URS JAEGGI

FILME AUS EINEM MEER VON TRÄNEN — DER BANGLADESH-FILM AUF DER SUCHE NACH EINER EIGENEN IDENTITÄT

ESSAY

Im Schnitt verlässt jede Woche ein Spielfilm die Studios von Dacca. Filme in der Regel, die mit kleinen Budgets gedreht werden und darauf angelegt sind, dass sie ihre Kosten nicht nur einspielen, sondern auch einen Gewinn abwerfen. Das ist die Voraussetzung für die Produzenten und Regisseure, um weiterarbeiten zu können. Förderungsmöglichkeiten, wie sie in Europa und immer mehr auch in Ländern der Dritten Welt anzutreffen sind, gibt es in dem zu den drei ärmsten Staaten der Welt zählenden Bangladesh nicht. Mehr als einen bescheidenen jährlichen Filmpreis ist an staatlichen Mitteln nicht zu holen, sieht man einmal von einem 1977 ausgeschriebenen Wettbewerb ab, der vier Filme mit je 12500 Dollars unterstützte. Und die Bangladesh Film Development Corporation, eine Art Filminstitut, wacht mehr darüber, dass nur jene Filmprojekte zur Realisierung gelangen, die einen Erfolg erwarten lassen, als dass sie das Filmschaffen wirklich fördert.

Die Folgen einer solchen Filmpolitik sind katastrophal: Bis zu 95 Prozent der Filme folgen simpelsten kommerziellen Überlegungen und richten sich demnach an ein auf tiefem Niveau angesetztes Unterhaltungsbedürfnis eines filmbegeisterten Volkes. Immer wieder gleiche Liebesgeschichten, die sich am trivialen Film Indiens orientieren, Kostümfilme historischen Zuschnitts und - neuerdings - Kung-Fu-Produktionen dominieren das thematische Angebot: Illusionskino reinster Prägung, das nur in seltenen Fällen Begebenheiten und Situationen im eigenen Land spiegelt und kaum einmal einen Hauch von persönlichem Engagement oder filmischer Originalität aufweist. Wie sollte es auch: Zu ihren Stories kommen viele der Autoren, indem sie ins nahe Bangkok oder Kalkutta fliegen, dort im Kino das Tonbandgerät laufen lassen, um Handlung, Musik und Dialoge später dann auf Bangladesh-Verhältnisse umzuschreiben; eine Methode urheberrechtlicher Fahrlässigkeit, die gelegentlich schon fast ans Kriminelle grenzt. Tragisch ist dabei, dass eine Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur - sieht man einmal von den Gesangseinlagen beliebter einheimischer Stars, die fast in keinem Film fehlen, ab - überhaupt nicht stattfindet. Der triviale Film in Bangladesh ist so fremdbestimmt, als würde er im Ausland produziert. Das nun allerdings ist ein ziemlich genaues Abbild der kulturellen Wirklichkeit dieses Landes. 200 Jahre lang wurde das ehemalige Grossreich Bangla (Bengalen) während der Kolonialzeit von den Engländern regiert. Nach deren Rückzug aus dem indischen Subkontinent (1947/48) wurde der Ostteil Bengalens Pakistan einverleibt und als Ost-Pakistan bezeichnet. Erst 1971 erfolgte die Ausrufung eines freien Bengalen durch Mujibur Rahman, doch vermochten die herangeführten westpakistanischen Truppen in schweren Kämpfen die Sezession noch aufzuhalten, bis am Ende des Jahres die indische Armee einmarschierte und den neuen Staat Bangladesh anerkannte.

Zerstörte Kultur - veraltete Infrastruktur

Während der langen Kolonialzeit wurde die alte Kultur der Bengalen systematisch zerstört. Das hat sich auch auf das Filmschaffen ausgewirkt. War es während der Zeit der britischen Herrschaft das theatralische Kino Kalkuttas, welches das Filmschaffen der Bengalen bestimmte, so beeinflussten bis zur Trennung von Pakistan die Urdu-Filme aus Lahore die schmale Produktion. Erst 1957 verhalfen die Pakistani den Bengalen zum Aufbau einer bescheidenen eigenen Filmindustrie, die nun erstmals Filme in Bengali produzierte. Sechs Jahre später wurde in Dacca mit dem Bau der Studios begonnen. Das nationale Bewusstsein Hess nach der Befreiung von Pakistan das Bedürfnis nach Filmen in bengalischer Sprache sprunghaft anwachsen. Ohne den entsprechenden finanziellen Hintergrund produzieren zu müssen, ist wohl ein Grund dafür, dass ein eigenständiges Filmschaffen gar nicht erst entstehen konnte. Im Verlust der kulturellen Identität unter der Herrschaft Grossbritanniens und Pakistans liegt der andere.

