im Exil, davon konnte man sich an der diesjährigen «Mostra Internazionale del Nuovo Cinema» in Pesaro überzeugen. Die Bilanz ist eindrucksvoll: In den vergangenen acht Jahren entstanden 90 Werke, wovon 29 abendfüllende, 15 mittellange und 46 kurze Filme.

Die Wirklichkeit: Viele chilenische Filmemacher rekonstruieren die Allende-Zeit. In La escuela von Reinaldo Zambrano wird eine Gruppe von Bauern gezeigt, die im Süden des Landes um die Verwirklichung der Agrarreform kämpfen. Sie verzeichnen Erfolge - aber Pinochets Staatsstreich zerstört jäh die Hoffnung auf eine neue Gerechtigkeit. Im dritten Teil von Patricio Guzmans La batalla de Chile, El poder popular, werden die von den Arbeitern erschaffenen Basisorganisationen, die den bürgerlichen Staatsapparat durch eine sozialistische Ordnung ersetzen sollen, vorgestellt. Es ist dies die mit authentischem, aus dem Land geschmuggeltem Material, der Zelluloid-Ewigkeit überlassene Aufzeichnung der siegreichen Phase der «Unidad popular», als Bauern und Arbeiter angesichts einer unentschlossenen Regierung zur Selbsthilfe griffen.

Solche Filme erheben das Gestern zum Heute, sie zwingen die Vergangenheit zu etwas Gegenwärtigem, auf dass die Hoffnung nicht untergehe. Solange man über diese Ereignisse spricht, sie dokumentiert und analysiert, solange sind die drei wundersamen Jahre des Aufbruchs noch nicht endgültig der Historie überlassen. Bei diesen Filmen spürt man, dass die Autoren gegen ein entsetzliches Heimweh kämpfen. «Ihr» Chile soll, darf nicht untergehen. Das jetzige Regime darf nur Übergangsphase, darf kein definitiver Rückschlag sein. Dabei müsste eigentlich die Resignation stetig wachsen: Chile wird vom Westen nicht mehr so selbstverständlich denunziert, nicht nur Strauss schüttelt heute Pinochet die Hand. Man spricht von einer zögernden Öffnung, von einer Normalisierung. Die Amerikaner haben das Regime bereits von einem «totalitären» zu einem bloss «autoritären» befördert. Bald, wer weiss, wird Chile wie vor fünf Jahren Brasilien nach dem schrecklichsten Neofaschismus noch eine der erträglichsten Staatsformen (Uruguay und Paraguay kommen ohnehin immer an letzter Stelle) des Kontinents haben. Dann droht die Gefahr, dass die Opposition die Aufmerksamkeit und Sympathie der Weltöffentlichkeit verliert. Der Krise des Widerstands folgt dann die Krise der schleichenden Anpassung, wenn die ersten Exilierten, Hoffnung schöpfend, ins Land zurückkehren. Körperlich haben sie überlebt, nun müssen sie geistig überleben.

Die Darstellung der Vergangenheit als aktuelle Wirklichkeit hat etwas Geisterhaftes. In La escuela, im Tessin gedreht, gibt sich der Regisseur alle Mühe, sein Land wieder aufleben zu lassen. In einem kargen Büro diskutieren Landarbeiter mit einem lokalen Verwalter. An der Wand hängt das Porträt Allendes. Fast wäre die Illusion perfekt, wenn da nicht der Heizkörper wäre, der, auch wenn diskret im Hindergrund, ein unverkennbar «schweizerischer» Gegenstand ist.

Gespenstisch, das Elend wie bei Nazi-Prozessen durch lückenlose Aufzählung bürokratisierend, sind die Zeugnisse von Chilenen in Recado de Chile, wo Mitglieder der «Vereinigung der Familienangehörigen von Gefangenen und Verschollenen» frontal zur Kamera Daten liefern. Name, Alter, Beruf des Suchenden, Name, Alter, Beruf des Gesuchten. Manchmal ersticken Tränen die Stimme, dann machen sie Pause, um alsbald gefasst wieder weiter aufzuzählen. Ein monotoner Film, im Zuschauersaal Langeweile provozierend, obgleich doch hier oben auf der Leinwand eine Frau wahrhaftig ihren Mann vermisst und hofft, mit ihrem Appell etwas in Bewegung zu setzen.