Dass Produktionsbedingungen und Filmqualität bis zu einem gewissen Grad miteinander in einem Zusammenhang stehen, ist eine bekannte Tatsache. Weil sie ihre Filme restlos selber finanzieren müssen, bleibt den meisten Regisseuren und Produzenten in Bangladesh gar nichts anderes übrig, als ihre Filme nach bekannten Erfolgsrezepten zu konzipieren, wenn sie kontinuierlich arbeiten wollen. Hinzu kommt, dass die Herstellung der Filme mit sehr bescheidenem Aufwand zu erfolgen hat. Soll er seine Kosten in den 300 Kinos des Landes einspielen und auch noch einen Gewinn abwerfen, darf er nicht mehr als 250 000 Franken kosten - eine bescheidene Summe, auch wenn man die niedrigen Arbeitslöhne berücksichtigt. Gedreht wird deshalb zumeist in den Studios von Dacca, wo vier Sets und ein bescheidenes Freigelände zur Verfügung stehen, das der Direktor stolz als eine Art «Disneyland» bezeichnet. Gearbeitet wird sehr schnell. Während auf dem einen Set eine Sequenz mit den Schauspielern geprobt und dann meist ohne Ton abgedreht wird, erfolgt auf dem andern die Vorbereitung einer nächsten. Gedreht wird, wenn es irgendwie geht, im Massstab eins zu zwei, wenn es hoch kommt, eins zu drei. Filmmaterial ist, weil es eingeführt werden muss, teuer und entsprechend rar. Ein Regisseur kann nur in seltenen Fällen damit rechnen, einen Film mit demselben Material abdrehen zu können.

Als ich in den Studios zu Besuch war, wurde gleichzeitig an zwei Filmen gearbeitet: Auf dem Freigelände wurde eine Schlägerei für einen Karate-Film inszeniert, und im Studio 1 brachte Azizur Rahman, ein etablierter Regisseur, der sich gelegentlich auch an etwas anspruchsvollere Aufgaben heranwagt, innerhalb einer guten halben Stunde vier Sequenzen zu seinem neuen Film Licence in den Kasten. Zweimal stand dabei die Kamera auf dem Stativ, zweimal wurde sie von Hand geführt. Aufgenommen wurde dabei nicht einmal ein Führungston. Die ganze Tonspur wird nachsynchronisiert. (Die Geschichte der Tragödie Licence ist deshalb nicht uninteressant, weil sie - verkleidet im Gewände des historischen Films - ein Gegenwartsproblem aufgreift: die rechtlose Stellung der Frau. Weil ihr Mann gestorben ist, versucht eine Frau seine Lizenz als Postkutschenfahrer auf sich zu übertragen. Das wird ihr verwehrt mit der Begründung, solche Bewilligungen würden nur Männern ausgestellt. Dafür bieten die Behörden der schönen Frau eine Lizenz für Prostituierte an. Die Frau, die sich in ihrer Selbstachtung dagegen wehrt, erschleicht sich die Postfahrer-Bewilligung, indem sie sich als Mann verkleidet. Als sie schliesslich ertappt wird, erhält sie gleich eine doppelte Strafe: eine für Betrug und eine, weil sie sich als Frau verkleidet hat, was gegen Sitte und Moral verstösst.)