In Gracias a la vida von Angelina Vazquez wird ein Schicksal geschildert, das uns in seiner Ungeheuerlichkeit melodramatisch überrissen dünkt, das aber beileibe kein ungewöhnliches ist: Eine Widerstandskämpferin konnte nach Gefängnis und Folter nach Finnland zu ihrer Familie flüchten. Sie erwartet ein Kind von einem ihrer Quäler, dem unbekannten bekannten Gefängnisaufseher. Sie möchte abtreiben, aber sie schafft es nicht, das Ungeborene zu töten. Am Ende beschliessen sie und ihr Freund, sich zurück nach Chile zu schmuggeln. Lieber Todesgefahr, lieber ein Leben im Untergrund, als das Leben in einem kalten, fremden Land, in welchem sie nun frierend im Holzhaus versammelt chilenische Volkslieder singen.

Von argentinischen Bekannten erfahre ich, dass das Heimweh sie nach Jahren erzwungenen Exils zurücktreibt. Von Mexiko, Spanien, Italien kehren sie zurück in ein von Repression beherrschtes Land. Sie können dort nur überleben, wenn sie sich still verhalten. Aber sie nehmen dies auf sich. Denn sogar argentinische Marxisten haben Tränen in den Augen, wenn sie von Evita Peron reden, so weit ist es mit ihrem Heimweh schon gekommen.

Wir Schweizer, oder zumindest viele unserer Generation, gehören zu denen, die immer weg wollen. Beim Wort «Vaterland» fahren wir zusammen. Das Gefühl des Heimwehs ist ein exotisches, das freudig erschreckt, ein Luxus, den wir uns mitunter leise triumphierend leisten. (Wie zufrieden bin ich, wenn mich beim Anblick eines Alpenpanoramas im New Yorker Swissair-Büro dieses Gefühl kurz anfliegt, wenn ich bei meiner Schwester in Denver wehmütig den Schallplattenklängen eines Alphorns lausche.) Wir gehen freiwillig ins «Exil» und gemessen aus der Ferne das mitunter auftauchende süsse Gefühl nationaler Zugehörigkeit.

Was aber geschieht, wenn das Heimwehgefühl ein körperliches wird, wenn die nicht zu bannende Sentimentalität und Nostalgie den Blick auf die wahren Geschehnisse im Land trübt? Wir Schweizer können im Ausland immer nüchtern und distanziert bleiben, die expatriierten Südamerikaner brechen bei Liedern, Fotos, Erinnerungen in Tränen aus, sie werden sentimental auch bei solchen folkloristischen Produkten, die von den gegenwärtig Herrschenden bereits für sich reklamiert und chauvinistisch ausgenützt werden.

In El Paso von Orlando Lübbert - eine DDR-Produktion übrigens - lässt der Autor die atemberaubende Gebirgslandschaft der Anden auferstehen in einer Geschichte von drei Chilenen, die über die Berge zu Fuss nach Argentinien flüchten. Wildwestromantik, wohin das Auge blickt, Grenzpolizisten hoch zu Ross, Bauern auf Mauleseln, wilde Bäche, Sonnenuntergänge. Der Filmemacher hat sein geliebtes Land wahrscheinlich in Spanien, dem Land der Spaghettiwestern, wiedererschaffen. Nicht, um in Schönheit zu schwelgen, sondern um daran zu erinnern, wie Flüchtige aus Chile, an der argentinischen Grenze zurückgeschoben, von ihren Häschern ermordet wurden. Die landschaftliche Schönheit in diesem Film ist ein Beiprodukt. Ein Beiprodukt allerdings, das den expatriierten Filmemacher mit Sehnsucht erfüllt haben muss.

«Argentinien, Chile, Uruguay, Paraguay, kürzlich auch Bolivien und bis vor kurzer Zeit Brasilien befanden und befinden sich unter einer faschistischen Diktatur; die logische Folge davon ist, dass unser lateinamerikanisches Kino eine schwere Krise durchläuft. Die prekäre Situation in Kolumbien und Ecuador, die relative Öffnung neuerlich in Brasilien, die gegenwärtige bürgerlich-liberale „Demokratie“ in Peru - all diese Faktoren wie auch die Befreiungskämpfe in Guatemala und El Salvador drücken den lateinamerikanischen Filmemacher zweifelsohne an die Wand. Wir befinden uns in einer Krise. Und wir stecken in einer Krise, die viel schwerwiegender ist als alle vorhergehenden. Unser Kino ist nichts anderes als die Reflexion einer Massenbewegung eines jeden Landes.1 Weil wir von Anfang an nichts anderes gemacht haben als ein zum Klassenkampf sich bekennendes Kino. Dennoch gibt es Kritiker, vor allem europäische, die von einer Krise unseres Kinos reden, als sei diese aus der Luft angeflogen gekommen. Sie sagen, die Inspiration sei uns verloren gegangen. Sie sagen, dass das lateinamerikanische Kino tot ist. Ohne uns eine Erklärung dafür zu liefern.»2 Patricio Guzman, 1980

Das lateinamerikanische Kino ist nicht tot; in Brasilien ist es sogar beängstigend lebendig, in Kuba geht es ohnehin kontinuierlich weiter, in Peru und Venezuela gibt es erstmals nennenswerte, auf dem kontinentalen Markt konkurrenzfähige Filme.

Aber das (kämpferische) Exilkino verbreitet mitunter den Geruch des Todes, weil (vorderhand) noch rückwärts geblickt werden muss, weil die damit Angesprochenen, weil die Betroffenen, denen damit Mut und Hoffnung gemacht werden soll, diese Produktionen nicht sehen können.

Und während die einen - die militanten Verfechter eines «kontinentalen» Kinos - um die Aufrechterhaltung ihrer sozialen Utopie ringen, kämpfen andere um ein volksnahes, populäres Kino, kämpfen um ihre nationale Identität auf der Leinwand. Einigermassen demokratische Regierungen wie in Brasilien, Peru und Venezuela machen sich zu Verbündeten dieser Anstrengungen, unterstützen in ihrem wiedererwachten Nationalstolz Einheimisches. Aber immer nur bis zu einem gewissen Punkt, immer nur, solange man nicht an Tabus rührt. Und jederzeit kann diese Errungenschaft durch Regierungswechsel, die auf diesem Kontinent immer Staatsstreiche sind, jäh gestoppt und gar zerstört werden.

Das Kino im Exil läuft Gefahr, ein Nostalgiekino zu werden. Rückwärts gerichtet wird in kämpferischem Gewand Trauerarbeit geleistet, Trauerarbeit, die sich nicht einmal zum Schmerz bekennen darf.

In El Super, einem von kubanischen Emigranten in den USA geschaffenen Film, ist etwas von der doppelten Tragik des Exils zu spüren, die in den politischen Filmen nicht zum Ausdruck kommen darf. Ein Kubaner, der schlecht und recht seine Familie als Hauswart durchbringt, kämpft gegen den harten New Yorker Winter und gegen das Heimweh. Manchmal gibt es gesellige Abende mit Landsleuten in seiner winzigen Kellerwohnung. Es wird von alten Zeiten geschwärmt, vom verlorenen Ruhm in der Schweinebucht. Dem Hauswart wird die Sehnsucht nach seiner Heimat vermiest, weil seine Bekannten fanatische Batista-Anhänger sind und über Castro nur fluchen können, in einem Ton, der den Hauswart in Opposition treibt. Hier, inmitten seiner Schicksalsgenossen, kann er sich nicht einmal mehr leisten, sein Land zu lieben.