Völlig veraltet ist die technische Infrastruktur der Studios. Die Entwicklungsmaschinen für Schwarzweiss und Farbe erbringen - notdürftig repariert - nur noch ungenügende Leistungen. Schneidetische sind Luxusartikel. Gearbeitet wird nach wie vor an mit groben Juteschnüren zusammengehaltenen Schneidapparaten aus den zwanziger Jahren, wobei der Film nicht etwa auf eine zweite Rolle übertragen wird, sondern auf ein Laken am Boden fällt. Geschnitten wird übrigens am Original, weil die Herstellung einer Arbeitskopie zu viel kosten würde. Dieses Original geht dann, wenn es vertont ist, in vielen Fällen auch auf die Reise durch die Kinos. Ich habe Filme gesehen, die zur Verlängerung ihrer Lebensdauer wie Sardinen in einer öligen Flüssigkeit in ihren Büchsen lagen. Es liegt auf der Hand, dass die Export-Chancen der Bangladesh-Filme angesichts ihrer inhaltlichen und technischen Unzulänglichkeiten gleich null sind.

Erschwert wird das Filmschaffen im noch jungen, von politischen Wirren ebenso wie von Katastrophen erschütterten

Staat auch von einer strengen Zensur. Zumal unter dem Ende Mai dieses Jahres ermordeten Staatspräsidenten Ziaur Rahman, der das Land mit strenger Hand besseren Zeiten entgegenzuführen versuchte, war eine kritische Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und sozialen Problemen des Landes kaum möglich. Film galt unter seinem Regime in erster Linie als Unterhaltungsmedium und hatte als solches im Dienst des Aufbaus und der erklärten Regierungsziele zu stehen. Man wird Ziaur Rahman allerdings zugute halten müssen, dass er die strenge Kontrolle über die Medien -sie galt neben dem Film auch der Presse und dem Rundfunk - nicht im Sinne eines Diktators als Mittel der Unterdrückung ausübte, sondern sie als Beitrag zur Stabilisierung der politischen Lage verstand. Dennoch hat die Zensur eine freie Entfaltung des Filmschaffens zu einer eigenen Identität hin weitgehend verhindert. Es ist kaum anzunehmen, dass sich die Situation nach dem zweiten Präsidentenmord - schon der Vorgänger Rahmans, Mujibur Rahman, ist von Militärs ermordet worden - grundlegend verändern wird. Vielmehr ist anzunehmen, dass nun die staatlichen Kontrollen noch verschärft werden.

Darstellung der sozialen Situation

Dass sich unter diesen schwierigen Umständen in den letzten Jahren dennoch eine Gruppe vorwiegend junger Filmschaffender bilden konnte, die dem Film in Bangladesh ein eigenes Gesicht und eine Identität verleihen wollen, grenzt beinahe an ein Wunder. Die Schwierigkeiten, denen sie bei der Realisierung ihrer Projekte begegnen, sind unmenschlich. Auf Widerstand stossen sie - zumindest teilweise - schon, wenn sie mit ihren Projekten zur Bangladesh Film Development Corporation gehen, auf deren infrastrukturelle Unterstützung sie in jedem Falle angewiesen sind. Filmplänen, die anders sind als der Durchschnitt, begegnet man dort mit grosser Skepsis und - wie mir scheint - auch mit der Angst vor möglichen unliebsamen Konsequenzen von Seiten der Regierung. Wenn es dann daran geht, die Filme zu finanzieren, werden die Hindernisse schier unüberwindlich.

Dennoch sind in den letzten Jahren ein paar Filme entstanden, die nicht mehr vom harten, ja oft brutalen Alltag in Bangladesh ablenken, sondern diesen zum Thema ihrer Geschichten machen. Filme sind es, die in fast dokumentarischer Weise die Sorgen und Nöte beschreiben, welche die in oft unvorstellbarer Armut lebenden Menschen plagen; Filme, die sich mit den sozialen Zuständen in einem Land befassen, dessen unübersehbare Massen so dicht gedrängt leben wie sonst nirgendwo auf der Welt (Bangladesh ist ungefähr dreieinhalb Mal so gross wie die Schweiz und wird von etwa 95 Millionen Menschen bewohnt); Filme, die von der Korruption erzählen und von der Unterdrückung der Menschen, vor allem der Frauen, denen die Religionen (Muslim und Hindu) noch zusätzliche Erschwernisse aufbürden. Filme sind es meist, die aus einem Meer von Tränen entstanden sind, Tragödien unvorstellbaren Ausmasses. Filme dann auch nicht zuletzt, die mit ihrer Situationsbeschreibung auf Veränderungen hinzielen.

Vater dieser Bewegung ist Alamgir Kabir, der unter dem Titel Stop the Genocide (Beendet den Völkermord) ein erschütterndes Dokument über den Bürgerkrieg des Jahres 1971 und seine Folgen herstellte; ein Film, der in seiner wuchtigen Kraft und Eindringlichkeit zum Mahnmal wird. Alamgir Kabir, der einmal gesagt hat, dass Bangladesh mit Sicherheit zu den wenigen Ländern gehören werde, in denen der Film auch dann noch weiterlebe, wenn er anderswo bereits zum Museumsgegenstand geworden sei, lebt nicht mehr. Der engagierte Filmemacher und -publizist ist von seinen Gegnern verschleppt und umgebracht worden. Ein Schicksal, vor dem sich einige der jungen Filmschaffenden auch fürchten.

Das Erbe Kabirs vielleicht am konsequentesten übernommen, hat der jetzt 34jährige Masihuddin Shaker, dessen Film Surja Dighal Bari (Das unheilvolle Haus) letztes Jahr an den Festivals von Karlovy Vary in der Tschechoslowakei und in Locarno zu sehen war (in einer guten, französisch untertitelten Kopie im Selecta-Verleih erhältlich). Shaker, ursprünglich ein bekannter Architekt, hat den in Bangladesh üblichen Weg zum Filmemachen beschritten: Angefangen hat er damit, Tee für die Equipe und die Schauspieler zu kochen, um bei Gelegenheit einfache Aufgaben zu übernehmen. Das Projekt, die Novelle Das unheilvolle Haus von Abu Ishaque zu verfilmen, trug er seit seinem 16. Altersjahr mit sich herum. Zusammen mit dem jetzt 42jährigen Buchhalter Sheikh Niamat Ali hat er nach dreijähriger Vorbereitungszeit sein Vorhaben realisiert.

Das unheilvolle Dorf spielt während der Hungersnot der Jahre 1942/43, die fünf Millionen Menschen das Leben kostete. Vordergründig erzählt er die Geschichte einer Frau, die, geschieden von ihrem Gatten, ihrer Familie eine neue Existenz aufzubauen versucht. Alle Umstände sprechen gegen ihr Vorhaben: Der Ort, wo sie ihre Hütte aufbaut, gilt als verwunschen, wodurch sich ein Dorffakir ins Recht versetzt sieht, sich an der Angst der Familie zu bereichern und gleichzeitig ein Auge auf die Tochter zu werfen. Der Dorfoberste wiederum sucht - unterstützt von einem Mullah -aus der Armut der Familie Kapital zu schlagen, indem er die Mutter zwingen will, ihn zu heiraten. Als sie dies ablehnt, schränkt er ihre Freiheit ein, so dass es ihr fortan unmöglich ist, in der benachbarten Stadt Reis und Gemüse zu verkaufen. Die schüchternen Emanzipationsversuche der Tochter, die verkuppelt werden soll, damit ein Mund weniger gestopft werden muss, werden im Keime erstickt. Der Film endet damit, dass der Dorfoberste das Haus der Familie niederbrennen lässt, weil er weiss, dass die Frau Zeugin des tödlichen Streits geworden ist, den er mit ihrem geschiedenen Mann ausgetragen hat. Die Story beinhaltet aber weit mehr als eine Familientragödie. Sie ist eine Auseinandersetzung mit der sozialen Situation der Ärmsten, die geprägt ist von der hemmungslosen Ausbeutung durch die Mächtigen, dem zustand der Rechtlosigkeit und von der Korruption auf allen Ebenen. In Shakers Film wird deutlich, dass die Hungersnot jener Jahre nicht einfach ein Schicksalsschlag der Natur war, sondern weitgehend von jenen provoziert wurde, die das Grundnahrungsmittel Reis als Spekulationsobjekt betrachteten und nur dorthin lieferten, wo sie die höchsten Preise erzielen konnten. Parallel dazu setzt sich der Film sehr eingehend mit der Stellung der Frau auseinander, die ganz in der Verfügungsgewalt der Männer steht und keine Rechte besitzt, geschweige denn Möglichkeiten zur Selbstentfaltung hat.