Für uns im freien Westen ist das Heimweh ein Luxus, für die Exilierten des lateinamerikanischen Kontinents ist es eine bittere, erzwungene Erfahrung. Das Heimweh hat manchen die Integrität gekostet (siehe die mitunter recht brüchigen Rückkehr-Argumente der Brasilianer Carlos Diegues und Nelson Pereira dos Santos), manchen sogar den Kopf Nun wollen sie ein Kino des Volkes machen, aber wie wollen sie «das Volk» erreichen, das bald nicht mehr weiss, welches nun «seine» Kultur ist? Dieser Kontinent hat durch Jahrhunderte dauernde Kolonisation, durch Diktatur und unverminderten Imperialismus, durch argen Zentralismus und Rassenverfolgungen gebietsweise nicht einmal mehr etwas, das es die eigene, wahre, unverfälschte Volkskultur nennen kann.

Albert Lot schreibt in seinem Aufsatz «Nach der Befreiung» (erschienen im Transatlantik, Juni 1981) über ein sogenannt befreites Land:

«Wenn Nicaragua nationale Eigenschaften hat, dann ist es die Kultur seiner Armut, die Kultur der Indios, der Campesinos, die Rebellion der Marginados, die Kultur aller Kulturlosen Nicaraguas. Denn die Kultivierten haben keine nicaraguensische Kultur. Bei allem Eifer für die Schaffung einer „nationalen Kultur“ zeigt sich, wie vergeblich und kindisch ein solches Programm ist. Es wird auch in Zukunft keine nationale Kultur geben. Dafür aber einen sozialistisch-realistischen Kitsch, der genauso international ist wie Pop-art und Reklame. Sie ist eine Kultur ohne Massen.»

Ich vergesse nie das Bild: 1972 hatte der bolivianische Präsident Banzer in La Paz eine Rede ans Volk angesagt. Zögernd versammelten sich die Indios, in ihre Wolldecken eingehüllt, gegen Nachmittag auf dem grossen Platz. Sie kamen, weil das Schliessen aller Geschäfte angeordnet worden war, das heisst, sie konnten ohnehin nicht ihre Zahnpasta und ihre Kaugummi, auf einer Decke auf dem Trottoir ausgebreitet, verkaufen. Endlich erschien der Präsident auf dem Balkon seines Palastes, umflankt von Ministern und seiner grossbusigen, dekolletierten, südländisch üppigen Gattin. Kaum hatte er zu reden angefangen, da begann es zu regnen, erst leicht, dann immer stärker. Da schlichen sich die Indios, einer nach dem andern, davon. Banzer redete schliesslich nur noch vor drei Touristen, die nicht glauben konnten, dass das, was sie sahen, Wirklichkeit war und nicht eine komische Operette.

In Südamerika geschehen Dinge, die einem manchmal wie ein schlechter Film vorkommen. Wenn es nicht so grauenhaft wäre, dann wäre es zum Totlachen.

Und diese Reflexion drückt unseren Filmen notwendigerweise den Stempel auf.

Vor einigen Monaten hat einer dieser Kritiker, Peter Schumann, einige hinsichtliche Erklärungen der mexikanischen Presse abgegeben. «Das lateinamerikanische Kino ist von seinem Weg abgekommen», sagte er. Natürlich ist es von seinem Weg abgekommen. Aber aufgrund des Faschismus und Imperialismus, das ist doch klar. Daher - einmal abgesehen von diesen willkürlichen Kritiken, die aus der entwickelten Welt kommen, aber paradoxerweise unterentwickelte Kritiken sind - ist es gewiss, ist es wahr, ist es offensichtlich, dass unser Kino eine Krise der Sprache durchläuft. Auch dies dürfte klar sein.

Corinne Scheiben
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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