Shaker verwendet in seinem Film das Mittel der präzisen Beschreibung. Seine Kritik wächst aus der epischen Schilderung alltäglicher Situationen heraus, deren dokumentarischer Charakter zu einem Realismus führt, welcher der Wirklichkeit sehr nahe kommt und einen hohen Grad an Wahrhaftigkeit aufweist. Als einen Film, «in dem wir uns wiedererkennen», bezeichneten einfache Menschen, denen Shaker Das unheilvolle Haus vorführte, das Werk. Wiedererkannt haben sich aber offensichtlich nicht nur die Betroffenen, sondern -obschon der Film in der Vergangenheit spielt - auch die Kritisierten. Jedenfalls konnte der Film vorerst in Bangladesh selber nicht gezeigt werden, angeblich, weil Shaker verschiedene Laborrechnungen noch nicht bezahlt habe. Erst als der Film im Ausland bekannt wurde und in Mannheim 1980 gar Preise erhielt, fand er auch im eigenen Land den Weg in die Kinos.

Unterdrückung der Frau und Arbeitslosigkeit

Populärer als Shaker ist in Bangladesh ein anderer Regisseur: Amjad Hussain. Er versucht die soziale Situation seines Landes in Filmen unterzubringen, die den Sehgewohnheiten der Bevölkerung entsprechen. Deshalb haben seine Filme weniger den Charakter des Dokumentarischen und sind auch nicht frei von Konzessionen an das Publikum. Von den trivialen Unterhaltungsfilmen unterscheiden sie sich durch dreierlei: das Bestreben, die soziale Wirklichkeit des Landes einzufangen, eine handwerklich sorgfältige Machart, welche die eingangs beschriebenen Möglichkeiten optimal ausnützt, und eine geschickte Dramaturgie. In Golapi Ekon Trene (Der endlose Zug, 1980) schildert Hussain eine ähnliche Tragödie wie Shaker. Auch hier verfügen einige Grossgrundbesitzer und Mullahs über die restliche Dorfbevölkerung, auch hier sind die Frauen die Dienerinnen einer Männergesellschaft, rechtlos und unterdrückt. Erzählt wird die Geschichte einer jungen Frau, die ihre Familie ernähren muss und dabei vor der Wahl steht, den Dorfmächtigen als Geliebte zu dienen oder aber im Zug Reis zu verkaufen; eine Arbeit, die als unehrenhaft gilt, weil sie zumeist auch mit Prostitution verbunden ist. Auch in diesem Film scheitert der Versuch der Emanzipation, aber die Tragödie hat Folgen. Die Armen des Dorfes lehnen sich gegen ihre Unterdrücker auf. Wenn sie diesen Aufstand auch mit der Zerstörung des Dorfes bezahlen, so steckt in diesem Akt gegen Unterdrückung und Willkür doch eine grosse Hoffnung, wie man sie im Bangladesh-Film selten zu sehen bekommt. Die Verwandtschaft des Filmes mit jenem von Shaker soll übrigens nicht ganz zufällig sein. Shaker habe Hussain einmal über sein Projekt informiert.

Interessanter als Der endlose Zug erscheint mir ein anderer Film Hussains: Koshai (Der Schlachter, 1981). Er greift das Problem der Arbeitslosigkeit auf, von der in Bangladesh an die 65 Prozent der Bevölkerung betroffen sind und die vor allem auf dem Land grassiert. Am Beispiel eines jungvermählten Paares zeigt er, wie die Unmöglichkeit, eine Stelle zu finden, die beiden Menschen auseinanderreisst und in den Abgrund der Kriminalität, Zuhälterei und Prostitution treibt. Wenn sich die beiden - Konzession an Zensurbehörde und Publikum - am Ende des Films auch wieder treffen, vermag das nicht darüber hinwegzutäuschen, wie konsequent Hussain den Weg von der Arbeitslosigkeit ins Elend und die Verzweiflung zeigt. Die Wahrhaftigkeit seiner Schilderung wird durch viele Hinweise gestützt, die der Bevölkerung von Bangladesh geläufig sind: etwa dass durch fehlende Fürsorge viele Witwen von Soldaten, die im Bürgerkrieg gefallen sind, zur Prostitution gezwungen sind.

Der Schlachter hat - vom etwas aufgesetzt wirkenden Ende abgesehen - die Konsequenz einer griechischen Tragödie, allerdings ohne deren kathartische Wirkung. Da gibt es keine Läuterung, sondern es bleibt das Elend. Hussain macht es in diesem Film deutlich, indem er sich selber in den Film einbringt und sich mit einer Bettlerin mit einem hungernden Kind auf dem Arm konfrontiert, die sich später als die Protagonistin seines Films erweist. Hoffnung ist in diesem Film bloss ein retardierendes Element, das die nächste Katastrophe umso schlimmer erscheinen lässt. Auch darin spiegelt sich die Wirklichkeit des bengalischen Volkes: Hoffnung wird gegeben und wieder genommen. Damit leben Millionen von Menschen.

Kinder als Opfer

In der neuen Bewegung des Bangladesh-Films gibt es ein erschütterndes Merkmal: Schicksalsschläge und Katastrophen kommen nie allein, sondern häufen sich. Das macht sie auswegslos. Dieses Prinzip, das mit der Wirklichkeit leider nur zu sehr korrespondiert, macht sich bis in die Kinderfilme hinein bemerkbar. In Dan Pite Cele (Der Junge, 1981) von Khan Ata, der wie ein Kindermusical beginnt, reiht sich ein Verhängnis ans andere: Da lebt ein Junge nicht nur in ärmlichen Verhältnissen auf dem Lande, sondern er wird gleich auch noch mit der Tatsache konfrontiert, dass die liberalen und menschlichen Erziehungsmethoden seines geliebten Lehrers unter den Beschuss der Dorfoberen und Mullahs geraten und der Lehrer entlassen wird. Die Selbsthilfeaktion, die der Junge mit seinen Mitschülern inszeniert, wird, weil sie den Plänen des Dorfrates zuwiderläuft, abgeblasen. Zudem sieht sich der Junge vom Sohn des Grossgrundbesitzers aus der Stadt verraten und wird, als er diesen Angsthasen grossmütig von einem angreifenden Hund befreit, gebissen und stirbt an Tollwut, weil ihm die Ärzte im Spital der nahen Stadt als Sohn einer mittellosen Frau nicht die richtige Pflege angedeihen lassen.

Die Inhaltsbeschreibung dieses Films liest sich, als hätte der Autor mit der grossen dramatischen Kelle angerichtet und den Stoff für mehrere Stories in eine gepackt. Die Bilder des Films belehren eines besseren. Sie beschreiben ebenso geduldig wie präzis die Lebenssituation der Kinder auf dem Dorfe, zeigen - verständlich auch für die Kinder - auf, wie wenig Interesse die herrschende Schicht daran hat, die Kinder aus ihrem Abhängigkeitsverhältnis zu entlassen, weil sie dann als billigste Arbeitskräfte verloren gehen. Nicht ohne Subtilität wird der soziale Unterschied zwischen den Bauernkindern und dem Sohn des Grossgrundbesitzers dargestellt, der behütet in der Stadt lebt und von der harten Wirklichkeit der meisten seiner Altersgenossen keine Ahnung hat. Ihm stehen alle Möglichkeiten offen, den Landkindern ist ein elendes Schicksal gewissermassen vorgezeichnet. Khan Ata zeichnet ohne Verbitterung, aber wie Hussain mit unausweichlicher Konsequenz, ein Stück schmerzlicher Wirklichkeit auf, mit dem sich die Betroffenen zu identifizieren vermögen und das Aussenstehenden einen zwar traurigen, aber realistischen Einblick in die Lebenssituation unzähliger Menschen in Bangladesh zu vermitteln vermag.

Ein bitteres Kinderschicksal, allerdings nicht auf dem Lande, sondern in der unübersichtlichen Grossstadt Dacca, schildert auch Dumurer Phol (Unsichtbare Blume, 1977) von Subash Dutt. Ein Waisenjunge mit verkrüppelter Hand schlägt sich mit Betteln mehr schlecht als recht durchs Leben, und es gelingt ihm dabei sogar, seinen Humor und seine Ehre zu bewahren. Er ist ein Bettler, kein Dieb. Aber es ist schwer, in einer Umwelt, die in den Betteljungen nur Nichtsnutze und Arbeitsscheue sieht, sauber zu bleiben und als Sündenbock für alles und jedes Prügel zu beziehen, die man gar nicht verdient hat. Den harten und brutalen Bettleralltag, der in realistischen Bildern beschrieben wird, die in ihrer Eindringlichkeit gelegentlich an de Sicas Ladri di biciclette erinnern, kontrastiert Dutt mit Visionen von einer besseren Kindheit, einer gesunden Hand, die den Jungen arbeitsfähig machen würde, der Erinnerung an die Eltern, die der Dürre wegen vom Land in die Stadt zogen. Das bessere Leben seiner Träume wird für den Jungen für eine kurze Zeit Realität, als er, bedingt durch einen Unfall, in ein Spital eingewiesen wird. Erstmals kümmern sich Menschen um ihn, erstmals erfährt er in seinem Bettlerdasein Geborgenheit und Liebe. Der Junge klammert sich an dieses Glück. Um nach seiner Genesung nicht entlassen zu werden, trinkt er nachts Jod aus einer Flasche und stirbt.

Die Heimat erfahren

In Unsichtbare Blume, einem Schwarzweiss-Film, entfaltet sich sehr typisch die Erzählweise des neuen Bangladesh-Films. Fast immer wird die realistische Schilderung des Alltags in einem Zusammenhang mit Erinnerungen, Visionen und Träumen gesetzt. Die Übergänge von der Realität zu Fiktion erfolgen nahezu bruchlos, die Rückblenden verschmelzen nahtlos mit der Gegenwart. Erzählt wird episch breit, und die Autoren scheuen sich nicht, ihre Geschichten zu verästeln. Der Symbolgehalt der Bilder ist einfach und leicht fassbar, bei einigen Regisseuren wie etwa Dutt gar plakativ, signalhaft. Die Bangladesh-Filmemacher wenden sich ja nicht an ein europäisch-intellektuelles Filmpublikum, sondern an ihr Volk, dessen Menschen zu drei Vierteln Analphabeten sind. Um sich verständlich zu machen - und auch um sich trotz der Zensur verständlich machen zu dürfen -, gehen sie Konzessionen ein, halten sie sich an die Kino-und Sehgewohnheiten der Bevölkerung. Das hat beispielsweise zur Folge, dass einige ihrer Filme zerdehnt wirken; denn Filme mit einer Laufzeit von weniger als zwei Stunden finden in der Programmation der Kinos erfahrungsgemäss kaum Unterschlupf.

Die Vertreter dieses neuen Bangladesh-Films - man müsste zu den bereits erwähnten auch Abdullah Almahmoon, der einen eindrücklichen Film über Gewerkschaftsarbeit in Bangladesh gedreht hat, und Kajal Arefin, der seinen Erstling über das Schicksal eines Bauern zur Zeit fertigstellt, zählen -sind politische bewusste Filmemacher. Ihre Filme zielen auf eine Veränderung der Gesellschaft hin, in der sie leben. Bewusstseinsbildung durch Auseinandersetzung mit den Problemen des Alltags ist die Grundlage ihrer Bemühungen. Der Versuch, ihre Heimat zu erfahren und für andere erfahrbar zu machen, weil erst das bewusste Erleben der eigenen Situation eine kritische Auseinandersetzung mit ihr möglich macht, hat sie aus den Studios mit ihren künstlichen Kulissen hinausgetrieben und unter das Volk gebracht. Nicht alle hatten den langen Atem, den unendlichen Schwierigkeiten, die ihnen dabei erwuchsen, zu trotzen. Subash Dutt zum Beispiel hat inzwischen resigniert und dreht wieder kommerzielle Spielfilme. Andere aber sind verzweifelt entschlossen, dem Filmschaffen in Bangladesh eine eigene Identität und damit eine kulturelle Eigenständigkeit zu verschaffen. Denn Kunst, so Masihuddin Shaker, wird zwar die Funktion der Politik niemals ersetzen können. Aber sie kann mithelfen, das gesellschaftspolitische Umfeld zu prägen. Und: «Kunst und Kultur müssen vor allem in Entwicklungsländern als Vehikel der Emanzipation verstanden werden.» (Zitat aus «Zoom-Filmberater» 19/80, Interview von Ambros Eichenberger mit M. Shaker.) Ob man dabei den engagierten Filmemachern aus Bangladesh und andern Ländern der Dritten Welt behilflich sein könnte, ohne ihnen unser Kulturgut aufzuzwingen, muss zum dringlichen Diskussionsgegenstand einer sinnvollen Entwicklungszusammenarbeit werden.

Urs Jaeggi
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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